Am Ufer des Sewan Вахтанг Степанович Ананян Titel der russischen Ausgabe: НА БЕРЕГУ CEВАНА  Ins Deutsche übertragen von Hermann Asemissen In langen Ketten durchschneiden die felsigen Ausläufer des Kleinen Kaukasus Armenien. Die Berge ziehen sich von Georgien nach Südosten hin - der Grenze entgegen, die die Armenische Sozialistische Sowjetrepublik vom Iran trennt. Wie Domkuppeln ragen die gigantischen Gipfel bis hinauf in die Wolken. Die kahlen, roten Kalksteinfelsen der südlichen Abhänge sind der unerschöpfliche Reichtum der Industrie Sowjetarmeniens. Sie werden von wilden Ziegenherden durchstreift, deren Schlupfwinkel in den Felsspalten noch von keinem Menschen betreten wurden. Die Täler aber, die sich zu Füßen der Berge erstrecken, leuchten smaragdgrün. In den Kolchos gärten füllen sich die Trauben mit süßem Saft, und wie ein üppiger Teppich breiten sich Baumwollplantagen aus. Dunkle, dichtbelaubte Wälder bedecken die nördlichen Abhänge der Gebirgskette. Noch heute hausen Bären und Rotwild in dem undurchdringlichen Dickicht dieser Wälder. Die Tiere leben von dem Überfuß der Natur: sie finden Eicheln, Nüsse, Kornelkirschen, wilde Äpfel, Birnen, Pflaumen, Granatäpfel, ja selbst Weintrauben... Auf den Wiesen weiden riesige Kolchosherden. Hoch oben in den Bergen liegt in einem gigantischen von Felsen gebildeten Kessel der Sewan-See. Die Berge nehmen den Sewan in ihren Schoß auf, und in seinem Wasser spiegelt sich das Panorama ihrer schneebedeckten Gipfel. Sie haben sich wie steinerne Riesen Schulter an Schulter aufgestellt, haben sich die Hände gereicht und halten Wacht. Nur an einer einzigen Stelle ist zwischen den Bergen ein Durchgang offen geblieben - hier ist der Reigen unterbrochen; vielleicht hatten die gigantischen Tänzer nicht mehr die Zeit, einander die Hände zu reichen... Die Sanga hat dies ausgenutzt und braust als reißender Strom zwischen ihnen dahin. Heute ist der Sanga-Fluß gebändigt; er speist die an seinen Ufern erbauten Elektrizitätswerke, und mit seinen Wassern werden die Gärten und Baumwollplantagen der Ararat-Ebene bewässert. Der Sewan ist einer der größten Süßwasser-Gebirgsseen. Seine Oberfläche umfaßt 1400 Quadratkilometer. Dreißig Flüsse und Flüßchen, die von den Bergen rings um den Sewan herabfließen, führen dem See im Jahr siebenhundertzwanzig Millionen Kubikmeter Wasser zu. In diese Mengen sind die als Regen niedergehenden Wassermassen nicht eingerechnet. Die Sanga übernimmt von dieser Wasser-menge jährlich nur fünfzig Millionen Kubikmeter. Das übrige verdunstet und verwandelt sich in Wolken, die vorn Winde weggetragen werden. Sowjetische Wissenschaftler und Ingenieure haben einen Weg gefunden, die unaus genutzten Wassermassen des Sewan der Volkswirtschaft des Landes nutzbar zu machen. Durch einen Tunnel wird bald ein weiterer Teil des Wassers in die Sanga geleitet werden. Der Wasserspiegel wird allmählich fallen, die Oberfläche kleiner werden, und damit wird sich die Verdunstung verringern. Nach etwa fünfzig Jahren wird es soweit sein, daß der See den Elektrizitätswerken und den Feldern Armeniens jährlich Hunderte Millionen Kubikmeter Wasser liefern kann. Die Wasserversorgung der Elektrizitätswerke aus dem Sewan gehört zu den bedeutendsten Anlagen, die im Zuge der sozialistischen Fünfjahrpläne errichtet wurden. Diese Anlagen werden in der Wirtschaft und im kulturellen Leben der Sowjetrepublik einen völligen Umschwung herbeiführen und neue mächtige Energiequellen für das moderne Armenien erschließen. In dem Süßwasser des Sewan leben edelste, an das kalte, klare Wasser der Gebirgsbäche gewöhnte Fische. Weit über die Grenzen ihrer Heimat hinaus sind sie berühmt geworden. Wie köstlich diese Fische sind, bezeugen allein schon die Bezeichnungen, die ihnen von alters her der Volksmund gegeben hat: Juwel, Fischkönig und so fort... Einstmals breitete sich an der Stelle, an der der See liegt, eine weite, blühende Ebene aus. Die Sanga nahm ihren Anfang nicht dort, wo der Reigen der steinernen Riesen unterbrochen ist — sie floß zu jener Zeit von den fernen östlichen Gipfeln der Gebirgskette herab und war dreimal länger als jetzt. Der Fluß durchquerte die Ebene und floß zwischen den Abhängen hin, die jetzt kahl und öde daliegen, die aber vor vielen Jahrhunderten mit dichten, üppigen Wäldern bedeckt waren. In den Wäldern hausten Bären, und auf den Gebirgswiesen weideten Rudel edler kaukasischer Hirsche und Auerochsen. Die Skelette dieser Tiere werden nicht selten von Archäologen gefunden, die an den Ufern des Sewan Ausgrabungen vornehmen. Auch in den Netzen der Fischer verfangen sich zuweilen große Geweihe längst aus gestorbener Wildarten. Das alte Flußbett wurde auf dem Grunde des Sewan entdeckt. Sowjetische Archäologen haben hier am Sewan auch das Grab eines Urmenschen freigelegt. Es handelt sich um einen Jäger, der mitsamt seiner primitiven Waffe und einem Baummarder bestattet worden ist. Die Baummarder leben nur in dichten Wäldern mit starkem, altem Baumbestand. Dieser Fund bestätigt die Annahme, daß die Abhänge, die das Tal einsäumen, einstmals mit Wäldern bedeckt waren. Wie aber kam es, daß die blühende Ebene überschwemmt wurde? Wie ist hier der See entstanden? Einer der gewaltigen Berge in der Umgebung war vulkanisch - er bebte, grollte und stieß zuweilen Rauch und Asche aus. Dali-Dagh -»Tobender Berg« - nannten ihn die Menschen. Eines Tages züngelten Flammen zum Himmel; glühende Lava, die seit Jahrhunderten tief im Innern des Berges gebrodelt hatte, brach hervor und ergoß sich in feurigen Strömen über die Abhänge. Die La.va drang in die Ebene, staute den Flußlauf der Sanga, erkaltete, und die Gebirgsflüsse und -bäche, die bis dahin die Sanga gespeist hatten, überschwemmten allmählich die Ebene. Man erzählt, daß in jenen Zeiten, als der Dali-Dagh ausbmch und die Ebene mit flüssiger Lava überschüttete, am Fuße des Berges ein weltverlorenes Dörfchen gelegen habe. Entsetzen packte die von dem Unglück heimgesuchten Bewohner. Sie verkrochen sich ängstlich in die entferntesten Winkel. Diese namenlose Angst vor der Allgewalt der Natur, vor ihren zerstörenden Kräften, blieb für immer in ihren Herzen und in den Herzen ihrer Kinder und Kindeskinder zurück. Die Menschen, die nicht fähig waren, die Vorgänge in der Natur zu verstehen, unterwarfen sich demütig den dämonischen Gewalten. Sie beteten sowohl den Dali-Da,gh als auch den stürmischen, durch den Ausbruch des Vulkans entstandenen See als überirdische Mächte an. Sie beteten den See an, wenn er aufbegehrte, ihre Boote zerschlug und die Menschen verschlang, und wenn er in dunklen Nächten brüllte und sich aufbäumte wie ein verwundetes Tier; sie beteten ihn aber auch an, weil er ihr Dörfchen an manchem friedlichen Frühlings-morgen mit einem stillen und klaren Lächeln anzublicken schien. Sie liebten den See, weil er sie ernährte und für sie die Quelle des Lebens war. Die Menschen beteten auch die sogenannten Schwarzen Felsen am Abhange des Dali-Dagh an, weil sie im Laufe der Jahrhunderte vielerlei Heimsuchung über das kleine Dorf brachten. Wenn der Himmel der Erde zürnte, zog er seine Wolken über den bizarren Gipfeln der Schwarzen Felsen zusammen und vernichtete durch Hagelschlag die kargen Ernten der Bauern, und aus dem Innern des Dali-Da,gh war immer wieder ein ohrenbetäubendes Getöse zu hören; glühende Asche fiel auf die Erde und versengte die Felder und Wiesen. Diese Nöte und Leiden schrieben die Menschen den Schwarzen Felsen zu. Im Innern dieser Felsen befindet sich eine Höhle mit einem engen Zugang. Grabeskälte schlägt einem entgegen, und aus der Tiefe läßt sich ein schweres, dumpfes Stöhnen und Seufzen vernehmen. Die Menschen glaubten, dies sei die » Höllenpforte«, und angstvoll mieden sie die Höhle. Vor noch nicht allzulanger Zeit wurden die alten Leute im Dorfe Litschk, das an Stelle des längst versunkenen Dörfchens entstanden ist, von Ängsten geplagt, die sie bis in ihre Träume hinein verfolgten. Da kam die Sowjetjugend von Litschk auf den Gedanken, den Kampf mit den »Geistern« aufzunehmen. Wie sie das machte und wie sie ihn siegreich bestand, erzählt unsere Geschichte. Ein Morgen am Ufer des kürzesten Flusses der Welt »Großväterchen, erlaub mir's doch... Laß mich mal das Netz auswerfen«, quälte der kleine Kamo den Großvater. »Ach, Kindchen, dazu gehört doch Übung! Du verstehst es noch nicht, wirst die Fische nur erschrecken und vertreiben!« meinte der alte Jäger in seiner etwas umständlichen Art. Aber Kamo ließ nicht locker. Schließlich gab der Großvater nach: »Nun gut. Aber warte — ich mach's dir erst vor... Sieh mal, ein Schwarm ist aufgetaucht! « Geschickt und mit Schwung warf der Großvater das Netz aus. »Laß mich helfen! Laß mich rausziehen«, bettelte Kamo. »Nein doch, Kindchen«, lehnte der Großvater brummend ab, »auch das Herausziehen muß verstanden sein. Zieht man zu scharf an, dann sind die Fische auf und davon! Das muß gekonnt sein.« Er packte das Ende des Netzes und zog es vorsichtig zu sich heran. Das Netz straffte sich. »Gefangen!« jubelte Kamo. »Sieh nur, wie viele es sind! .. . Armjon, komm schnell her, hilf uns! « Armjon, Kamos Freund, der in der Nähe auf einem Stein gesessen hatte, kam angelaufen, und mit vereinten Kräften zogen der Alte und die Jungen das volle Netz ans Ufer. Große silberne Fische mit blutroten Pünktchen an den Seiten wanden sich auf dem zarten Grün der Uferwiese und sperrten luftschnappend ihre Mäuler weit auf. Armjon griff sich ein winziges Fischchen aus dem Gewimmel heraus und warf es ins Wasser zurück. Das weiße Bäuchlein nach oben gekehrt, blieb es einen Augenblick reglos liegen, machte dann ein paar zuckende Bewegungen, schlug mit der Schwanzflosse, kehrte den Rücken nach oben und verschwand in der Tiefe. Mit strahlenden Augen hatte Armjon dieses Schauspiel beobachtet. »Gib mir noch mehr von den kleinen«, bat er Kamo, »wir wollen sie freilassen, sie sollen leben und wachsen.« »Wenn's nach dir ginge, kämen die großen auch wieder ins Wasser«, rief Kamo lachend. Der Großvater, der die Fische einsammelte und in Körbe tat, meinte belehrend: »Aus zu weichherzigen Menschen können keine guten Jäger werden. Das wäre mir ja ein rechter Fischer. ..« »Ei-ei-ei!« tönte da plötzlich eine lustige Stimme hinter ihnen. »Habt ja schon in aller Frühe was Leckeres gefangen!« Auf seinem einen gesunden Bein hüpfte Armjons und Kamos Freund Grikor herbei und schwang dabei unbekümmert seinen langen Krückstock. Als kleiner Junge war er einmal vom Baum gefallen und hatte sich das Bein gebrochen; seitdem lahmte er. Trotzdem war Grikor immer lustig und zu Späßen aufgelegt. Dem Großvater rief er munter zu: »Wirf noch mal das Netz aus! Wirst sehen, ich bring' dir Glück. Und wenn du noch so viele Fische fängst — Ehrenwort: ich esse sie alle auf einmal auf! « Doch der Großvater schien keine Lust zu haben. »Ach nein, Kinder«, meinte er kopfschüttelnd, »das hat nicht viel Sinn. Vielleicht müßte man ... « Er stockte: »Seht nur, die vielen Menschen da drüben auf dem Felde!« Mit der flachen Hand beschattete er seine Augen und ließ den Blick über die weite Ebene am Fuß des Gebirges schweifen. Traktoren und Pflüge ratterten lärmend über die Acker und brachen das Erdreich auf; in gleichmäßigen Reihen zogen sich die frischen, dunklen Furchen über die graugrüne Fläche. »Ach ja«, nahm der Großvater den Faden wieder auf, »mit einem einfachen Netz und mit den Händen allein kann man so viele Menschen nicht satt machen. . . « Dann fiel ihm etwas ein, und er rief Kamo zu: »Los, zieh dich aus, Junge.« Kamo war gleich bereit. Rasch streifte er seine Kleider ab. In der Kühle des Frühlingsmorgens bekam er sofort eine Gänse-haut, doch die prickelnde Morgenfrische tat ihm wohl, und munter sprang er um den Alten herum. »So, nun nimmst du das Netz und steigst ins Wasser! Nur keine Bange«, ermunterte ihn der Großvater und reichte ihm das eine Ende des Netzes, während er das andere selber festhielt. Kamo blieb einen Augenblick zögernd stehen. Dann schloß er die Augen und sprang kurz entschlossen ins Wasser. Rasch durchschwamm er den Fluß und befestigte das obere Ende des Netzes an eingerammten Pflöcken. Der untere Netzrand war mit schwerem Senkblei versehen und wurde davon auf den Grund gezogen. Das Netz durchschnitt den Fluß und versperrte den Fischen den Weg. »Nun paßt mal auf, wieviel Fische sich im Netz fangen werden«, sagte der Großvater und strich zufrieden über seinen langen weißen Bart. Dieser prächtige Bart hatte ihm im Dorfe den Namen »Langbart Assatur« eingebracht. »He, Kamo«, schrie er jetzt, »mach, daß du aus dem Wasser kommst. Du wirst dich erkälten!« Während sich Kamo wieder anzog und dabei eifrig auf den Großvater und Grikor einsprach, freute sich Armjon an dem schönen Frühlingsmorgen. Ein leiser Windhauch fuhr spielend durch sein Haar und fächelte sein erhitztes Gesicht. Im Tal, zu Füßen der den Sewan-See umgebenden Berge, lag noch dichter Morgennebel; doch die einzelnen Berggipfel, die Zuckerhüten glichen, zeichneten sich in ihrem Silberglanz bereits deutlich vom blauen Himmel ab. Der See, der während der Nacht still und friedlich in seinem geräumigen Bett geschlafen hatte, begann sich zu rühren. Die Oberfläche kräuselte sich leicht; leises Plätschern war zu hören. Das Spiel der Wellen, die in ununterbrochener Folge das Ufer benetzten, begann. Sie brachen sich leise rauschend am sandigen Strand und weckten mit ihrem eintönigen Tschlup-tschlup, Tschlupt-schlup die gefiederten Schilfbewohner. Tschto-tschilt, tschto-tschilt! zirpte ein Sumpfvogel aufgeregt und flog zu einem anderen Sandhügel hinüber. Krja-krja, krja-krja! klang es von der anderen Seite. Ein Enterich rief laut nach seiner Gefährtin. Fern am Horizont tauchten die Rauchsäulen kleiner Frachtdampfer auf, die eiligst den Anlegestellen zustrebten. Fischer-boote durchschnitten kreuz und quer den Wasserspiegel des Sees. Fischer warfen ihre Netze aus. Die Geräusche des beginnenden Tages scheuchten Schwärme wilder Enten auf, die flügelrauschend davonflogen. Es wurde immer heller, und der See wechselte ständig die Farbe; ausgehend vom dunklen Grau der Morgenfrühe, nahm die Wasserfläche allmählich eine immer leuchtendere, hellgrüne Tönung an. Weiße Schaumkämme krönten die heranflutenden Wellen, die sich in langen Reihen am Ufer brachen. Als dann die Sonne hinter den Bergen aufstieg, wurde der See von ihren gleißenden Strahlen förmlich in Glut getaucht. Es schien, als hätten unsichtbare Hände zahllose Diamanten darüber ausgestreut, die nun mit ihrem strahlenden Glanze die Augen blendeten. Der Großvater und Kamo standen am Ufer und beobachteten aufmerksam die Strömung und den Zug der Fische. Plötzlich huschte ein Schatten über das Gesicht des Alten, und er griff nach seiner im Grase liegenden Flinte. »Was ist?« fragte Kamo flüsternd. »Pscht! ... Ein Otter. .. Er ist hinter den Fischen her!« An einer Stelle wirbelte das Wasser hoch, und sekundenlang tauchte etwas Großes, Dunkles an der Oberfläche auf. Der Großvater legte an und schoß. Ein wenig später trieb eine Forelle, den weißen Bauch nach oben, auf der Wasserfläche. Langsam wurde sie von der Strömung weitergetragen. Den Großvater hatte das Jagdfieber gepackt. »Entwischt!« murrte er. Sein Herz schlug so heftig, daß der Lauf seines Gewehrs im gleichen Takt lebhaft hin und her sprang. Die Jungen sahen es und nickten sich zu. Aber schon hatte der Alte seinen Ärger überwunden: »Macht nichts!« rief er. »Er ist stromaufwärts geschwommen und wird sich im Netz verfangen.« Die Gewißheit, daß die Beute nicht entkommen würde, tröstete ihn. Aufmerksamen Blickes verfolgte er die Spur des Flüchtlings. »Ich hätte mehr Schrot nehmen müssen«, meinte er, »es war zuwenig für so ein Ungeheuer, zumal im Wasser.« Er stockte. »Er scheint tat-sächlich ins Netz zu geraten!« schrie er. »Seht nur, es hat sich da drüben losgerissen. Schwimm schnell hinüber, Kamo, und zieh das Ende des Netzes hier ans Ufer! Der verfluchte Räuber wird sonst alle Fische abwürgen.« Im Nu hatte Kamo die Kleider abgestreift, war ins Wasser gesprungen und schwamm zum anderen Ufer hinüber. Armjon und Grikor beobachteten, wie sich die Schnur, an der das Netz befestigt war, straffte. »Glaubst du, daß der Otter sich gefangen hat. Großväterchen?« fragte Armjon neugierig. »Was denn sonst? Entschlüpfen kann er nicht! Aber dennoch, bis wir herankommen, wird er unter den Fischen ein Blutbad angerichtet haben..., und das Netz wird er auch zerreißen! Kamo, beeile dich!« rief er dem Jungen nach. Der glatte, silbrig schimmernde Rücken eines großen Otters sah durch die Maschen. Wassertropfen glitzerten in seinem Schnurrbart. Die Augen des Räubers funkelten böse und voller Angst. »Hierher mit dem Netz!« schrie der Alte. »Ganz zerfetzt hat er es, dieses Ungeheuer! Wenn er uns nur nicht entwischt. Grikor, mein Söhnchen, worauf wartest du? Gib ihm eins auf den Kopf mit deinem Knüppel! Was stehst du da wie versteinert?« Grikor zögerte. »Ich könnte ihn totschlagen«, sagte er erschrocken. Armjon warf einen Blick auf Grikors Stock, der mit dem Haken an der Spitze recht bedrohlich aussah. »Warte noch, schlag noch nicht zu! Ich will erst eine Aufnahme machen«, rief er und machte schnell seinen Fotoapparat fertig. Das gefangene Tier schlug in seiner Todesangst verzweifelt um sich. Schwerfällig kroch es auf seinen flossenähnlichen Pfoten auf dem Sande vorwärts und schmiegte sich mit dem weichen Bauch an den Boden. Als sich der Otter bei dem Versuch, vom Netz freizukommen, auf den Rücken drehte und das helle Bauchfell in der Sonne aufleuchtete, erklärten die Jungen einstimmig, es gäbe kein anderes Tier auf der Welt, das ein so wunderbar zartes Fell hätte. Der Großvater machte sich unterdes daran, das Netz zu leeren. Ein Teil der Fische war durch das von dem Otter gerissene Loch bereits entkommen. Immerhin war noch eine ansehnliche Beute vorhanden, und bald lag ein ganzer Berg glänzender Forellen am Ufer. Der Alte hatte den Otter getötet und ihm das glänzende Fell abgezogen. Die Jungen standen neugierig dabei. Nun machte er sich an das Ausbessern des Netzes. Ganze Schwärme von Fischen schwammen dicht unter der Oberfläche des Flusses; die Forellen glitzerten und funkelten silbern im strahlenden Sonnenschein. Kamo stand neben dem Großvater, sah zu, wie er sich mit dem Netz abmühte, und ließ ihn nicht aus den Augen. »Beeil dich doch, Großväterchen«, rief er, außer sich vor Ungeduld. Der Alte sah von seiner Arbeit nicht auf. Schwerfällig brummte er: »Das Biest hat sich gründlich ausgetobt... Sieh nur: überall ist das Netz zerrissen.« Wohin zogen die Fische so eilig? überlegte Kamo. Weshalb hatten die Forellen ihr sicheres Versteck in den Tiefen des Sewan-Sees verlassen? Tausend Gefahren bedrohten sie doch auf ihrer Reise. Vielen Feinden würden sie begegnen: dem Fischer mit seinen Netzen, dem räuberischen Otter, dem unversehens herabstoßenden Seeadler, dem beutegierigen Fischreiher... Grimmig schäumt und tobt an stürmischen Tagen der Sewan. Die Wogen türmen sich; sie reißen Sand und Steine mit sich fort und wälzen sich mit ungebrochener Kraft über den Strand. Hier gibt es für die Fische keine sicheren Laichplätze. Diese grimmigen Naturgewalten sind für die Brut zu gefährlich. Ihr Instinkt treibt sie aus dem Sewan-See in den Gilli-See. Doch auch hier ist ihre Brut nicht sicher. Sie schwimmen weiter, stromaufwärts -immer stromaufwärts; zu verborgenen Quellen, zu klaren, stillen Einbuchtungen ziehen sie, um dort zu laichen und dann wieder zum Sewan-See zurückzukehren. Alljährlich wiederholt sich dieser große Fischzug. Man braucht das Flüßchen nur durch quergespannte Netze abzuriegeln, und die Beute geht sicher ins Garn. Sie muß dann nur noch geborgen und auf die Fischkutter, die auf dem See liegen, verladen werden. Der aufgeweckte Kamo fragte sich: War dieser Fischfang nicht unüberlegt? Die Fische sind doch auf dem Wege zu ihren Laichplätzen. Wenn nun zu viele weggefangen werden? Ka-mos Sorge war nicht ganz unberechtigt. Doch da fiel sein Blick auf ein Häuschen mit rotem Dach. Es lag nicht weit von der Stelle entfernt, an der er heute mit dem Großvater und den Freunden saß. Das war eine Fischzüchterei. Hier wurden aus dem Rogen gefangener Forellen Millionen winziger Fischlein gezüchtet; das wußte Kamo. Sie wurden später in den See ausgesetzt. Ob von den Laichplätzen ebenso viele zurückgekommen wären, ist gar nicht sicher... Kamo lief stromaufwärts, den Flußlauf entlang, der sich durch die grüne Wiese schlängelte, die den Sewan- vom Gilli-See trennt. An diesem klaren, sonnigen Morgen glich die Wiese von weitem einem schönen Mädchen, das ein silbernes Band um sein grünes Samtkleid geschlungen hat. »Armjon, das hier muß der kürzeste Fluß der Welt sein. Er ist im ganzen einhundertzwanzig Schritte lang - ich hab' sie eben gezählt!« rief Kamo seinem Freunde zu. Das geheimnisvolle Gebrüll Wann fahren wir denn, Armjon?« Kamo trieb zur Eile an. »Hast du die Karte vom See bei dir?« »Wollen wir nicht lieber Großvater Assatur mitnehmen?« »Er kommt bestimmt nicht mit, laß dir das gesagt sein... Keiner von unseren Alten im Dorf traut sich auf diesen See. Du kennst doch die Märchen, die sie sich vom Gilli erzählen...« »Wir dürfen ihm nicht sagen, daß wir rausfinden wollen, wer da immer so unheimlich heult«, flüsterte Kamo geheimnisvoll. »Wie können wir ihn bloß rumkriegen? Ich hab's: Wir sagen ihm, daß wir auf Jagd fahren!« »Wenn er etwas von Jagd hört, wird er vielleicht den Drachen vergessen .. . « Grikor trieb die Kälber, die er mit dem Kolchoshirten gehütet hatte, zusammen, kam wieder zurück und setzte sich neben den Großvater. Auch Kamo und Armjon liefen herbei. Mit leisem Plätschern schlugen die Wellen gegen das Seeufer. Von einem leichten Lufthauch bewegt, raschelte das Laub im Gestrüpp. Doch plötzlich erscholl ein fürchterliches Gebrüll. Es übertönte selbst die Stimmen der Kinder. Was konnte das sein? Drohend und gewaltig klang es über den See. Es hörte sich an, als blase jemand, mühsam und abgehackt nach Luft schnappend, unter Wasser in ein riesiges Rohr. Als Großvater Assatur das Brüllen hörte, zuckte er zusammen, und sein Gesicht verdüsterte sich. »Solange ich auf dieser Erde lebe«, rief er, »ist noch kein Tag vergangen, an dem der Drache nicht wütend geworden ist und zornig gebrüllt hat.« »Nach der Uhr kann man ausrechnen, wann er wütend wird und zu brüllen anfängt«, sagte Armjon. »Was ist es aber? Wer kann nur so trompeten? Man erschrickt immer wieder.« Tschambar, Großvaters Lieblingshund, hob den Kopf und knurrte. Er war eben erst aus dem Dorf angelaufen gekommen, hatte seinen Herrn gefunden, hatte gierig von dem zähen, nach Fisch riechenden Otterfleisch gefressen und lag nun behaglich ausgestreckt zu Füßen des Alten. »Großväterchen, glaubst du, daß da wirklich ein Drache brüllt?« fragte Kamo und zwinkerte seinen Freunden listig zu, und in seinen braunen Augen blitzte es schalkhaft. »Ach, Kindchen«, murmelte der Alte verlegen, »woher soll ich das wissen? Es wird viel geschwatzt. Will man der Tante Tarlan glauben, dann ist es ein böser Geist und kein Drache. Mein Gevatter Mukel hat gesagt, es ist ein weißer Wasserbüffel. Und mein Vater, dein Urgroßvater...« Als der Großvater merkte, daß Kamos Schultern zuckten, weil er sich das Lachen verbeißen mußte, und daß es in Arm-jons Augen verschmitzt aufleuchtete, brach er seine Rede mitten im Satze ab. Er war gekränkt: »He, Jungens, wollt ihr euch gar über mich lustig machen? Und du — warum kicherst du?« fiel er über Grikor her. »Wenn deine Kälber noch einmal in meine Felder einbrechen, reiß ich dir die Ohren ab; ganz gleich, und wenn du ein noch so gelehrter Schüler bist...«, murrte der Alte. Doch seine Stimme klang gutmütig. Grikor hielt ihm lachend sein Ohr hin: »Hier, Großväterchen, reiß ab... Was kann ich dafür, daß ich meine Kälber liebhabe. Wenn ich erst mit der Schule fertig bin, dann geht's aufs Landwirtschaftliche Institut. Viehzucht will ich studieren. — Vieh werd' ich züchten — Prachtkerle, Ehrenwort!« »Recht so, mein Söhnchen«, stimmte der Großvater ihm bei. »Nichts geht über das Wissen; man muß es nur anwenden können. Aber auch aus der Natur kann man manches lernen, man muß sie nur beobachten können... Wieviel Jahre gehst du schon in die Schule, Kamo?« fragte er seinen Enkel. »Acht Jahre, Großväterchen!« rief Kamo stolz. »Und ich lese schon sechzig Jahre im Buch der Natur... Das hat überhaupt nie ein Ende.« »Alles, was du im Buch der Natur gelesen hast, Großväterchen«, ahmte Armjon die umständliche Redeweise des Alten nach, »steht auch in unseren Büchern.« Der Alte schien gekränkt. »Wie ist das möglich?« knurrte er unzufrieden. »Steht zum Beispiel in euren Büchern, woher so viele Vögel zu unserem See geflogen kommen?« »Aus dem Süden, Großväterchen, von den Ufern des Indischen Ozeans, wo sie den Winter verbringen«, antwortete Armjon ohne Zögern. Der Großvater hob erstaunt die Augenbrauen. »Nun, dann sag mir noch: Warum haben die Sumpfvögel einen so langen Schnabel und so lange Beine, zum Beispiel die Reiher, die Kraniche oder die Schnepfen? Die Schnepfe hat einen kleinen Körper, nicht größer als ein Ei, aber ihre Beine sind lang wie Bleistifte, und ebenso lang ist der Schnabel... Und der weiße Vogel da drüben, der wie ausgestopft auf einem Bein steht — weshalb ist der so seltsam gewachsen?« Spöttisch blickte der Großvater die Jungen an. Doch Armjon ließ sich nicht beirren. Prompt antwortete er: »Die sind von der Natur so gemacht, weil sie ihre Nahrung aus dem Wasser oder dem Schlamm holen müssen. Sie fressen Würmer, Fische, Frösche und Schlangen. Hätten sie kurze Beine und kurze Schnäbel, dann müßten sie elendiglich verhungern.« »Ei, du bist ja ein richtiger Gelehrter! Woher weißt du denn das alles? Nur ein Jäger, der sein ganzes Leben im Wald und in den Feldern verbringt, weiß doch darüber Bescheid.« Kamo antwortete an Stelle seines Freundes: »Der große Naturforscher Darwin hat über das alles geschrieben! Er hat das Leben der Tiere studiert.« »So wie ich es studiere?« fragte der Großvater. »Jedesmal, wenn ich auf Jagd gehe, lerne ich die Gewohnheiten anderer Tiere kennen — mal die des Wolfes, mal die des Fuchses. . . « Dieser Darwin muß ein Jäger sein, dachte der Alte. Aber er war keineswegs gewillt, vor diesem Manne die Waffen zu strecken, wie tüchtig er auch als Jäger sein mochte. Es war ausgeschlossen, daß jemand in der Natur besser Bescheid wissen konnte als der im ganzen Hochland berühmte Jäger Assatur... »Darwin war was ganz Besonderes!« rief Armjon, und um den Alten zu versöhnen, fügte er hinzu: »So wie du als Jäger was Besonderes bist... Das, was Darwin geschrieben hat, wissen alle Menschen, die etwas lernen. Er war ein sehr kluger Mann. « »Ein kluger Mann, sagst du, war dieser Darwin? Heißt das etwa, daß so einer wie ich keinen Verstand hat?« fragte der immer noch gekränkte Großvater. »Nun, wenn er so klug ist, will ich ihm eine einfache Frage vorlegen, und ihr, seine Schüler, sollt sie mir beantworten: Bei den wilden Schafen wiegt ein Neugeborenes ungefähr sieben Pfund. Wieviel wiegt nach eurer Meinung ein neugeborener Bär?« »Na, wohl dreißig Pfund«, platzte Grikor, ohne nachgedacht zu haben, heraus. Der Alte lachte spöttisch. »Was lachst du denn? Ein Bär ist doch fünfmal so groß wie ein Schaf?« »Das ist ja der Haken: Der Bär ist fünfmal größer, aber seine Jungen sind fünfmal kleiner als die Schaflämmer -kleine Bären sind nicht größer als Ratten! Es ist ein Rätsel der Natur. Nun soll mir euer Darwin mal sagen, warum ein neu-geborenes Bärchen so klein ist! Aber hört weiter: Wie kommt es, daß die Lämmer der wilden Schafe schon zwei Stunden, nachdem sie auf der. Welt sind, laufen können, und zwar so schnell, daß man sie nicht einfangen kann? Die Jungen der riesigen Bären hingegen bleiben wochenlang in der Höhle liegen, bevor sie kräftig genug sind, um sich auf die Füße zu stellen; sie können weder laufen noch sich verbergen, wenn sie verfolgt werden.« Armjon sah beschämt drein. »Wie ist denn so was möglich?« fragte er. »Ein so großes und starkes Tier wie der Bär hat so kleine, schwächliche Junge? Wie kommt denn das?« »Das ist eine harte Nuß, und die ist nicht so leicht zu knacken«, antwortete der Alte und schmunzelte. »ja, meine gelehrten Söhnchen, die Natur sorgt für alle ihre Kinder - an-gefangen von der Mücke bis zum Bären. Wenn die jungen der wilden Schafe bei der Geburt schwächlich wären, würden Füchse und Wölfe sie sofort auffressen. Die Mütter dieser Jungen haben keine Waffen, sie haben nichts, womit sie ihre Kleinen verteidigen können, nicht mal Hörner haben sie. Was drohen dagegen einem Bärenjungen für Gefahren? Es liegt, von seiner kräftigen Mutter bewacht, sicher in der Höhle — wer wollte es wagen, sich ihm zu nähern? Es würde jedem schlecht bekommen! « »Darwin sagt das auch, Großväterchen.« »Was du nicht sagst!« verwunderte sich der Alte. »Dann weiß Darwin ja so viel wie wir. .. Aber merke dir: Wir Jäger haben das alles auch ohne Darwin gesehen und begriffen.« Der Großvater schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Wenn dein Darwin alle Geheimnisse der Natur gekannt hat, muß er wohl die Jäger gefragt haben... Sicher hat er sie zu sich gerufen und hat zu ihnen gesagt: ,Nun erzählt einmal, was ihr in den Wäldern und Feldern Interessantes gesehen habt!' Denn es ist nicht möglich, daß ein einzelner Mensch sämtliche Geheimnisse der Natur erforscht haben soll.« Nun mischte sich Grikor in das Gespräch: »Vom Streiten wird man nicht satt«, meinte er. »Wir wollen lieber ein Feuer anmachen. Seht nur die fetten Bissen, die da angeflogen kommen!« Er deutete auf einen vorbeifliegenden Schwarm Enten und begann Reisig zu sammeln. »Was fällt dir ein, du Narr — an einem so sonnigen, paradiesisch schönen Tage willst du Feuer anmachen?« »Ich hab' solchen Appetit auf Entenbraten, Großväterchen«, rief Grikor und machte dabei ein ganz klägliches Gesicht. »Zur Erinnerung an deinen Großvater solltest du uns einen Entenbraten schießen — was meinst du dazu, Großväterchen?« »Jetzt ist Legezeit; da darf man keine Enten schießen.« »Na, dann schieß doch einen Erpel — die darf man schießen! Schau nur, Großväterchen, dort drüben im Schilf ist ein Erpel«, rief Grikor und wies auf eine Ente mit samtgrünem Hals. Auch Kamo bettelte: »Schieß, Großväterchen! Schieß uns den Enterich!« Aufgeregt sprang er um den Alten herum. Nun war der Großvater wieder in seinem Element. »Ein richtiger Jäger schießt eine Ente nur im Fluge«, empörte er sich. »Einen Vogel schießen — das ist kein Kunststück. Es kommt darauf an, wie man ihn erlegt. Man muß verstehen, den Vogel im Fluge zu treffen.« Und auf einen Schwarm fliegender Enten deutend, fuhr der Großvater fort: »Man muß auf die Schnabelspitze zielen; bis das Schrot sein Ziel erreicht hat, ist die Ente weitergeflogen, und das Blei wird sie gerade ins Herz treffen. Zu allem ist Berechnung nötig... Ihr seid dumme Jungen — ihr meint natürlich, man sollte blindlings in den Schwarm hineinschießen. Ihr denkt, einen der Vögel werdet ihr schon treffen. Das ist ganz verkehrt. Wie groß der Schwarm auch sein mag, man muß immer auf einen bestimmten Vogel zielen und sich vornehmen: den hole ich runter. Wenn das Glück es will, daß außerdem der neben ihm fliegende mit getroffen wird - na, dann um so besser!« Förmlich wie auf Bestellung erhob sich in diesem Augenblick vom Sewan-See ein großer Entenschwarm und flog hinüber zum Gilli. Großvater Assatur legte schnell an und schoß. Zwei an der Spitze des Schwarms fliegende Erpel plumpsten in den See. Gleich darauf erscholl von der kleinen Insel herüber, die unweit des Ufers im Schilf verborgen lag, der Ruf eines Kindes. Die Jungen horchten auf: »Wer kann das gewesen sein?« Kamo sprang in ein am Ufer liegendes Fischerboot, band es los und stieß vom Ufer ab. »Kamo, Söhnchen! Wohin willst du?« rief der Alte ihm nach. »Kehr um! Du ruderst ja dem Drachen entgegen! Mein Lebtag bin ich nicht über diese Stelle hinausgekommen.« Kamo achtete nicht auf das Rufen des Großvaters; mit verstärktem Eifer ruderte er weiter. Als das Boot bei der Insel angelangt war, riß der Knabe erstaunt die Augen auf. In einer großen Bütte, die friedlich auf der Wasserfläche schaukelte, saß ein Mädchen. Als es Kamo erblickte, hob es vom Boden des Fasses eine der erlegten Wildenten auf, schwang sie über dem Kopf und rief lachend: »Hier hast du deine Ente! Ich hab' sie aus dem Wasser gefischt.« »Und wo ist die andere?« »Die andere hat der Hund geholt. Da — sieh!« In der Tat: eben kletterte Tschambar, die Wildente im Maul, die Uferböschung empor. Er war triefend naß und schüttelte sich gerade das Wasser aus dem Fell. Kamo kannte das Mädchen: »Du bist es, Asmik? Komm zu mir mit deinem Schiff!« An Stelle eines Ruders hatte Asmik eine hölzerne Schaufel, die sie so geschickt handhabte, daß sie mit ihrer Bütte sehr bald an der Insel anlegte. Leichtfüßig sprang sie ans Ufer. Mit der vorgehaltenen Hand beschattete sie ihre Augen gegen die grellen Sonnenstrahlen und musterte den Knaben. »Weshalb hast du vorhin so geschrien?« fragte Kamo neugierig. »Ich hab' mich erschrocken..., wie da geschossen wird, und gleich darauf plumpsen neben mir zwei Enten ins Wasser! Aus heiterem Himmel... Eine davon wär' mir beinahe auf den Kopf gefallen...« Während Asmik lachend ihr Abenteuer erzählte, schimmerten ihre kleinen weißen Perlenzähne im Sonnenschein, und ihre dunklen Augen funkelten lustig. »Wo hast du dein Gewehr?« fragte sie, wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern rief begeistert: »Wie herrlich ist der Gilli-See!« Sie breitete die Arme aus und ließ ihre Blicke über den See schweifen. Dabei strahlte sie über das ganze Gesicht. Tschambar hatte seine Ente dem Großvater abgeliefert. Nun schwamm er zur Insel zurück, stellte sich vor Asmik in Positur und gab deutlich zu erkennen, daß er etwas von ihr wollte. »Du sollst ihm die Ente geben«, erklärte Kamo. Das Mädchen lachte und drückte den Vogel an sich. »Nein, die geb' ich nicht her. Das ist meine Beute.« Doch dann ließ sie sich durch den flehenden Blick der Hundeaugen erweichen. »Na, meinetwegen, nimm sie und schau nicht so traurig drein.« Tschambar packte den Vogel und schwamm mit ihm an das gegenüberliegende Ufer zurück. Die Kinder blickten dem Hunde nach. Dann meinte Kamo: »Komm, wir wollen hinüber zum Großvater, sonst denkt er, der weiße Büffel hat uns aufgespießt.« Als sie aus dem Boot stiegen, blickte der Alte das Mädchen erstaunt an: »Wo kommst denn du her? Wer bist du denn?« »Ich bin Tante Anaids Tochter.« »Tante Anaid? Ist das die Gruppenleiterin von der Tabakplantage?« »Ja, das ist meine Mama.« »Was hast du denn allein da drüben gemacht, mein Töchterchen?« Die Stimme des Großvaters klang erstaunt und erregt. »Hast wohl ein Löwenherz, daß du dich mutterseelenallein auf diesen verfluchten See hinauswagst? — Nein, was ihr Kinder jetzt alles anstellt — ihr seid ja ganz außer Rand und Band!« Alle lachten. Doch Großvater Assatur setzte sein Verhör fort: »Was hast du da drüben gemacht?« »Eier gesammelt hab' ich.« »Eier? Was für Eier?« »Gänseeier, Enteneier, Eier von schwarzen Hühnern — alles, was ich finden kann.« Der Großvater und die Jungen sahen das Kind neugierig an. Was ist das doch für ein seltsames Mädchen! dachte der alte Jäger. Fürchtet keinen Drachen, keinen Büffel und keinen bösen Geist! »Ich sammle oft Eier«, erzählte Asmik, »aber Seto wirft dann immer mit Steinen nach mir und zerschlägt sie.« »Wo ist Seto? Dem wollen wir helfen!« sagte der Großvater und faßte nach dem silberbeschlagenen Griff seines Dolches. »Da drüben im Schilf versteckt er sich«, antwortete Asmik und wies auf den schmalen Verbindungskanal. Großvater Assatur drohte mit der Faust und rief: »He da, Seto! Laß die Asmik in Ruhe - sonst richte ich dich so zu, daß nur ein nasser Fleck von dir übrigbleibt. Das schwöre ich dir bei meinem Bart!« Das war ein feierlicher Schwur. Ein halbwüchsiger Bursche kroch aus dem hohen Schilf und lief davon, so schnell ihn seine Beine trugen. »So ein Halunke!« rief der Großvater wütend und konnte sich gar nicht beruhigen. »Schlägt ganz nach seiner Mutter! Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.« Und Kamo fügte hinzu: »Wie lange wird er es noch treiben? Alle Leute ärgert er, und uns geht er aus dem Wege. . . « Zu Asmik gewendet, fuhr Kamo fort: »Was machst du mit den Eiern, die du gesammelt hast? Ein Rührei für uns Jäger?« Grikor war sofort Feuer und Flamme. »Nein, Rührei machen wir nicht«, antwortete Asmik rasch. »Wir legen die Eier den Hennen unter. Dann schlüpfen Küken aus - so hübsch und bunt sind sie...! Im vorigen Jahr haben wir zwanzig Stück gehabt.« Die Jungen blickten sie neugierig an, und Asmik fuhr fort: »Als Vater an der Front war, hatten wir es schwer. Da haben wir angefangen, am Gilli Eier zu sammeln und Küken ausbrüten zu lassen. Das hat uns sehr geholfen.« »Das kann ich mir denken«, meinte Grikor. »Natürlich hat euch das geholfen. Eine gebratene Ente ist was Feines.« Asmik lachte. »Ja, fliegen dir denn die Vögel nicht weg, wenn sie groß sind?« fragte Kamo das Mädchen. »Wie sollen die wegfliegen, wenn man ihnen die Flügel beschneidet?« erwiderte Asmik. Sie blickte die Jungen dabei ein wenig geringschätzig an, als wollte sie sagen: Wie dumm ihr doch seid! »Ach ja, das ist wahr, daran hab' ich gar nicht gedacht - die Flügel muß man ihnen beschneiden«, bekräftigte der alte Jäger, »sonst kann man sie noch so sehr hegen und pflegen und ihnen noch so viel Futter hinstreuen - wenn sie auch im Frühling und Sommer aushalten, im Herbst fliegen sie auf und davon! Sie sammeln sich zu Schwärmen und fliegen in wärmere Länder. .. « »Wenn aber ihre Schwärme schon vorher fort sind?« fragte Kamo. »Fliegen sie dann auch noch weg?« »Sie fliegen bestimmt weg«, meinte der Großvater. »Und finden sie den Weg?« »Aber gewiß, durch ihren Instinkt. Wenn auch nur ein einziges Ei ausgebrütet würde, wenn man das Küken einsperrte und es nie hinausließe — das würde alles nichts nützen. Gib ihm, wenn der Herbst da ist, die Freiheit, und es wird ganz allein nach dem Iran fliegen und von dort weiter nach Indien. .. Das liegt ihnen im Blut, es ist ererbt.« Stolz über sein Wissen, strich sich der Alte den Bart. »Und nun fragt mal euren Darwin! Er soll uns erklären, wie das zugeht! « Die Jungen mußten lachen. Nur Armjon meinte ernsthaft: »Kluge Menschen können das alles ändern. Sie brauchen die wilden Vögel nur ein paar Jahre gefangenzuhalten und sie mit unserm zahmen Federvieh zu kreuzen, so daß es halb zahme, halb wilde Vögel gibt. Die nehmen dann ganz neue Gewohnheiten an.« Kamo dachte bereits an etwas anderes. Er galt bei seinen Freunden für sehr erfinderisch. In seinem unruhigen Geist entstanden immer neue kühne Ideen. Auch jetzt war ihm ein guter Einfall gekommen. »Wißt ihr was, wir wollen wilde Vögel aufziehen, in einer Farm, oder wie das heißt. Wäre das nicht fein?« »Großartig! Aber wie machen wir das?« »Ganz einfach: Wir sammeln die Eier im Schilf und lassen sie ausbrüten.« »Du bist ein Teufelskerl, Kamo!« schrie Armjon. Auch Asmik war sofort begeistert dabei. »Schöne bunte Vögel werden wir aufziehen«, jubelte sie. »Wo sind denn die Eier, die du gesammelt hast?« fragte Grikor. »Drüben im Schilf. « Kamo sprang sofort ins Boot, ruderte zur Insel hinüber und kam bald mit einem Korb voll Eier zurück. »Schau her, Großväterchen, wieviel Eier Asmik gesammelt hat! Und was für hübsche Dinger!« Asmik strahlte. Tschambar wedelte mit dem Schweif und sah ebenfalls neugierig in den Korb. »O-ho-ho, was für ein Ei!« rief Grikor und prüfte mit den Zähnen ein hartes Gänseei. Großvater Assatur sah die Eier aufmerksam durch. »Das hier sind Möweneier. Aus ihnen werden hübsche weiße Vögel ausschlüpfen«, sagte er und zeigte dabei auf rotbraun gesprenkelte Eier, die etwa so groß wie Hühnereier waren. »Aber die Möwen fressen viele Fische. Jede Möwe frißt im Jahr zwei bis drei Pud[1 - 1 Pud = 16,38 kg.] junge Fischchen auf, aus denen mindestens hundert Pud große Fische geworden wären!« »Und was sind das für Eier, Großväterchen?« fragte Kamo und zeigte auf grünliche, wie mit Sand bestreute Eier. »Aus ihnen schlüpfen die grauen Reiherküken aus. Diese Eier muß man aussortieren und ebenso wie die Möweneier beim Fischtrust abliefern. Man bekommt dafür eine ansehnliche Prämie.« »Was ist denn das für ein Ei?« fragte Armjon erstaunt und deutete auf ein plattes, längliches rotbraunes Ei. »Wie mit geronnenem Blut beschmiert sieht es aus und hat lauter kleine dunkle Pünktchen auf der Schale.« »Auch die kann man nicht essen. Es sind die Eier vom Steißfuß; das Fleisch dieser Vögel riecht und schmeckt nach Fisch, und die Eier auch. Legt sie beiseite«, sagte der Großvater. Nachdem alle als unbrauchbar bezeichneten Eier herausgesucht waren, lagen im Korb noch die spitzen, grauweißen Eier, der wohlschmeckenden Stockente, auch Eier von Krickenten, Spießenten und von mancher anderen Entenart. Der Großvater wußte nicht nur, wie die Eier der verschiedenen Vögel aussahen, er wußte noch manches andere und erzählte in seiner scherzenden, ein wenig prahlerischen Art den Kindern davon: »Warum sind wohl fast alle diese Eier gelblichgrün, ungefähr so wie das Schilf, in dem ihr sie gefunden habt? Was meint ihr wohl? Unser zahmes Federvieh legt doch nur weiße Eier. Wie kommt das? Na, heraus mit der Sprache, ihr gelehrten Schüler!« Asmik warf Armjon einen verstohlenen Blick zu und antwortete zögernd: »Das Federvieh im Stall braucht seine Eier nicht zu verstecken. In der Freiheit ist das anders. Da müssen die Eier ebenso aussehen wie die Blätter und die Erde ringsherum, damit die Eierdiebe sie nicht sehen können.« »Bravo, Töchterchen! « rief der Alte erfreut und strich Asmik über das Haar, »und Eierdiebe gibt es auch unter den Tieren.« »Die großen Eier hier stammen wohl von der Rotente - sie ist doch so groß«, meinte Grikor und bereute diese vorschnelle Behauptung sogleich. »Wenn mir die Schüler in der Stadt so was sagen«, rief der Großvater, »dann wäre es nicht weiter schlimm, aber ihr seid ja soviel draußen in der Natur - ihr müßtet wissen, daß die Rotente nicht in Sümpfen nistet!« »Wo denn sonst?« fragte Kamo. »Alle Enten bauen doch ihre Nester im Schilf oder im Sumpf.« »Das stimmt, du Schlaumeier, alle, nur nicht die Rotente.« »Wie komisch. Wo nistet sie denn? « »Na, zum Beispiel da drüben: auf den Felsen des Dali-Dagh.« »Auf den Felsen? Eine Ente - auf Felsen? So weit vom Wasser weg?« wunderte sich Armjon. Die anderen waren nicht weniger erstaunt. »Warum nistet sie nicht am Wasser? Das wäre doch viel bequemer: dann können die Küken, wenn sie ausgebrütet sind, gleich ins Wasser, und zu fressen hätten sie auch«, meinte Kamo. »Wie soll ich wissen, warum das so ist?« antwortete der Großvater. Er war offensichtlich bestrebt, seine Kenntnisse vor den Kindern ins richtige Licht zu setzen. »Bücher lese ich nicht - woher soll ich ungelehrter alter Mann die Weisheit schöpfen?« »Auch ganz kluge Leute, die viel gelernt haben, wissen so was nicht«, rief Kamo, bemüht, der Eigenliebe des Großvaters ein wenig zu schmeicheln. »Nein? Davon verstehen sie wohl nichts«, sagte der Alte überzeugt und selbstzufrieden. »Nach so etwas müßt ihr die Jäger fragen. Ist ja auch leicht zu verstehen. Wenn man sechzig Jahre lang durch Felder und Wälder streift und die Berge besteigt, dann ist das keine Kleinigkeit... Ihr alle habt solche Enten gesehen und wißt, daß sie vom Kopf bis zu den Füßen rot sind und außerdem viel scheuer als alle anderen Arten.« »Ja«, sagte Kamo, »und mir ist aufgefallen, daß sich die Rotenten auf dem Sewan-See dem Ufer immer sehr fern halten.« »Bravo, Kamo! Und was meinst du wohl, warum sie das tun? Ich will es dir sagen: weil Füchse, Wildkatzen oder Ottern sie sofort entdecken würden! Und nun frage ich euch: Kann die Rotente, die mehr als zwanzig Tage auf ihren Eiern sitzt, sie im Schilf ausbrüten?« »Nein«, rief Asmik, »ihre Feinde würden sie gleich entdecken und auffressen.« »Sehr gut, Asmik«, lobte der Großvater. »Wenn die Rotente ihre Eier nicht zwischen Felsspalten legte, gäbe es schon längst keine Rotenten mehr auf der Welt... Und wenn ihr für eure geplante Zucht Eier von Rotenten haben wollt, müßt ihr also auf die Felsen des Dali-Dagh klettern«, fügte er hinzu. »Na, wie ist es, wollen wir so eine Farm gründen?« fragte Kamo ungeduldig. »Ich gebe alle Eier her, die ich gesammelt habe«, rief Asmik begeistert. »Das ist fein. Aber die reichen nicht. Wenn schon, dann soll es eine richtige große Geflügelfarm sein, und mindestens ein paar Hundert Vögel müssen wir haben.« »Da werden ja die Hühner lachen! Hat man je was von einer Farm mit wilden Vögeln gehört?« spottete Grikor. »Was nicht ist, kann noch werden«, erklärte Kamo entschlossen. »Wir werden so schöne Vögel züchten, daß alle Welt staunen wird, nicht wahr, Großväterchen?« Kamo wurde unterbrochen, denn in diesem Augenblick erscholl wieder das unheimliche Drachengebrüll. Deutlich klangen die langgezogenen, dumpfen Laute vom See her. Den Kindern lief es kalt über den Rücken. Sie waren ernst geworden und schauten nachdenklich drein. »Wir müssen rauskriegen, was das für ein Gebrüll ist«, sagte Kamo mißmutig. Entschlossen wandte er sich dann den Kameraden zu und sagte: »Wir müssen das Geheimnis aufdecken, um jeden Preis. Meint ihr nicht auch?« Und als die Freunde lebhaft zustimmten, schlug Kamo vor: »Wir wollen zu der Stelle rudern, wo die Laute herkommen. Vorwärts, los! « Wenn Kamo sich etwas vorgenommen hatte, war er nicht zu halten. Dem Alten gefiel der Mut seines Enkels. Nicht umsonst fließt mein Blut in seinen Adern, dachte er und blickte den Jungen zärtlich an. Doch die abergläubische Furcht, die er von seinen Vorfahren geerbt hatte, hemmte ihn noch. So sagte er warnend zu den Kindern: »Laßt euch nicht mit diesem verteufelten See ein. Das sind Dinge, die euch nichts angehen.« Doch Armjon und Kamo hörten nicht auf ihn. Sie gingen schon zum Ufer, um das Boot loszumachen. Grikor zögerte etwas. Aber Kamo rief ihm zu: »Kommst du nicht mit?« Grikor machte ein klägliches Gesicht. »Ich kann doch die Kälber nicht im Stich lassen... Der Hirt hat sie mir anvertraut«, rief er. »Da kommt er ja gerade«, sagte Armjon und wies auf den Pfad, der zum Dorf führte. Grikor lief ihm entgegen. »Du kommst wie gerufen!« rief er dem Hirten zu. Asmik sah die Jungen flehend an: »Nehmt mich auch mit!« bat sie. »Ich habe bestimmt keine Angst.« Kamo warf dem Großvater einen fragenden Blick zu, doch dann entschied er: »Komm nur mit, Asmik.« Schließlich sprang noch Tschambar hinter den Jungen ins Boot. Nur Grikor fehlte. Kamo und Armjon hielten die Ruder schon in den Händen und warteten ungeduldig. Grikor verhandelte mit Großvater Assatur und bat sich eine Ente als Wegzehrung aus. »Nimm sie schon, du Freßsack«, sagte der Alte. »Du hast ja doch nur das Futtern im Sinn.« »Großväterchen«, rief Kamo dem Jäger schmeichelnd zu, »sorge dich nicht, wir werden bald zurück sein! Und bestelle Tante Anaid, daß Asmik mit uns gekommen ist. Vergiß auch den Korb mit den Eiern nicht.« Der Alte blickte vom Ufer aus den Kindern nach. Er machte eine sorgenvolle Miene und bekreuzigte sich. Die Kinder lachten. »Nun kann uns der Teufel bestimmt nichts mehr anhaben«, versuchte Grikor zu scherzen. Doch unversehens beschlich auch die Kinder geheime Angst. Tschambar winselte ungeduldig — er bildete sich wohl ein, es gehe zur Jagd. Eine verzauberte Stadt »Armjon, du nimmst die Karte«, sagte Kamo. »Wir werden auf der Hinfahrt außerdem Kennzeichen im Schilf anbringen, damit wir uns nicht trotz der Karte auf der Rückfahrt verirren.« Kamo und Grikor ruderten. Armjon breitete die Karte vor sich aus, studierte sie eifrig und bediente das Steuer. Der See, auf dem sie sich befanden, umfaßte etwa einen Kilometer im Umkreis. Bald hatten die Kinder das gegenüberliegende Ufer erreicht. Sie hielten an. »Wohin jetzt?« fragte Grikor. »Rudern wir zurück?« »Schade«, sagte Asmik, »ich dachte, wir würden viel länger unterwegs sein. Jetzt sollen wir schon wieder zurück?« Armjon schlug vor: »Wißt ihr was — wir wollen am Ufer entlang rudern! Nach Osten zu muß ein Kanal in einen anderen See führen.« Kamo und Grikor griffen erneut zu den Rudern, und das Boot glitt langsam am gelblichgrün schimmernden Ufer entlang. Eine fast undurchdringliche Schilfwand trennte sie vom Ufer. Plötzlich wich das Schilf zu beiden Seiten zurück, und eine Art Einfahrt tat sich auf. Kamo lenkte das Boot in den schmalen Kanal. Der Wasserlauf verengte sich zusehends, und bald war es nicht mehr möglich, zu rudern. Kamo hatte sich in der Mitte des Bootes aufgestellt und stakte mit dem einen Ruder, das er bald links, bald rechts ins Wasser stieß. Das Schilf war hier so hoch, daß die Spitzen über dem stehenden Kamo zusammenstießen und ein Dach über den Kindern bildeten, durch das die Sonnenstrahlen kaum hindurchzudringen vermochten. Das Wasser sah schwarz und düster aus. Plötzlich bog der Kanal links ab, und hinter der Biegung breitete sich vor den Blicken der Kinder ein neuer See aus. Dieser See schien kleiner als der, aus dem sie gekommen waren. Er glänzte freundlich im Sonnenschein. Schwärme von Wasservögeln aller Art bevölkerten die Uferböschungen. Als die Vögel, die bisher alleinige Herrscher an diesem See gewesen waren, das Boot erblickten, gerieten sie in helle Aufregung. Gänse, Enten, Steißvögel und viele andere kreischten wild durcheinander. Tschambar war nicht mehr zu halten. Er sprang auf und begann laut und ungestüm zu bellen. Er konnte sich gar nicht beruhigen, winselte kläglich und leckte sich mit seiner roten Zunge die Schnauze. Auch Asmik geriet ganz außer sich und rief entzückt: »Was für ein herrlicher See! Seht doch nur, wie schön es hier ist!« Grikor, dem beim Anblick des vielen Geflügels das Wasser im Munde zusammenlief, bekräftigte: »Und was für leckere Braten es hier gibt!« In der Mitte des Sees entdeckten sie eine kleine, von Schilf überwucherte Insel. Als sich das Boot dem kleinen Eiland näherte, glitt ein Otter, der sich gesonnt hatte, vom Ufer und verschwand im Wasser. »Ach«, seufzte Kamo, »hätt' ich doch jetzt das Gewehr des Großvaters bei mir!« »Wohin rudert ihr? Wir müssen doch rüber - dort muß es weitergehen«, rief Armjon nach einem Blick auf die Karte. Sie kamen jetzt an einen Kanal, der noch dunkler und enger war als der erste. An Rudern war hier überhaupt nicht mehr zu denken. »Wir wollen zurück«, rief Asmik, die furchtsam in das düstere Wasser blickte, »ich habe Angst.« »Nicht doch, wir müssen weiter«, widersprach Armjon und fügte hinzu: »Hier werden wir schneller vorwärts kommen als mit dem Rudern. Packt nur das Schilf und zieht es zu euch heran! « Kamo und Grikor taten es. Sie griffen nach dem Schilf und stellten befriedigt fest, daß das Boot so rasch weiterglitt. Ein wenig Bange hatten die Kinder doch bekommen. Wohin mochte dieser enge, düstere Wasserlauf führen? Es war indessen immer dunkler geworden. Das Laub des dicht wuchernden Ufergestrüpps bildete über ihren Köpfen ein fast undurchdringliches Dach. Im Wasser, zu dem kein Sonnen-strahl und kein Windstoß dringen konnte, wucherten üppige Wasserpflanzen. Ein dichter dunkelgrüner Moosteppich bedeckte den Grund. Wie Arme streckten die Schlingpflanzen ihre Ranken aus und klammerten sich an die Bootswände. Je weiter sie kamen, desto schmaler wurde die Wasserstraße, um so üppiger aber wucherten die Schlingpflanzen. Schließlich ging es nicht mehr weiter, weder vorwärts noch zurück. Das Boot war in der grünen Finsternis festgefahren, und es schien, als könnten sie es nicht wieder freibekommen. »Wo sind wir bloß? Was machen wir jetzt? Du bist schuld, Armjon! « jammerte Asmik. Auch Grikor riet, umzukehren. Die Jungen versuchten, das Boot rückwärts in Bewegung zu setzen, doch es rührte sich nicht von der Stelle. Es gelang nicht, mit dem stumpfen, breiten Heck das Gewirr der Schlingpflanzen zu zerreißen. Die Kinder überlegten, wie sie sich aus der ungemütlichen Lage befreien könnten: »Wollen wir nicht versuchen, ans Ufer zu kommen?« schlug Armjon vor. Doch Kamo weigerte sich. »Was stellt ihr euch vor? Es ist nichts als überall Sumpf und Wasser! Da versinken wir. Und wohin sollen wir dann? Hier gibt es doch nur Seen und Kanäle.« »Wir werden hier verhungern! Das fehlte gerade noch!« unkte Grikor. »Wir müssen zurückrudern!« Aber Kamo meinte: »Nein, auf keinen Fall! Wir müssen weiter!« Er packte eines der Ruder, schlug damit zwischen die Wasserpflanzen am Bug des Bootes und schleuderte die nassen Knäuel grünlich-schleimiger Fasern beiseite. Armjon kam ihm mit dem zweiten Ruder zu Hilfe. Grikor und Asmik halfen mit den Händen nach. Schnell waren die Bootswände von den Wasserpflanzen befreit, und das Boot glitt weiter und gelangte schließlich wieder in ein neues, größeres Wasserbecken. Als es heller geworden war, atmeten die Kinder erleichtert auf. Es kam ihnen vor, als wären sie einem finsteren Kerker entronnen. »Seht doch, die vielen Gänse!« schrie Asmik mit einem Male begeistert los. Ein riesiger Schwarm Wildgänse war aufgeflogen und erfüllte die Luft mit aufgeregtem Geschnatter. Schneeweiß leuchtete ihr Gefieder im grellen Sonnenlicht. »Wißt ihr, wie es hier aussieht? Wie in einer verzauberten Stadt mit lauter Wasserstraßen«, jubelte Asmik. »Schau, Kamo, ist es hier nicht wie in einer richtigen Stadt? Armjon, Grikor, seht doch nur — da drüben ist ein Platz, auf dem ein Denkmal steht!« Asmik wies auf einen Strauch, der sich in der Mitte des glatten Wasserspiegels aus dem See erhob. »Und da drüben: das kleine Inselchen aus Schilf — das sieht aus wie eine Festung, nein, wie ein Turm. . . Es ist wie im Märchen, nicht wahr, Kamo?« schrie Asmik aufgeregt. »Wir sind in den entlegensten Teil des Sees geraten«, meinte Armjon. »Selbst die Vögel haben hier keine Angst vor uns. Legt die Ruder beiseite, ich will eine Aufnahme machen.« »Mach auch eine Aufnahme von dem ,Denkmal' und von der ,Festung'«, bettelte Asmik. Sie setzten ihre Fahrt auf den Straßen dieser wunderbaren Wasserstadt fort. Zuweilen hörte eine solche Straße jäh auf. Dann stieß das Boot gegen eine hohe Schilfwand, und die Kinder mußten zurückrudern, um aus der Sackgasse herauszukommen. Oftmals kreuzten die Kanäle einander oder sie liefen parallel nebeneinander her, bis alle diese Straßen, Nebenstraßen und Gassen sich endlich zu einer breiten, hellen Allee vereinigten. Die Kinder waren in bester Stimmung. Die überstandenen Ängste waren vergessen. An den ,Drachen' dachte niemand mehr. Nur Tschambar winselte und konnte nicht begreifen, weshalb nicht geschossen wurde, obgleich es doch ringsum von Vogelschwärmen wimmelte. Er mochte wehmütig an seinen Herrn, den alten Jäger, denken, denn er jaulte leise vor sich hin und kroch, ohne die Kinder zu beachten, im Boot unruhig hin und her. »Hier wollen wir haltmachen und Eier sammeln«, schlug Armjon vor. Doch plötzlich errötete er. Wenn die Freunde nur nicht glaubten, er fürchte sich vor dem ,Drachen'. »Und wie kriegen wir raus, was mit dem ,Drachen' los ist?« fragte Kamo und warf den Freunden einen fragenden Blick zu. »Wir müssen erst herausbekommen, wo der ,Drache' brüllt«, sagte Armjon. »Vielleicht sind wir an der Stelle schon vorbeigefahren.« »Wir können ja hier ein bißchen warten; er wird sich schon bald wieder melden.« »Ich möchte lieber weiterfahren«, bat Asmik. »Ich möchte so gern wissen, wie es an den anderen Stellen aussieht.« Sie war begierig, weiterzukommen. Die großen schwarzen Augen des Mädchens blickten suchend umher und nahmen alles, was ringsum zu sehen war, voller Entzücken auf. Der ,Drache' mußte die Wünsche der Kinder erraten haben, denn fast unmittelbar nach diesem Gespräch erscholl plötzlich ganz in der Nähe sein ohrenbetäubendes Brüllen. Zuerst glaubten die Kinder, das Boot schwanke unter ihnen. Auch Tschambar sprang auf und begann wütend zu bellen. Asmiks Begeisterung und Unternehmungslust verwandelte sich in lähmendes Entsetzen. Das Boot hielt an. Asmik sandte Kamo hilfesuchende Blicke zu, denn er war offenbar der einzige, der gar keine Angst hatte. »Jetzt haben wir's! « rief er triumphierend. »Laßt uns schnell weiterrudern.« Die Jungen gehorchten wortlos. Sie führten das Boot immer weiter in die geheimnisvollen Tiefen des Gilli-Sees hinein. Bei jeder Biegung zeigten sich ihren erstaunten Blicken immer neue Schönheiten. Aber die Kinder achteten nicht mehr darauf. Sie waren mit Leib und Seele auf ihr Ziel versessen. Nun glitt das Boot in einen neuen kleinen See hinein. Er war nicht so ruhig wie die anderen. Sein Wasser schien zu brodeln wie in einem Kessel, der auf kleinem Feuer steht. Auf der Oberfläche bildeten sich große Blasen, die jedoch gleich wieder zerplatzten und sich in Wellenkreisen verloren. »Was soll das bedeuten?« fragte Asmik. »Vielleicht sind es Quellen«, überlegte Armjon. »Kann es denn an einer Stelle so viele Quellen geben?« meinte Grikor zweifelnd. Armjon hatte schon den Mund geöffnet, um dem Freunde zu antworten, da erklang das markerschütternde Brüllen von neuem, und dieses Mal noch näher, noch grausiger und noch anhaltender als zuvor. Es schien, als fordere der ,Drache' unter Wasser einen Gegner zum Kampf heraus. Kamo jedoch ruderte unbeirrt weiter und blieb — wenigstens äußerlich — ganz ruhig Er brannte vor Neugierde, Genaueres zu ergründen, und steuerte das Boot zielbewußt in die Richtung, aus der die geheimnis-vollen Laute gekommen waren. »Ich habe Angst«, jammerte Asmik, »ich will nicht weiter. Rudere zurück, Kamo, oder setze uns am Ufer ab.« Kamo zuckte die Achseln; als er aber sah, daß Asmik kreide-bleich geworden war, beschloß er, ihren Wunsch doch zu er-füllen. Sanft glitt das Boot weiter und legte an einem Inselchen an. Kamo sprang als erster ans Ufer. Die Kinder beobachteten, daß die kleine Insel schwankte. Sie war mit Schilf bewachsen. Die Spitzen des Schilfrohrs gerieten bei jedem Schritt in Bewegung, als habe sie ein Windstoß aus ihrer Ruhe gerüttelt. Kamo blieb überrascht stehen. »Was für eine komische Insel!« murmelte er erstaunt. Er ließ sich von Grikor ein Ruder reichen und wühlte damit an der Stelle, an der er stand, zwischen dem üppig wuchernden Teppich aus Wasserpflanzen. Er stieß aber nicht auf Erde, sondern ein Wasserstrahl spritzte plötzlich hoch. »Eine schöne Geschichte«, murmelte Kamo, um die andern nicht zu erschrecken. »Das ist eine Insel ohne Boden. Gleich darunter ist Wasser.« Es stellte sich heraus, daß die vermeintliche Insel ein dichtes Gestrüpp von Schlingpflanzen war. »Bleibt noch im Boot!« schrie Kamo. »Ich will mir erst mal diese komische Insel ansehen. Komm mit, Tschambar! « Vorsichtig bog er das hohe Schilfgras zur Seite und arbeitete sich Schritt für Schritt vorwärts. Da hörte er, wie Grikor erschrocken aufschrie. Er hatte gesehen, daß die ganze Insel unter Kamos Schritten ins Schwanken geraten war. »Bleib stehen!« schrie er, und nun merkte auch Kamo, daß seine Füße im dichten Teppich der Wasserpflanzen zu versinken drohten. Armjon blickte Asmik und Grikor unschlüssig an. Dann nahm er allen Mut zusammen und sprang gleichfalls auf die vermeintliche Insel. »Warte, Kamo! Ich komme mit.« Unter Armjons Gewicht fing das Pflanzeneiland wieder bedrohlich zu schwanken an. Nachdem die beiden Jungen die Insel ohne weiteren Zwischenfall durchquert hatten, kehrten sie zum Boot zurück. »Ich glaube«, sagte Armjon, »die Wurzeln der Wasserpflanzen sind so ineinander verschlungen und haben sich auf dem Grund im Schlamm so fest verankert, daß die Insel uns schon tragen wird.« Kamo meinte: »Seht nur, der Boden ist wie ein dicker Filzteppich. Sicher sind die Wurzeln der Wasserpflanzen im verrotteten und verdorrten Schilf festgewachsen, und so hat sich dieser Teppich gebildet.« Asmik blieb jedoch mißtrauisch. »Was passiert aber«, wollte sie wissen, »wenn die Wurzeln von der Strömung abgerissen werden?« Kamo lachte. »Dann würde unsere Insel mit uns allen aus dem Gilli- in den Sewan-See treiben.« Grikor und Asmik waren jetzt auch aus dem Boot geklettert und standen auf der schwankenden Pflanzeninsel. Grikor hatte am Rande im Gestrüpp ein Nest entdeckt, in dem eine brütende Gans saß. »Seht nur!« schrie er. Und nun erblickte er nicht weit davon entfernt den Gänserich, der das Nest bewachte. Der große Vogel zischte ihn wütend an, so daß der Junge erschrocken zurückwich. Doch der Schrecken des Gänserichs über das plötzliche Auftauchen eines Menschen war noch größer. Er flog auf, und gleich darauf verließ auch die Gattin das Nest und folgte ihm. Nun kamen auch die anderen angelaufen, so schnell es auf dem schwankenden Untergrund ging. »Seht nur diese Eier: vier Stück und groß wie Kinderköpfe«, übertrieb Grikor wie gewöhnlich und nahm zwei farblostrübe Eier aus dem Nest. »Zeig her«, bat Kamo und prüfte die Eier mit seinen Zähnen. »Sind die aber hart!« Dann betrachteten die Kinder das Nest genauer. Es war riesengroß und bestand aus kunstvoll ineinander verflochtenen dürren Schilfblättern und Gräsern. Innen war es sorgfältig mit Federn gepolstert. »Die Eier werden wir mitnehmen«, sagte Asmik, »sie sind ganz frisch.« »Woran merkst du das?« fragte Kamo. »Daran, daß wenig Eier im Nest liegen«, erwiderte Asmik. »Faß mal an, eins ist noch ganz warm, das ist eben erst gelegt worden. Eine Wildgans legt aber, glaube ich, zwölf Eier und fängt erst dann an zu brüten. Wenn also weniger Eier, im Nest sind, dann müssen sie eben frisch sein... Die Ente legt noch mehr Eier, manchmal sechzehn Stück.« Nachdem die Kinder die Eier betrachtet hatten, streiften sie weiter auf der Insel umher. Grikor rief: »Hier ist noch ein Nest mit ganz bunten Eiern. Was für welche können das sein?« Er stand vor einem großen Nest, in dem neun Eier lagen. Das aus dürrem Schilf gefertigte Nest war von außen grob und hart, innen jedoch mit zartem, weichem Flaum ausgelegt. Asmik kam angelaufen und nahm ein Ei heraus, das wie mit Sommersprossen bedeckt aussah. »Das sind die Eier vom schwarzen Wasserhuhn«, erklärte sie gewichtig. Armjon brachte eine ganze Mütze voll grauweißer Eier, sie hatten eine längliche Form und glatte Schale. »Was sind das für welche?« wollte er wissen. »Das sind natürlich Enteneier«, sagte Asmik, »daß du das nicht weißt, Armjon! Sie stammen von Wildenten, die fast genauso aussehen wie unsere Hausenten.« Armjon sah Asmik an und lächelte: »Woher weißt du das eigentlich alles?« »Ich hab' euch doch schon erzählt, daß ich im vorigen Jahr mit meiner Mutter oft Eier gesammelt habe.« Vom Jagdeifer gepackt, schnüffelte Tschambar eifrig im Schilfdickicht und entdeckte Gänge, die von einem Otter stammten. Doch all sein Bemühen war zu seiner Verwunderung vergeblich. Kein Jäger folgte ihm, und kein Schuß ertönte. Kamo freute sich über die Vogelnester, die Tschambar aufstöberte; er sammelte die Eier ein und lobte den Hund immer wieder. Jetzt hatte das kluge Geschöpf nämlich begriffen, was von ihm verlangt wurde, und half Kamo eifrig beim Eiersuchen. Freudiges Gebell kündete jedes neu aufgefundene Nest an. Während Kamo dann die Eier herausnahm, stand Tschambar schwanzwedelnd neben ihm. An einer Stelle aber, zu der ihn der Hund geführt hatte, fand Kamo nichts weiter als ein Häufchen zerbröckelten Schilfs. »Warum hast du mich denn angeführt, Tschambar?« sagte Kamo und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Er war gerade im Begriff umzukehren, aber der Hund stellte sich ihm in den Weg und bellte herausfordernd. »Du hast wohl den Verstand verloren?« fragte der Junge und wollte erneut weitergehen, doch Tschambar rührte sich nicht von der Stelle. Kamo sah nun genauer hin und entdeckte in der Mitte des Schilfhäufchens ein sorglich mit Federflaum bedecktes Nest. Er schob die Federn beiseite und strahlte. Der Hund hatte ihn nicht angeführt. In dem Nest lagen acht große graue Eier. Das müssen Gänseeier sein, dachte Kamo, aber wo mag die Gans stecken? Hat die Eier einfach mit ihren Federn bedeckt und ist auf und davon, vielleicht, um zu fressen... »Was ist denn das — eine Schlange?« schrie plötzlich Armjon auf und wich erschrocken zurück. Aus dem Dickicht sahen ihn zwei böse funkelnde Augen an, die weit auseinanderstehend auf einem flachen grauen Köpfchen saßen. Asmik lief herbei, blickte sich ängstlich um und brach dann in ein schallendes Gelächter aus. »Du bist mir ja ein Held! Das ist doch eine Ente! Sie brütet. Sie sitzt auf den Eiern und will nicht aufstehen. Ich hab' mich auch mal so erschreckt«, fügte sie hinzu. »Wenn eine Wildente so auf ihren Eiern sitzt und nur Kopf und Hals zu sehen sind, sieht das wirklich aus wie ein Schlange... Komm weg. Wir dürfen sie nicht stören.« »Warte, ich werde erst eine Aufnahme machen!« rief Armjon und stellte seinen Apparat ein. Doch die Ente war durch das Auftauchen so vieler Menschen scheu geworden. Sie flog auf, und nun konnten die Kinder das aus trockenem Laub und Moos gefertigte Nest genauer betrachten. Asmik zählte die Eier. »Rührt das Nest nicht an«, sagte sie, »die Ente wird zurück-kommen«, und sie zog die Gefährten mit sich fort. Kaum hatten sie sich ein wenig entfernt, als sie hinter sich Flügelschlagen hörten. Die Ente kehrte zu ihrem Nest zurück. »Habt ihr eigentlich gar keinen Hunger?« wollte plötzlich Grikor wissen. »Was denkt ihr euch? Wir müssen doch was essen!« »Ich bin auch hungrig«, gab Kamo zu. »Aber was sollen wir essen?« »Was wir essen sollen? Unseren Enterich vom Großvater wollen wir braten, und dazu machen wir uns ein ,wildes' Rühr-ei... « »Ein wildes?« Asmik mußte lachen. »Das ist ein prima Einfall. Woher nehmen wir aber eine Pfanne und Fett? Wie wärs mit gekochten Eiern? Dazu könnten wir den Eimer nehmen, mit dem wir das Wasser aus dem Boot geschöpft haben.« Grikor lief zum Ufer zurück und brachte den kleinen Eimer und den vom Großvater erlegten Enterich. »Und Salz, Brot, Zündhölzer - woher wollen wir das alles nehmen?« fragte Kamo. »Ein richtiger Hirt muß so was bei sich haben«, erwiderte Grikor und nahm den Brotbeutel von der Schulter. Darin war tatsächlich alles, was die Kinder zu ihrer Mahlzeit brauchten. Sie trugen trockenes Schilf zusammen und häuften es auf, zu beiden Seiten wurden die Ruder in den Boden gerammt und mit Weidengerten verbunden. Daran wurde das Eimer-chen aufgehängt. Grikor schlug vor, Möweneier zu kochen. »Die Gänse- und Enteneier sind zu schade dafür.« Armjon rümpfte die Nase: »Pfui, Möweneier - kann man die denn essen?« »Weshalb denn nicht?« erwiderte Grikor. »Ich habe sogar' schon gekochte Rabeneier gegessen.« Er legte einige Möweneier für sich beiseite und zündete das Feuer an. Das dürre Schilf flammte im Nu auf. Bis das Wasser heiß war und die Eier gekocht werden konnten, machte sich Grikor rasch und geschickt an das Rupfen der Ente. Sachgemäß wurde der Vogel über dem Feuer ab-gesengt. Dann nahm er ihn aus, wusch ihn und rieb ihn mit Salz ein. Nachdem er die Ente auf einen Stock gespießt hatte, briet er sie unter ständigem Drehen über dem Feuer goldbraun. Bald verbreitete sich ein appetitlicher Bratenduft. Als der Vogel gar schien, riß Grikor ihm ein Bein aus und machte sich heißhungrig darüber her. »Warte doch«, tadelte Kamo, »wir wollen alle zusammen essen. Armjon, gieß kaltes Wasser auf die Eier! Inzwischen will ich den Tisch decken. « Mit viel Geschick baute Kamo aus Schilfrohr eine Art Hocker, bedeckte ihn mit dürrem Laub, legte das in Stücke eschnittene Brot darauf und stellte die Salzbüchse daneben. »So, nun ist der Tisch gedeckt. Armjon, bring jetzt die Eier - Grikor, wie weit ist dein Entenbraten?« Kein Lüftchen regte sich. Es war ein milder Frühlingstag, und die Sonne schien warm. Lustig und vergnügt speisten die Kinder in ihrem zauberhaften Winkel im Schilf, zwischen Seen und Kanälen. Sie aßen die gebratene Ente und die Eier mit gutem Appetit. Am herzhaftesten griff natürlich Grikor zu. Sein unergründlicher Magen war den jungen Freunden nur allzugut bekannt, und Scherzworte ermunterten ihn noch, sich gehörig vollzustopfen. Nachdem sie sich gestärkt hatten, wurde die Eiersuche fort-gesetzt, und das Auffinden eines neuen Nestes wurde jedesmal durch laute Rufe verkündet. Die Freude dauerte indessen nicht lange. Jählings, und wie es schien, aus allernächster Nähe, ertönte hinter dem Schilf wiederum das schon bekannte furchtbare Gebrüll. Asmik ließ die eben eingesammelten Eier vor Schreck fallen, und Grikor lief, so schnell es ging, zum Boot zurück. Kamo, der auf die Entschleierung dieses Geheimnisses versessen war, versuchte mit finsteren Blicken das Schilf zu durchdringen. »Wir wollen hier weg«, schlug Grikor nicht allzu mutig vor. Aber Kamo war dagegen: »Nein, im Gegenteil, wir wollen dahin rudern, wo das Brüllen herkommt.« Armjon wollte widersprechen, doch das mutige Verhalten seines Freundes verschloß ihm den Mund. Das Geheimnis des Gilli-Sees Armjon hatte sich in die Karte vertieft. »Wir sind da«, sagte er, »hinter dieser Schilfwand muß noch mal ein großer See liegen, das ist dann der letzte. Hinter dieser mit Schilf bewachsenen Fläche vor uns liegen schon die Torffelder.« »Seht doch«, rief Asmik, »wie unruhig die Vögel hin und her flattern, und hört mal den Lärm, den sie hinter der Schilfwand machen.« »Wie kommen wir aber dahin?« fragte Armjon ungeduldig. »Alles ist Sumpf hier und das Schilf so dicht, daß man nicht durchkommt. « »Sicher ist noch keiner vor uns hier gewesen! Was mag nur hinter der Schilfwand sein? Vielleicht gibt es da richtige Wundertiere, wie im Märchen«, meinte Asmik ganz aufgeregt. »Oder die Wassergeister, von denen Großvater Assatur erzählt hat«, fügte Grikor hinzu und zog den Kopf ein. Schon wieder erdröhnte das Gebrüll jenseits der Schilf-wand. Jetzt waren die Kinder ihrer Sache sicher. Dort war die Lösung des Rätsels. Mit dem Boot kamen sie jedoch hier nicht weiter. Kamo beschloß, sich allein nach der anderen Seite durchzuarbeiten. Die Kameraden sollten fürs erste nicht an dem gefahrvollen Abenteuer teilnehmen. Auch ihm selber war nicht ganz geheuer zumute, aber der brennende Wunsch, das Geheimnis aufzudecken, besiegte seine Furcht. Er nahm Armjons Fotoapparat, raffte allen Mut zusammen, und das Schilf mit den Armen teilend, arbeitete er sich vorwärts. »Ich bin bald zurück«, rief er den Gefährten noch zu. Asmik hatte die Augen weit aufgerissen und war ganz starr vor Entsetzen. Stumm und besorgt blickten die Kinder dem Freunde nach. Asmiks Herz klopfte so laut, daß es das Rascheln des Schilfs übertönte. An den schwankenden Rohrspitzen sahen die Kinder, welche Richtung Kamo eingeschlagen hatte. Unter Kamos Füßen gluckste das Wasser. Um nicht zu versinken, sprang er behende von einem Schilfhügel zum anderen. Doch es wurde immer sumpfiger. Kamo durfte nicht einen Augenblick stehenbleiben, wenn er nicht sofort einsinken wollte. Nur wenn er das Schilf in ganzen Garben niederbog, fanden seine Füße etwas Halt. Auf diese Weise kam er aber nur langsam vorwärts. Das Kreischen der Vögel und das Plätschern des Wassers rückten immer näher. Kamo brannte darauf, rascher ans Ziel, endlich hinter das Geheimnis des ,Drachen' zu kommen. Es machte ihn müde, das Schilf immer wieder niederzutreten. Versuchte er aber, ohne diese Schilfbrücken auszukommen, versank er sogleich mit beiden Füßen bis zu den Knien im Morast und hatte alle Mühe, von dem Gewirr der Wurzeln wieder los-zukommen. Langsam beschlich ihn doch die Angst. Was sollte er machen, falls er plötzlich an eine tiefere Stelle geriet und wirklich versank? Würde es ihm da gelingen, ohne Hilfe wieder aufs Trockne zu kommen und einen festen Halt für seine Füße zu finden? Plötzlich hörte Kamo dicht neben sich das zufriedene Geschnatter einer Wildgans. Das Schilf vor ihm lichtete sich. Er bog das Rohr aueinander und hätte beinahe vor Freude los-geschrien. Eingebettet in üppiges Grün, breitete sich vor ihm in unbeschreiblicher Schönheit ein See aus. Kamo blickte sich um. Hier reihte sich Nest an Nest - ein wahres Vogelparadies! Geschickt baute er sich aus dürrem Schilfrohr erst einmal einen festen Stand. Dann wandte er sich um und rief mit lauter Stimme den Zurückgebliebenen zu: »He, Armjon, Grikor! Kommt schnell!« Kamos Herz bebte vor Freude. Er ließ seine erstaunten Blicke über den sonnenbeschienen Wasserspiegel schweifen. Zahllose Vögel belebten die stille Wasserfläche: rotgefiederte Enten, graue Wasserhühner, Enteriche mit grünen Köpfen, graue und weiße Reiher, die auf ihren langen Beinen am Ufer entlang stelzten oder, wie zu Bildsäulen erstarrt, reglos dastanden. Kamo sah auch große weiße Vögel mit rosafarbenen Flügeln und sehr langen roten Beinen. »Flamingos!« rief er begeistert aus. Bisher hatte er solche Vögel nur auf Bildern gesehen. Schade, Asmik müßte hier sein, um das zu sehen! Und was würde Grikor sagen? Er wundert sich doch über jede Kleinigkeit so sehr. Und in der Schule werden sie staunen, dachte Kamo. Aufgeregt tastete er seine Taschen ab. Er mußte Papier und Bleistift bei sich haben. Wenigstens in groben Strichen wollte er das herrliche Bild festhalten. Dabei berührte seine Hand den auf der Brust hängenden Fotoapparat. Auf dem mühseligen Wege durch den Sumpf hatte er ihn ganz vergessen. Seine Freude war groß, und er begann eifrig zu knipsen. Vor allem hatte er es auf die Flamingos abgesehen, die sich auf ihrem langen Flug gerade diesen Winkel zu einer Rast ausgesucht hatten. Kamo war hingerissen vor Begeisterung. Neben den Flamingos stolzierten weiße Pelikane umher, sie waren fast so groß wie ausgewachsene Schafe. Sie tauchten ihre breiten Schnäbel ins Wasser und angelten mit erstaunlicher Behendigkeit Fische heraus; dann schleuderten sie ihre Beute hoch, um sie in der Luft wieder aufzufangen. Das sah ja merkwürdig aus. Kamo hatte schon gehört, daß diese komischen Vögel auf solche Weise die Fische in der Luft einen Salto machen ließen, um sie mit dem Kopfe zuerst verschlucken zu können. Vom Schwanzende aus ging das nicht, weil die Flossen nicht durch den Schlund rutschten. So hatte die Natur vorgesorgt. Kamo fotografierte auch Vogelnester, die aussahen wie riesige, umgestülpte Pelzmützen. Darin hatten Seeraben ganze Berge von Fischen aufgehäuft. Eine Reserve, dachte Kamo, wie klug und vorsorglich! In einiger Entfernung sah er im Schilf das Nest eines Wasservogels. Das Weibchen saß brütend auf den Eiern. Da kam das Männchen angeflogen. Nun stand das Weibchen auf und flog weg — vielleicht hatte es Hunger —, das Männchen nahm sofort ihren Platz ein und setzte sich auf die Eier. Wie komisch, dachte Kamo, unser zahmer Haushahn denkt gar nicht dran, die Henne auf dem Nest abzulösen. Nach einigem Nachdenken fand er eine Erklärung. Das ist ja gar nicht nötig, überlegte er, die zahme Henne wird ja von der Hausfrau gefüttert. Wer soll aber die wilde Vogelmutter versorgen? Plötzlich hörte Kamo von der Mitte des Sees her einen markerschütternden Schrei. Er sah, wie eine kleine graue Wildente immer wieder versuchte, sich in die Höhe zu schwingen. Sie reckte den Kopf und schlug mit den Flügeln um sich, sank aber immer wieder auf die Wasserfläche zurück, als hingen schwere Gewichte an ihren Füßen. Als das Entlein dann noch eine letzte Anstrengung zum Auffliegen machte, wurde unter ihr für Sekunden der glänzende Kopf eines Otters sichtbar. Unter Wasser hatte er sich an sein Opfer herangeschlichen... und da, wo die Ente eben noch so vergnügt herumgeschwommen war, stiegen wenige Augenblicke später ein paar Blasen auf, und einige graue Federn schwammen auf dem Wasserspiegel umher. Die Blasen zerplatzten, verteilten sich im Wasser und waren bald ganz verschwunden. Der See lag wieder friedlich und ruhig da, als sei nichts geschehen, als habe sich nicht soeben ein kleines Drama abgespielt. In diesem Augenblick — scheinbar um Kamos Erstaunen noch zu vergrößern — schwamm ganz dicht vor seinen Füßen ein Nest vorbei — ein regelrechtes schwimmendes Nest, das aus Schilfblättern und Schlinggewächsen kunstvoll geflochten war. Als das im Nest sitzende Weibchen — es schien ein Wasserhuhn zu sein — Kamo am Ufer stehen sah, reckte es den Hals und schien erst davonfliegen zu wollen. Dann aber blieb es doch. Sein Bruttrieb war stärker. Und nun beobachtete Kamo etwas ganz Merkwürdiges. Das Wasserhuhn tauchte einen ihrer mit Schwimmhäuten versehenen Füße ins Wasser und fing hurtig an, damit zu rudern. Das schwimmende Nest machte zusammen mit seinem Insassen eine Kehrtwendung und entfernte sich rasch. Kamo sperrte vor Erstaunen Mund und Nase auf. Er war so verdutzt, daß er es sogar beinahe versäumt hätte, von diesem drolligen Bild eine Aufnahme zu machen. So was hatte er noch in keinem Buch gesehen. Das ist ein komischer Vogel, dachte Kamo. Und wie schlau der ist, baut sich sein Nest wie ein Schiff, damit die Feinde nicht an die Küken rankommen. Genug zu fressen findet er unterwegs: junges Schilfgrün, Insekten, Wasserlinsen. Gleich darauf sah Kamo, wie zu einem anderen Nest ein Enterich geflogen kam und seiner Gefährtin etwas zum Fressen brachte. Sofort flog er wieder davon, um mehr zu holen. Wie die Tiere füreinander sorgen! dachte Kamo. Plötzlich fiel ein großer schwarzer Schatten auf das Wasser. Aufgeregt lärmend verkrochen sich die Vögel im Schilf, und die Kormorane krächzten ängstlich. Ein riesiger Seeadler schoß vom Himmel herab, direkt auf das schwimmende Nest zu. Das Wasserhuhn schrie und schlug wie rasend mit den Flügeln um sich. »Ksch, ksch, ksch!« Kamo schwenkte die Arme, um den Seeadler zu verscheuchen. Doch er hatte nicht aufgepaßt, verlor plötzlich das Gleichgewicht, schwankte und stürzte hin. Was er soeben noch befürchtet hatte, war geschehen. Das Pflanzengewirr unter ihm war gerissen, und er stand im nächsten Augenblick bis zur Brust im Wasser. Nichts war in der Nähe, wonach er hätte greifen können. Er riß den Apparat herunter und warf ihn aufs Trockene. Dann tastete er nach dem Schilf und versuchte sich daran hochzuziehen, vor allem aber seine Füße aus dem Gewirr der Pflanzen zu befreien. о weh, wie kam er hier heraus? Verzweifelt bemühte er sich, einen Halt zu finden, sank aber statt dessen immer tiefer ein. Sollte er die Freunde rufen? Sie würden ihn wohl gar nicht hören. Von Sekunde zu Sekunde sank Kamo tiefer. Er hatte sich mit beiden Händen am Schilf festgeklammert. Es bot ihm nur wenig Halt, bog sich und gab nach. Kamo merkte, wie das kalte Wasser schon seine Schultern umspülte. Muß ich wirklich hier ertrinken? dachte er. Sein Herz schlug bis zum Hals. Dem immer mutigen Kamo wurde angst und bange. Verzweifelt sah er sich nach allen Seiten um, da fiel sein Blick auf das schwimmende Nest, das immer noch an der gleichen Stelle schaukelte. Das Wasserhuhn saß mit erhobenem Köpfchen auf seiner Brut. Als Kamo das sah, erwachte sein Mut wieder; er nahm alle seine Kräfte zusammen und versuchte, sich in die Höhe zu schwingen. Das Schilf hielt jedoch sein Gewicht nicht aus. Nun versuchte Kamo es auf andere Weise. Er ließ bald mit der einen, bald mit der anderen Hand das Schilf los, brach ganze Büschel davon ab und versuchte, sie unter seinen Füßen festzutreten; vielleicht konnte er auf diese Weise einen Halt finden. Es ging nicht. Er sank immer tiefer, und bald reichte ihm das Wasser bis zum Halse. Jetzt erst rief er um Hilfe. Er erschrak vor seiner eigenen Stimme. »Grikor, Armjon, zu Hilfe«, schrie er immer wieder, so laut er konnte. Er zitterte vor Angst und Kälte. Mußte er hier wirklich ertrinken? Die Kameraden hatten Kamos Rufe nicht gehört. Aber Tschambar war plötzlich unruhig geworden. Er winselte und sprang aufgeregt an Asmik hoch, lief davon und kam schnell wieder zurück. Das wiederholte sich ein paarmal. »Es muß was mit Kamo sein«, rief Asmik plötzlich. »Der Hund hat es gemerkt. Der täuscht sich bestimmt nicht.« »Vielleicht ist er in den See gestürzt?« rief Grikor erschrocken. »Sicher braucht er unsere Hilfe!« »Was du dir einbildest. Kamo ist so stark und geschickt, ihm geschieht nichts«, sagte Asmik, um ihre Angst zu unterdrücken. Aber Armjon hatte keine Ruhe mehr. »Komm, Grikor! Wir wollen ihm nachgehen.« Und er begann, sich auf Kamos Spuren durch die Schilfwand hindurchzuarbeiten. Grikor kroch hinter ihm her. Auf den Hund hatte in der Aufregung keiner geachtet. Er war schon vorausgelaufen. Nur noch Kamos Kopf sah aus dem Wasser heraus. Die Wasserpflanzen lasteten auf seiner Brust und seinem Rücken. Kamo hatte das Gefühl, zwischen zwei eisernen Platten eingezwängt zu sein. Er bekam kaum noch Luft. Nur noch kurze Zeit, und er müßte ersticken. Auch rufen konnte er nicht mehr. Er stöhnte nur noch ganz leise. Seine Finger wurden klamm, und die Arme erschlafften. Er konnte sich kaum noch am Schilf festhalten. Seine Glieder gehorchten ihm nicht mehr. Doch der Lebenswille in dem ermatteten Körper flammte immer wieder auf. Kamo preßte nochmals das Schilf zusammen, spannte alle Kraft an, und es gelang ihm wirklich, Kopf und Schultern etwas anzuheben. In diesem Augenblick wurde er von hinten gepackt und aus dem Wasser gezerrt. Er spürte das spitze Schilfrohr in seinem Rücken. Nur mit ungeheurer Anstrengung brachte er es fertig, sich herumzuwälzen. Nun lag er auf dem Bauche, die Brust gegen das Schilf gepreßt... Grade noch zur rechten Zeit, Grikor... dachte er; dann wurde ihm schwarz vor den Augen. Er lag in das Schilf gebettet und kam nur sehr langsam wieder zu sich. Es dauerte noch eine geraume Weile, bis er kaum hörbar flüstern konnte: »Grikor — danke — daß du gekommen bist! — Noch ein paar Augenblicke — und es wäre aus gewesen. — Zieh mich ein bißchen weiter. . .« Er bekam keine Antwort. Mühsam richtete er sich auf und sah sich um; und er blickte in die großen leuchtenden Augen des Hundes. »Tschambar! —Mein Lieber!« flüsterte Kamo erschöpft. »Du bist es — Tschambar — du hast mich gerettet? — Und ich dachte — Grikor war es.« Tschambar winselte vor Freude und leckte Kamo das Gesicht. Nun hörten sie, wie es im Schilf raschelte. Das Wasser gluckste, und Grikor kroch auf allen vieren heran, um dem Freunde zu helfen. »Kamo«, schrie er schon von weitem, »was ist? — Lebst du?« Hinter Grikor tauchte auch Armjon auf. Mit vereinten Kräften hoben sie Kamo hoch und trugen ihn an eine Stelle, an der mehr Schilf wuchs. Hier war der Untergrund fester. Die beiden Jungen brachen ganze Arme voll Schilf ab, schichteten es zu einem kleinen Haufen, setzten Kamo darauf und hockten sich neben ihn. »Du bist ja patschnaß«, sagte Grikor, zog Kamo das durchnäßte Hemd aus und gab ihm sein eigenes. »Warst du denn richtig im Wasser? Wie bist du rausgekommen?« Kamo war noch zu matt, um zu antworten, mit einer Kopfbewegung wies er auf den Hund. »Tschambar?« fragte Grikor erstaunt. »Komm her, Tschambar, laß dir einen Kuß geben!« Und Grikor nahm den Kopf des Hundes in seine Hände und küßte ihn. Tschambar wedelte mit dem Schwanz, und aus seinen klugen Augen strahlte eine solche Freude, als hätte er verstanden, was da von ihm gesagt wurde. Der »Wassermann« Armjon hatte grade etwas fragen wollen, als er von dern Gebrüll des ,Drachen’ unterbrochen wurde. Die Kinder sahen sich erschrocken um. Der Wasserspiegel vor ihnen war derart in Wallung geraten, als sei in der Tiefe des Sees eine Explosion erfolgt. In der Mitte der Wasserfläche bildeten sich weite Kreise, die sich langsam nach den Ufern hin verliefen. »Habt ihr gesehen... was war das?« stammelte Grikor mit vor Schreck blutleeren Lippen. »Hast du denn etwas sehen können?« erkundigte sich Armjon bei Kamo. »Ja, eine Wassersäule ist aus dem See hochgeschossen...« Sie sprachen im Flüsterton, als hätten sie Angst, es könne sie jemand hören. Die Vögel flogen ganz ruhig über den See hinweg; sie suchten ihre Nester auf. Das unheimliche Brüllen hatte auf sie offenbar gar keinen Eindruck gemacht: sie waren anscheinend daran gewöhnt. Nur die Flamingos am jenseitigen Ufer schwangen sich schwerfällig in die Luft und kreisten über dem See, dabei baumelten ihre langen Beine herab. Es sah sehr komisch aus. Für sie war der Gilli-See ja nur eine zufällige Rast auf ihrer langen Reise. Sie kannten seine Absonderlichkeiten nicht und erschraken ebenso wie die Kinder. Keiner sagte etwas. Gespannt starrten die Knaben auf die Stelle im See, an der, wie Kamo gesagt hatte, eine Wassersäule hochgeschossen war. Sie hatten Angst, aber ihre Neugierde überwog, und sie warteten, was nun passieren würde. Die Minuten vergingen, und nichts geschah. Bei jedem leisesten Plätschern, bei jedem Vogelschrei zuckten die Kinder zusammen. »Nimm den Apparat, Armjon, und halte ihn bereit«, sagte Kamo. о wie froh war er, daß er daran gedacht hatte, den Apparat vor seinem unfreiwilligen Bad aufs Trockene zu werfen. Sonst wären alle schönen Aufnahmen verdorben und der Apparat unbrauchbar geworden. »Nimm du ihn, Kamo, und mache du die Aufnahme«, bat Armjon. »Deine Hand wird bestimmt nicht zittern.« Die Jungen mußten lange warten. Als wolle er ihre Geduld auf eine harte Probe stellen, ließ sich der ,Wassermann' weder hören noch sehen. Grikor wurde ungeduldig. »Asmik ist allein zurückgeblieben«, sagte er. »Sie wird Angst haben. Wollen wir nicht zurückgehen?« »Sie ist tapferer als du«, behauptete Kamo. »Du hast ja selber Angst und willst nur ausbüchsen.« Grikor sah beschämt zur Erde, sagte aber nichts. Der See lag ruhig da, als würde dieser entlegene Winkel nie von einem Windhauch berührt. Über dem blauen Wasserspiegel tummelten sich die Vögel. Plötzlich aber stieg eine riesige Wassersäule hoch! Dabei krachte und dröhnte es, und die Luft erzitterte unter dem furchtbaren Brüllen des ,Wassermanns', wie die Kinder den ,Drachen' nun getauft hatten. Grikor stürzte sich voller Angst ins Dickicht. Armjon war kreideweiß geworden. Nur Kamo stand wie betäubt da und umklammerte den Fotoapparat; er hatte den Auslöser ganz mechanisch herabgedrückt. Tschambar forderte den unsichtbaren Feind durch wütendes Bellen zum Kampf heraus... Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, kehrten die Knaben zu ihrem Boot zurück, wo sie Asmik voller Aufregung schon ungeduldig erwartete. »Was habt ihr gesehen? Warum hat Grikor kein Hemd an? Bist du ins Wasser gefallen, Kamo?« bestürmte sie die Jungen mit Fragen. Asmik beruhigte sich schnell. Die Freunde waren ja alle da. Keinem war etwas geschehen. Als sie dann aber an Kamos Händen Blut entdeckte, geriet sie erneut in Aufregung. »Woran hast du dir die Hände verletzt? Am Schilf? Du bist also doch ins Wasser gefallen? Bist ja noch ganz naß. Ich sehe es euch an, daß was passiert ist.« Fragend blickte sie von einem zum anderen. Weshalb sahen die Jungen so rot aus, weshalb waren sie so erhitzt und aufgeregt? »Jetzt geht's nach Hause«, sagte Kamo und schnitt damit alle weiteren Fragen ab. »Wart's ab, wir erzählen dir alles der Reihe nach. Außerdem ist hier im Kasten eine Antwort auf deine Fragen. « Und Kamo hielt triumphierend den Fotoapparat hoch. »Du siehst doch, wir sind gesund und munter, und im Boot sind die vielen Eier. Nun gib schon Ruhe.« Asmik gab sich zufrieden. Durch unzählige Kanäle und Seen, vorbei an der schwankenden Schilfinsel, steuerte Kamo das Boot durch die engen Wasserstraßen und über die Seen zurück zur Fischerhütte des Großvaters. Wie gut war es, daß sie auf der Hinfahrt Zeichen angebracht hatten, jetzt konnten sie sich danach richten. So fanden sie den Rückweg ohne große Mühe. Es wurde Abend. Die Sonne neigte sich bereits, und der See wechselte von Minute zu Minute seine Farben; bald leuchtete das Wasser rotgolden, bald grün, bald war das Schilf in der untergehenden Sonne in flammendes Rot getaucht. Schwärme von Wildenten, Gänsen und Krickenten kehrten von den Feldern zurück und suchten zum Schlafen ihre Nester auf den verzauberten Inseln auf. Die Kinder waren müde; sie hatten für die herrliche Abendstimmung kein Auge mehr. Nur der eine Gedanke beschäftigte sie: Was hatte Kamo für Bilder in seinem Kasten? Würden sie das Rätsel des ,Wassermanns' lösen? Ins Dorf zurückgekehrt, wurde Asmik beauftragt, die Eier zu ihrer Mutter zu bringen. Die anderen gingen voraus, zu Armjon, wo auch Asmik wenige Minuten später aufgeregt und neugierig erschien. Armjons Mutter, eine hochgewachsene, schlanke Frau mit großen schwarzen Augen, empfing die Kinder sehr freundlich; sie sagte nur vorwurfsvoll zu ihrem Sohn: »Armjon, wo warst du nur den ganzen Tag? Hast du schon was gegessen? Überall hab' ich dich gesucht.« »Was Feines haben wir gegessen«, mischte sich Grikor ein. »Wildentenbraten. Keine Sorge, wir sind nicht verhungert!« »Na, dann bin ich beruhigt«, sagte Armjons Mutter. »Was habt ihr denn noch gegessen?« »Enten- und Möweneier; die waren lecker.« Die Frau schüttelte den Kopf. Sicher fand sie die Einfälle der Kinder sehr ungewöhnlich. Sie lächelte aber und forderte sie auf: »Nun setzt euch und eßt euch satt.« Und sie bestand darauf, daß die Kinder zum Tisch kamen. Doch Armjon wollte nicht. »Wir sind noch ganz satt und haben keine Zeit zum Essen, Mutter. Wir müssen zuerst ein paar Aufnahmen entwickeln. Geh du inzwischen ins andere Zimmer. Hier müssen wir die Lampe ausmachen. « »Wollt ihr nicht lieber erst essen und euch dann mit den Bildern abgeben? Warum habt ihr es denn so eilig?« »Wir haben den ,Wassermann' fotografiert, der im Gilli brüllt«, erklärte Grikor aufgeregt und zwinkerte seinen Kameraden listig zu. Armjons Mutter sah ihren Sohn zweifelnd an. »Na, Grikor, du willst dir wohl einen Scherz mit mir erlauben?« »Aber nein, so wahr ich hier stehe - den ,Wassermann' haben wir fotografiert«, sagte Grikor eifrig. »Armjon wird Ihnen das Bild zeigen, dann werden Sie es uns glauben. Sie hätten nur hören sollen, wie der ,Wassermann' vor lauter Angst geheult hat, als er mich sah. . . « Asmik lachte Grikor verschmitzt an; seine Augen funkelten vor Übermut. »So, Mutter, jetzt mach' ich die Lampe aus«, erklärte Armjon energisch, nachdem er in seinem ,Laboratorium' alles Nötige vorbereitet hatte. In der Entwicklerlösung, auf die ein matter Lichtschein aus dem kleinen roten Fotolämpchen fiel, wurde der Film schnell schwarz. Langsam zeichneten sich die Umrisse der Landschaft, der Seen, der Schilfinsel und der Vogelwelt darauf ab. Nachdem Armjon die Negative entwickelt, fixiert und sie in aller Eile getrocknet hatte, schaltete er den Vergrößerungsapparat ein und begann die Aufnahmen abzuziehen. Mit angehaltenem Atem beobachteten die Kinder ihn bei der Arbeit. Auf einer der letzten Aufnahmen sahen sie dann endlich den See, der das Geheimnis des ,Wassermanns' seit uralten Zeiten hütete. »Seht nur, wie sich die Flamingos im Wasser spiegeln«, sagte Armjon und wies auf die im Wasserspiegel langgezogenen und leicht verzerrten Vögel. »Ach, ist das der See, in dem der ,Wassermann' haust?« rief Asmik und beugte sich neugierig vor. »Bitte, laß mich das mal ordentlich sehen! Wie viele Vögel das sind! Und was ist das da? Sind das Nester? So viele Nester? Und das hier soll Schilf sein? Um den ganzen See herum geht es? Und wie glatt der See ist, wie ein Spiegel!« »Glatt wie ein Spiegel! Na warte, du wirst gleich sehen, wie glatt der ist«, sagte Armjon und legte einen anderen Filmstreifen in die Entwicklerlösung. »Nein, diese Aufnahme ist es auch noch nicht«, murmelte er, als sich ein sonderbares Gebilde herausschälte. »Was kann denn das aber sein, Kamo? Ein Nest? Welcher Vogel wird denn mitten auf dem See nisten? Oder ist er vielleicht mitsamt dem Nest ins Wasser gefallen?« Kamo lachte ausgelassen. »Ja, habt ihr denn geglaubt, ich setze mein Leben für nichts und wieder nichts ein? Du ahnst ja gar nicht, was auf dieser Aufnahme ist. Ihr werdet Mund und Nase aufsperren.« Aufgeregt bestaunten die Kinder das schwimmende Nest. »Wie komisch, Kamo! Erzähle uns, wie das war. Und aufschreiben mußt du das und zusammen mit den Aufnahmen an die Pionierzeitung schicken.« »Unbedingt mußt du das tun — und zwar gleich morgen.« »Und hier ist die Aufnahme des ,Wassermanns'«, sagte Armjon triumphierend, als sich im Entwickler ein neues Bild zeigte. »Das soll der Schreihals sein, der uns keine Ruhe läßt?« fragte Armjons Mutter und beugte sich ebenfalls neugierig über das Bild. »Das ist er — das ist sein Porträt! « »Laßt mich auch sehen... Das soll sein Bild sein?« rief Asmik einigermaßen enttäuscht. Sie hatte erwartet, etwas Außergewöhnliches, zum mindesten einen Elefanten oder ein Nashorn, zu sehen. Achselzuckend sagte sie: »Das ist ja nichts als aufgewirbeltes Wasser — und das soll der ,Wassermann' sein?« »Sie hat ja recht«, pflichtete Grikor dem Mädchen bei, »da ist ja nichts anderes drauf als eine große Wasserblase. Und das soll der berühmte ,Drache' oder ,Wassermann' sein?« Grikor war sichtlich enttäuscht. Die Aufnahme wanderte von Hand zu Hand. Kamo verteidigte sich: »Ich kann nichts dafür. Als er gebrüllt hat, habe ich geknipst. Es war aber auch, um Angst zu kriegen, nicht wahr? Ehrlich gesagt, war mir dabei nicht ganz wohl in der Haut.« »Ja, das stimmt, das war wirklich unheimlich«, gab Grikor zu, und lachend meinte er: »Das Brüllen galt sicher mir. Der hat gemerkt, daß ich gekommen war, um ihn abzumurksen. Angst wollte er mir machen. Aber damit ist er an den Falschen geraten!« »Hast du denn wirklich keine Angst gehabt?« wollte Asmik wissen. »Nein, er hat keine Angst gehabt«, sagte Kamo an Grikors Stelle und lachte spitzbübisch. »Als das mit dem ,Wassermann' passierte, als der so plötzlich losbrüllte, da hat Grikor gedacht, du könntest erschrecken, und ist zu dir gelaufen, so schnell seine Beine konnten.« »Das stimmt. Als der ,Wassermann' brüllte, bin ich schnurstracks zu dir gelaufen, Asmik. Ich dachte, der Schreck würde dich umbringen«, stotterte Grikor verlegen. Auch Armjon machte ein sehr enttäuschtes Gesicht. »Das soll der unheimliche ,Wassermann' sein«, sagte er. »Das ist ja gar nichts. Haben wir deswegen so einen Wirbel gemacht?« »Warten wir's ab. Wir wollen sehn, was Aram Michailo-witsch sagt. Wir haben getan, was wir konnten«, sagte Kamo. »Armjon, bring morgen alle Aufnahmen mit in die Schule. Wir werden uns im Zimmer für Landeskunde ein Plätzchen aussuchen und die Bilder aufhängen. Darunter werden wir schreiben: ,Kleines Reich junger Naturforscher!' Ist das schön? So, und jetzt müssen wir nach Hause schlafen gehen. Mir fallen schon die Augen zu.« Und Kamo mußte herzhaft gähnen. Ein verlockender Plan Am nächsten Morgen gingen Kamo und Armjon mit den Aufnahmen zu Aram Michailowitsch, dem Sekretär der örtlichen Parteiorganisation, der zugleich ihr Naturkundelehrer war. Auch Grikor ließ nicht lange auf sich warten. Die Jungen erzählten dem Lehrer alles, was sie erlebt hatten: von dem sonderbaren See, von der schwimmenden Insel und von dem unheimlichen ,Wassermann’. Sie standen auf der offenen Veranda und sprachen laut und aufgeregt. Nach und nach kamen einige neugierige Nachbarn des Lehrers herbei. Sie wollten hören, was die Kinder berichteten. Kamo zeigte eine neue Karte, die er vom Gilli-See entworfen hatte. Er breitete sie auf dem Tisch aus und erklärte: »Dies ist der See, in dem unser ,Wassermann' haust.« Dann zeigte er die Bilder, die er von den Flamingos, dem Pelikan mit dem in die Luft geschleuderten Fisch und dem schwimmenden Nest gemacht hatte. »Habt ihr denn nun festgestellt, woher das Gebrüll kommt«, fragte der Lehrer und sah sich Kamos Karte genau an. »Hier auf dem Bild ist das, was wir gesehen haben«, sagte Kamo und zeigte die vergrößerte Aufnahme mit dem ,Porträt des Wassermanns'. »Ich habe auch ganz deutlich gesehen, wie eine Wassersäule aus dem See hochschoß«, mischte sich Grikor ein. »Nicht wahr, du auch, Kamo?« »Ja, das stimmt«, bestätigte Kamo und nickte. Die Leute, die sich auf der Veranda eingefunden hatten, drängten sich um den Tisch und versuchten, einen Blick auf die Bilder zu werfen. Auf dem Bilde des ,Wassermanns ' war wirklich nicht viel zu sehen; die Wassersäule, von der die Kinder sprachen, war nicht zu erkennen. Entweder übertrieben sie mit ihren Schilderungen, oder sie hatten sich eingebildet, so etwas zu sehen. Denkbar war natürlich auch, daß Kamo um den Bruchteil einer Sekunde zu spät geknipst hatte. Auf dem Bilde, das auf dem Tisch lag, war eine helle, nicht sehr hohe Wölbung über der Wasserfläche zu sehen — das, was die Kinder eine Wasserblase genannt hatten. Der Lehrer sah sich die Aufnahme genau an. »Seid ihr denn sicher, Kinder«, fragte er, »daß dieses Bild überhaupt mit dem Gebrüll des ,Wassermanns', das wir dauernd hören, zusammenhängt?« »Ich stand mit dem Apparat in der Hand da«, erzählte Kamo, »da schoß plötzlich Wasser hoch, als wäre unter der Oberfläche Sprengstoff explodiert. Gleichzeitig hörten wir das Brüllen; dann wurde das Wasser langsam wieder glatt.« Unter den Zuhörern wurden die verschiedensten Meinungen laut. Alles schwatzte durcheinander, und ein alter Mann behauptete, der Wasserstrahl stamme ganz sicher von dem ,Drachen' auf dem Grunde des Sees. Ein anderer war der Ansicht, der ,weiße Büffel' hätte unter Wasser geschnaubt. »Was kann schon ein ,weißer Büffel'?« widersprach der erste. »Der kann doch das Wasser nicht so hochwirbeln. Dazu ist er nicht stark genug. Natürlich ist es ein ,Drache.« Solche Mutmaßungen kamen ausnahmslos von alten Leuten. Es zeigte sich jedoch, daß auch sie keineswegs fest von ihren Behauptungen überzeugt waren. Sie wiederholten einfach das, was sie von ihren Vätern und Großvätern gehört hatten. Der Streit war noch in vollem Gange, als Großvater Assatur die Stufen zur Veranda emporstieg. Er sah sich die Aufnahmen an und sagte nachdenklich: »So also sieht unser ,Wassermann' aus! Der soll das Gebrüll ausstoßen? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Man sieht ja nicht einmal Hörner.« »Wieso denn Hörner?« fragte Armjon erstaunt. »Nun, es heißt doch, daß der Teufel Hörner habe. Wie soll ich es wissen?« meinte der Großvater, denn auch er war seiner Sache nicht ganz sicher. »Aber mein Enkel ist ein tapferer Junge«, fügte er mit leuchtenden Augen hinzu. »Wer, außer meinem Enkel, hätte den Mut gehabt, den bösen Geist zu otografieren? Und wessen Enkel ist er?« Stolz sah sich der Großvater im Kreise um. Alle mußten über die selbstgefällige Art des Alten lächeln. Nur der Lehrer blieb ernst. Er war nachdenklich geworden und schien nicht zuzuhören. »Das ist alles Unsinn!« sagte er schließlich. »Es gibt keinen Teufel, und es ist an der Zeit, daß auch unsere Alten aufhören, an ihn zu glauben. Eine wahre Schande ist es, heutigentages noch von Geistern zu schwatzen! Was aber da draußen auf dem See vor sich geht, ist natürlich sehr interessant. Das Geheimnis muß aufgeklärt werden, und dabei kann uns nur die Wissenschaft helfen. Sieht es nicht aus, als drängen irgendwo unter dem Wasser unterirdische Gase durch die Erdrinde? - Habt ihr Gas gerochen, Kinder?« »Nein, wir haben nichts gerochen«, erwiderte Kamo. »Nur ein kalter Luftzug wehte plötzlich zu uns herüber.« »Die ganze Sache ist doch recht rätselhaft. Wißt ihr was, Kinder, wir wollen an die Akademie der Wissenschaften schreiben. Wir werden die Aufnahmen beilegen und um die Entsendung einer Expedition zur Erforschung des Gilli-Sees bitten. . .« Nun wandte sich der Lehrer an Kamo und fragte: »Ich höre, ihr habt viele Eier mitgebracht. Welchen Sinn hat es-denn, die Nester der Wasservögel zu zerstören? Was habt ihr mit den Eiern vor?« »Wir haben die Nester nicht zerstört«, verteidigte sich Kamo gekränkt. »Wir wollen doch eine Farm für Wildvögel gründen.« »Und wie habt ihr euch das gedacht? Was für einen Zweck soll das haben?« Kamo schwieg verlegen. Armjon kam ihm zu Hilfe. »Wir wollen die Wasservögel zahm machen«, sagte er. »Sie haben sicher viele gute Eigenschaften.« »Welche guten Eigenschaften haben denn die Wasservögel eurer Ansicht nach?« forschte Aram Michailowitsch weiter. »Weshalb bringst du die Kinder in Verlegenheit?« mischte sich da Großvater Assatur ein. »Stimmt es denn nicht, was sie sagen? Nimm zum Beispiel die Wildgans - sie ist größer als unsere zahme Gans. Kreuze sie mit unserer, und es wird eine größere Rasse daraus werden.« »Solche Vögel werden die Kälte besser vertragen; außerdem werden sie sich draußen Futter suchen. Unter den wilden Rassen gibt es viele verschiedene Entenarten! Ich habe mal in einem Buch gelesen, daß es fünfundsiebzig verschiedene Arten von Wildenten gibt. Und wie viele davon sind gezähmt?« ereiferte sich Armjon. »Ich glaube, nur die Stockente.« »Was schlägst du also vor?« fragte Aram Michailowitsch und blickte seinen Schüler wohlwollend an. »Ich schlage vor, die besten Arten der Wildenten zu zähmen. Zum Beispiel die Rotente. - Warum sollte man sie nicht zähmen können? Und dann die Marmorente.« »Die Jungen haben recht. Unter den wilden Vögeln gibt es viele, die wir unter unserem zahmen Geflügel nicht haben«, meinte nun auch der Großvater. »Die Kinder haben auch Eier von der Krickente mitgebracht. Kann man das Fleisch unserer zahmen Ente mit dem Fleisch der Krickente vergleichen? Sie hat so zartes und weiches Fleisch wie das Rebhuhn. Wäre es also schlecht, wenn wir unter unserem zahmen Geflügel Krickenten hätten und zum Pilaw hin und wieder eine davon rupfen könnten?« »Und stellt euch vor, wie gut ein Pilaw[2 - Pilaw = kaukasisches Gericht.] mit dem Fleisch vom schwarzen Wasserhuhn zubereitet schmecken muß!« fiel Grikor ein. »Im vorigen Herbst hab' ich mal eins mit dem Stock erschlagen. Dann hab' ich das Huhn in seinem eigenen Fett gebraten. Ihr glaubt nicht, wie fett es war. Es hat sogar noch für die Kartoffeln gereicht, und außerdem ist noch ein gutes Glas voll übriggeblieben! - Aussehen tut es überhaupt wie ein zahmes Huhn. « Jeder wußte etwas Lobenswertes von den wilden Vögeln zu erzählen. Man hätte meinen können, sie hätten überhaupt nur gute Eigenschaften. »Das Züchten neuer Vogelarten wäre eine gute Sache«, meinte Aram Michailowitsch nachdenklich. »Der ist jetzt auch auf unserer Seite«, flüsterte Kamo Armjon erfreut ins Ohr. »Gut«, sagte nun Aram Michailowitsch, »ihr sollt meine Unterstützung haben. Fangt an, und wir wollen sehen, was dabei herauskommt. « Kamo war vor Freude ganz außer sich. »Jetzt müssen wir Bruthennen besorgen und im Kolchos um Brutöfen bitten«, sagte er. »Aber der Kolchosvorsitzende ist so unfreundlich — ob er sie uns geben wird?« »Ihr kennt ihn schlecht«, sagte Aram Michailowitsch. »Geht nur zu ihm und bittet ihn um zwei Brutöfen. Sagt ihm, ich hätte euch geschickt.« »Und was wird mit dem ,Wassermann'?« fragte Armjon. »Wir werden die Aufnahmen zusammen mit einem Brief nach Jerewan schicken und die Gelehrten dort bitten, uns bei der Lösung dieses Rätsels zu helfen«, sagte der Lehrer. »Vielleicht schicken sie einen Geologen her. Vorläufig beschäftigt euch in eurer schulfreien Zeit mit der Vogelfarm. Ich hoffe, ihr werdet Erfolg damit haben.« Die Kinder dankten Aram Michailowitsch und liefen vergnügt davon. Armjon mußte allerdings immer wieder an das ungelöste Geheimnis des Gilli-Sees denken. Was geht dort vor? fragte er sich. Wodurch entstehen diese seltsamen Laute? Sind es Gase, die aus der Erde dringen? Was kann es nur sein? Ganz in Gedanken versunken ging er hinter den Kameraden her. Sie waren noch nicht bis zur Pforte gelangt, da rief ihnen Aram Michailow nach: »Das Wichtigste habe ich ja vergessen: wo sollen eure Enten und Gänse denn schwimmen? Sie brauchen doch Wasser!« »Ach ja, stimmt ja, Wasser müssen wir haben«, erwiderte Kamo. »Und wir haben so wenig Wasser im Dorf. Könnten wir nicht einen kleinen Teich ausgraben und aus dem Flüßchen Wasser hineinleiten?« »Das läßt sich machen. Wir werden an den freien Abenden die Jungpioniere zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenschließen«, schlug der Lehrer vor. »Ja, das wäre fein!« freuten sich die Kinder. »Dann können wir auch Fische aussetzen und neben der Geflügelzucht Fischzucht betreiben!« Der Kolchosvorsitzende Noch am gleichen Abend ging Kamo zur Kolchosverwaltung. Der Vorsitzende, Bagrat, und der Lehrer, Aram Michailo-witsch, saßen am Tisch und unterhielten sich halblaut. Unschlüssig blieb Kamo an der Türschwelle stehen. Als sie den Knaben erblickten, sahen sich Bagrat und Aram Michailowitsch vielsagend an und standen auf. »Du bist schon gekommen, Kamo? Das ist gut. Setze dem Vorsitzenden deine Wünsche auseinander. Meine Meinung habe ich ihm bereits gesagt.« Und Aram Michailowitsch verabschiedete sich mit einem festen Händedruck von dem Kolchosvorsitzenden und verließ das Zimmer. Bagrat war ein untersetzter, stämmig gebauter Mann. Er machte einen ernsten, etwas verschlossenen Eindruck. Kamo sah sich die lange Reihe der Ordensbändchen an der Brust des Vorsitzenden neugierig an. Bagrat hatte sie für die Tapferkeit, mit der er die sowjetische Heimat verteidigt hatte, bekommen. Jetzt blickten seine dunklen Augen unter den dichten schwarzen Brauen streng auf den vor ihm stehenden Jungen. Nachdem er sich Kamos Plan angehört hatte, sagte er: »Nun, nehmen wir einmal an, mein Sohn, daß es nach deinen Wünschen ginge... Wer sollte dann die Kosten tragen? Ist denn euer Unternehmen im Arbeitsplan für das laufende Jahr vorgesehen? Und hat man je erlebt, daß irgendeine Farm ohne Beschluß der Kolchosverwaltung eingerichtet wird? Die reine Anarchie ist das! Die reine Anarchie!« brauste Bagrat plötzlich auf. Kamo war ganz erschrocken. Stumm wartete er, was nun werden würde. Der Vorsitzende versank in Nachdenken und trommelte lange mit den Fingern auf dem Tisch. »Hm. . .«, fing er schließlich wieder an. »Und wenn deine Vögel ausreißen — willst du dann alles bezahlen?« »Sie werden nicht ausreißen; wir werden ihnen die Flügel beschneiden. « »Und was wollt ihr von mir?« »Sie haben doch Brutöfen, Onkel Bagrat. Leihen Sie uns vorläufig, wenn es geht, zwei davon. Aram Michailowitsch hat auch gesagt, wir sollten Sie um zwei solcher Kästen bitten.« »Na, schön. Wenn Aram Michailowitsch für euch gutsagt, dann könnt ihr sie haben. Aber über alles, was ihr macht, müßt ihr uns im Kolchos genau berichten.« Kamo bedankte sich, drehte sich um und wollte schon gehen, als ihn der Vorsitzende zurückrief. »Hast du die Sache mit der Farm denn auch im Kommunistischen Jugendverband der Schule zur Sprache gebracht?« »Dazu bin ich doch noch nicht gekommen, Onkel Bagrat«, versuchte Kamo sich zu verteidigen. »Ich sage es ja — das ist die reine Anarchie!« ereiferte sich der Vorsitzende wieder. »Du mußt den Jugendverband doch von deinem Plan in Kenntnis setzen.« »Mach' ich, Onkel Bagrat. Ich werde heute noch eine Versammlung einberufen. Vielen Dank auch für die Brutöfen.« Kamo berief die Versammlung noch für den gleichen Abend ein und erzählte den Kameraden begeistert von der geplanten Vogelfarm. Dann erklärte Armjon: »So, wie der große Gelehrte Mitschurin durch Kreuzung von Obstbäumen neue Obstsorten gezüchtet hat, wollen wir Wildvogelküken aufziehen, sie mit unserem zahmen Geflügel kreuzen und dadurch ganz neue Vogelarten züchten.« Artusch, einer von Kamos Klassenkameraden, hatte zwar nicht den Mut, in der Versammlung etwas dagegen zu sagen, entrüstete sich aber hinterher um so lauter und wortreicher. »Sind wir denn alle so dumm?« schrie er. »Müssen wir uns von so einer hergelaufenen Rotznase aus Jerewan was vorerzählen lassen?« Kamo stammte tatsächlich aus Jerewan. Seine Mutter, eine Tochter des Jägers Assatur, hatte einen Mann aus Jerewan geheiratet und war nach dort gezogen. Als der Krieg ausbrach, war Kamos Vater an die Front gekommen, und die Mutter war mit ihrem Sohn in ihr Heimatdorf Litschk zurückgekehrt. Sie war im Dorf wie eine Ortszugehörige aufgenommen worden und arbeitete nun schon lange in einer Kolchosbrigade der Tabakplantage. Kamo besuchte die Dorfschule. Nachdem dann sein Vater, Samson, im Jahre 1946 aus der Roten Armee entlassen worden war, kam auch er in das Dorf. Es gefiel Samson hier sehr gut. Er war ein tüchtiger Mechaniker und wurde von Bagrat überredet, wenigstens so lange im Dorf zu bleiben, bis Kamo aus der Schule kam. Er sollte die Schmiede in Gang bringen und die landwirtschaftlichen Maschinen reparieren. Samson erklärte sich bereit, und sie blieben. »Warum auch nicht?« meinte der Schmied. »Ich werde hier-bleiben und mit euch zusammen arbeiten. Wenn Kamo mit der Schule fertig ist, werde ich ihn nach Jerewan auf die Universität schicken.« Kamo lernte gut; er war beliebt bei seinen Kameraden und wurde bald zum Sekretär des Kommunistischen Jugendverbandes gewählt. Aber Artusch war auf Kamos Erfolge und seine Beliebtheit bei den Kameraden neidisch. Denn sicher, so dachte er, hätten sie ihn zum Sekretär gewählt, wenn Kamo nicht dagewesen wäre. Jetzt fraß der Neid an ihm und machte ihn heimtückisch und schlecht. Kamos Versuche, Artusch seine Einbildungen auszureden und ihn für sich zu gewinnen, waren bisher immer gescheitert. Auf der Suche nach Bruthennen »Nein, diese Asmik! Was fangen wir nur mit dem Mädel an, Sb Großväterchen Assatur? « klagte die gutmütige Tante Anaid. »Im vorigen Jahr hat eine von unseren Glucken zwanzig Entlein ausgebrütet, wie viele Bruthennen werden die Kinder jetzt haben wollen? Du willst wirklich allzu viele Küken ausbrüten lassen, Asmik.« »Mach dir keine Sorge, Mütterchen, Bruthennen werden wir schon finden«, schmeichelte Asmik. »Großväterchen Assatur wird uns eine leihen; er hat es mir versprochen. Nicht wahr, Großväterchen?« »Gewiß, gewiß, wie sollte man eine solche Sache nicht unter-stützen! Unbedingt werden wir bei meiner Alten eine Glucke loseisen. Und bei den andern Bauern werden wir auch welche bekommen. Jetzt sitzen ja die Hennen überall auf den Eiern. Wo sind eigentlich deine vorjährigen Küken, Asmik? Leben sie noch? Zeig mal, was für Wunderdinger das geworden sind! « »Ja, ich kann sie dir nicht zeigen, Großväterchen. Sie sind doch den ganzen Tag draußen auf dem Fluß. Wenn du graue siehst, mit marmorierten Federn — das sind unsere. Solche hat niemand anders.« »Und sie fliegen nicht weg?« fragte der Großvater. »Wir haben ihnen ja die Flügel beschnitten. Vorher sind sie mal ganz weit weggeflogen. Sie sind aber von selbst wiedergekommen... Großväterchen, hilf uns bitte, bitte dabei, Bruthennen zu besorgen! « flehte Asmik. »Alle Leute im Dorf haben dich gern. Dir wird es keiner abschlagen.« »Versuchen wir es, Kindchen, komm nur« willigte der Großvater ein. »Gehen wir erst mal zu meiner Alten!« Asmik strahlte und trippelte neben dem Großvater her. »Alte, eine von deinen Hennen gluckt doch, soviel ich weiß«, sagte der Großvater, als sie zu Hause ankamen. »Leihe sie doch dem Mädchen hier.« Die alte Nargis war sprachlos. Wie komme ich dazu? stand auf ihrem Gesicht geschrieben. Asmik zeigte ihr ein großes Ei und sagte: »Das ist das Ei von einer Wildgans, Großmütterchen. Wir werden solche Eier der Henne unterlegen, dann werden drollige Küken herauskommen, flauschige, goldgelbe Dingerchen.. . « »O-o-och, erblinden möchte ich! Hat jemand schon erlebt, daß man einer zahmen Henne die Eier wilder Vögel unterlegt? Was für Neuigkeiten!« Die Greisin bekreuzigte sich. Großvater Assatur schüttelte mißbilligend den Kopf. »Nun, hast du dich bekreuzigt? Brauchst nichts zu befürchten - bringe die Bruthenne und mach keine Geschichten.« »Was soll denn das?« murrte die Alte. »Ich selbst wollte der Henne gerade einige Eier unterlegen. Sollen wir denn ohne Küken bleiben?« »Schon gut, schon gut, murre nicht!« begütigte der Großvater. »Hühner hast du ja genug. Es wird sich auch eine zweite Bruthenne für uns finden.« »Großmütterchen, wenn bei euch noch eine Henne zu brüten anfängt, bring' ich dir Eier vom schwarzen Wasserhuhn, soll ich?« fragte Asmik eifrig. Die Alte ließ sich erweichen und ging, um die Henne zu holen. Asmik half ihr beim Einfangen und stand dann, das Huhn an die Brust gedrückt, stolz und zufrieden da. Großvater Assatur aber sagte: »Mein liebes altes Frauchen, das junge Volk bei uns erfüllt die Welt mit Wundern! Dafür sind sie ja auch im Kommunistischen Jugendverband. Und diese Pioniere - ewig sollen sie leben - bringen alles fertig, was sie wollen. Glaub nur, sie bringen es fertig... Und finden sie keine lebenden Bruthennen, dann werden sie eben Bruthennen aus Eisen nehmen.« Die erste vom Großvater entliehene Glucke half der Sache der Kinder vorwärts. Aram Michailowitschs Frau erklärte sich bereit, den Kindern eine weitere Bruthenne zu geben. Sie gingen auch zu Grikors Mutter, die zwar zuerst murrte, aber Grikor verstand es wie immer, sie zum Lachen zu bringen und dadurch zu erweichen. »Nani-dshan[3 - Nani-dshan = liebes Mamachen.]«, sagte er zärtlich, »ich werde dir mit dem Huhn ein ganzes Regiment Küken zurückbringen. Gib sie uns und sei nicht bange!« »Ach, du Schelm, wirst du jemals so werden wie Armjon?« sagte sie und mußte, ob sie wollte oder nicht, auch lachen; sie öffnete die Tür zum Hühnerstall. Grikor umarmte seine Mutter stürmisch. »Ich will doch später mal Professor werden, Mütterchen.« »Dann lerne erst ordentlich in der Schule«, meinte die Mutter. »Ich werde, ich werde. Es hat Zeit, Mütterchen — blinder Eifer schadet nur. . .«, rief Grikor übermütig. »Gib mir das Huhn.« Er nahm es ihr einfach aus den Händen und lief davon. Großen Lärm schlug Setos Mutter, Tante Sona. Die Kinder hatten sich gar nicht an sie gewandt, aber Sona hielt es für notwendig, sich einzumischen. Auf dem flachen Dach ihres Hauses stehend und mit den Armen fuchtelnd, schrie sie: »Solchem Gesindel wie euch werde ich kein Huhn geben! « Grikor wollte sie beschwichtigen und rief ihr zu: »Tante Sona, hör doch erst zu, wir gründen eine Farm. Verstehst du — eine Geflügelfarm! Wir werden uns im Dorf vor Gänsen und Enten und Wasserhühnern nicht mehr retten können... Tante Aschchen«, wandte er sich an eine der Frauen, »gib du uns doch für fünfundzwanzig Tage ein Bruthenne. Du bekommst dann auch die Hälfte der ausgebrüteten Küken.« »Dummkopf, die wilden Vögel werden gerade darauf warten, daß du sie verschenkst!« mischte sich der von dem Streit angelockte Seto in das Gespräch. Es wurde Grikor ungemütlich. Der freche Seto war nicht leicht unterzukriegen. Da erdröhnte unerwartet Großvater Assaturs Baßstimme. »He, Aschchen, Astchik! He, ihr Frauen und Mädchen, bringt jede, wenn ihr sie habt, eine Bruthenne und gebt sie diesen Kindern! Zurückbekommen werdet ihr, sie bestimmt. Ich bürge dafür. Geschwind! Geschwind! Was sperrt ihr den Mund auf?« kommandierte er energisch. Der alte Jäger genoß große Achtung im Dorfe. Auch in der Kriegszeit fanden die Nachbarn stets Unterstützung bei ihm; immer war er hilfsbereit und gastfreundlich gewesen, und es gab niemand im Dorf, der nicht schon von seiner Jagdbeute abbekommen hätte. »Nun, wenn Großvater Assatur es sagt, dann muß die Sache wohl in Ordnung sein«, sagte Aschchen und ging, um eine Glucke zu fangen. Nur Sona lärmte auf ihrem Dache weiter: »Großvater macht seinem weißen Bart Schande, er ist kindisch geworden!« »He, Tochter Atos!« rief ihr der Alte drohend zu. »Ich höre nicht auf das, was du da plapperst, sehe es aber deinem Gesicht an — es ist nichts Gutes. Du bist aus schlechtem Holz. Sieh dir die Mütter dieser Kinder an, die sind anders als du. Ihre Kinder sind in der Schule die Besten, und jetzt werden sie eine Farm gründen. Anstatt zu brummen, solltest du dich lieber um deinen Sohn bekümmern und sorgen, daß er es zu etwas bringt und sich nicht in den Bergen herumtreibt.« Die Kinder gingen weiter in die Häuser der Kolchosbauern. An jeder Tür setzte Asmik ihren Plan lang und breit auseinander. Grikor erweichte die Hartherzigen durch seine Späße, während Großvater Assatur die Bitten der Kinder durch seine Autorität unterstützte: »Gebt, gebt«, drängte er, »erschwert es den Kindern nicht!« Keines der Kinder traute sich, den Lehrer darum zu bitten, sie früher fortzulassen, weil ja die Eier so schnell wie möglich in die Brutöfen und unter die Glucken gelegt werden mußten. In der Pause lief Asmik in das Obergeschoß, in dem sich die höheren Klassen befanden; sie traf im Flur auf Kamo und Armjon. Ihren Mienen nach zu urteilen, waren auch die Jungen sehr aufgeregt. »Komm, Kamo, wir wollen den Lehrer um Urlaub bitten«, schlug Asmik hastig vor. »Wir verspäten uns sonst beim Gluckensetzen.« Artusch hatte das Gespräch gehört. Er schlich sich heran. »Bruthennen wollt ihr setzen?« fragte er spöttisch. »Das ist ja das Neueste! Der Sekretär unseres Jugendverbandes hat wohl nichts Wichtigeres zu tun? Das ist allerdings eine dringende, unaufschiebbare Angelegenheit!« spottete er hämisch. Die drei sahen ihn verdutzt an; er aber ließ sie stehen und ging weiter. »Asmik, Kamo und Armjon haben an den Seen Eier gesammelt und setzen jetzt Glucken.« — Diese Neuigkeit wurde im Flüsterton in der ganzen Schule verbreitet. »Wie kannst du auch so dumm sein und auf dem Flur so laut darüber reden, Asmik?« ereiferte sich Kamo. »Geh schnell in deine Klasse zurück und bleibe da, bis der Unterricht zu Ende ist!« Alle drei blieben also in der Schule, und erst nach Unterrichtsschluß liefen sie im Eiltempo zum Kolchosstall, der sich am Rande des Dorfes befand. Lärmend folgten ihnen viele der Schulkinder. »Wo werden die Glucken gesetzt? Was sind das für Bruthennen?« schwirrte es von allen Seiten durch die Luft. Artuschs spöttische Stimme übertönte das Geplapper der Kinder. »Kamo will sich als Sekretär des Jugendverbandes durch eine außergewöhnliche Tat mit unsterblichem Ruhm bedecken«, stichelte er in gekünstelter Redeweise. »Warum auch nicht?« warf einer seiner Kameraden ein. »Durch irgendwas muß der Mensch doch seine Tüchtigkeit zeigen!« Kamo wandte sich um; erst jetzt sah er die Kinder, die ihnen gefolgt waren, und rief: »Was wollt ihr eigentlich?« Niemand achtete auf ihn. Die Kinder waren alle begierig, die Eier der wilden Vögel zu sehen, mit denen Asmik vor ihren Freundinnen geprahlt hatte. Am Stall angelangt, blieben sie stehen und bildeten um den Eingang einen dichten Halbkreis. Diejenigen, die zuhinterst standen, stellten sich auf die Zehenspitzen oder kletterten auf Steine und reckten den Hals, um zu sehen, was nun käme. Einige besonders Unternehmungslustige waren sogar auf die Dächer der Nachbargebäude gestiegen. Kamo, Armjon und Asmik machten sich, ohne auf ihre neugierigen Schulkameraden zu achten, an die Arbeit. Sie fertigten aus Stroh weiche Nester an, in die sie behutsam je zehn oder zwölf Eier legten. Die anderen kamen in die Brutöfen. Dann wurden die Glucken geholt und auf die Nester gesetzt. Damit sie auch ja nicht davonfliegen konnten, banden ihnen die Kinder die Füße fest, denn die Tiere waren durch den Lärm und die vielen Menschen sehr unruhig und wollten zuerst nicht auf den Eiern sitzenbleiben. Es war nur gut, daß Großvater Assatur kam und sofort ärgerlich loswetterte. Energisch verjagte er die Neugierigen, die den Stall umdrängten: »Habt wohl noch keine Hühner gesehen?« »So etwas Närrisches«, rief jemand. »Ihr verderbt ja die ganzen schönen Eier. Rührei sollte man lieber draus machen!« Doch die Kinder ließen sich nicht beirren. »Was sollen wir mit diesen Eiern machen, Großväterchen?« fragte Asmik und zeigte auf den Korb mit den aussortierten Möwen- und Reihereiern. »Mit diesen hier? Das habe ich euch doch schon gesagt, ihr sollt sie beim Fischtrust abliefern.« »Sollten wir sie nicht lieber aufheben?« schlug Armjon vor. »Wir können damit vielleicht später unsere Küken füttern. Denen gibt man doch zuerst feingehackte gekochte Eier.« »Armjon ist klüger als wir alle«, gab Kamo neidlos zu. »Wir wollen die Eier aufheben! Etwas Besseres können wir gar nicht damit machen.« Auch der Großvater war mit dem Vorschlag einverstanden. Drei Wochen lang hegten und pflegten Asmik und ihre Freundinnen geduldig und liebevoll die brütenden Hennen. Armjon hatte Akkumulatoren besorgt und paßte auf, daß die Temperatur in den Brutöfen gleichmäßig blieb. Drei Wochen lang bewachte Großvater Assatur, einen langen Dolch im Gürtel und das Gewehr über der Schulter, den Kolchosstall. Jedesmal, wenn er Seto von weitem sah, drohte er: »Lungere du mir hier ja nicht herum wie ein Fuchs, sonst zieh' ich dir das Fell über die Ohren!« Auch der Alte war von der allgemeinen Ungeduld angesteckt worden. Alle Augenblicke ging er in den Stall und musterte die Reihe der Körbe mit den still dasitzenden Glucken, an denen nur die Augen Leben verrieten. Dann warf er einen neugierigen Blick durch die Glaswände der beiden Brutöfen. Einmal fragte er Armjon: »Sag mal, welcher Gelehrte hat sich eigentlich diese Dinger da ausgedacht?« »Die Brutöfen, Großväterchen? Sie wurden von Sowjetingenieuren hergestellt.« Der Großvater schien von dieser Auskunft befriedigt; er stellte sich wieder vor die Tür und ließ seine scharfen Augen über die Kolchosfelder schweifen. Er wollte feststellen, ob nicht irgendwo weidendes Vieh Schaden anrichten konnte. Da sah er, daß am Fuße des Berges, oberhalb des Dorfes, eine Staubwolke aufstieg, die sich rasch vergrößerte. Schirmend hielt der Greis die Hand über die Augen. Was bedeutet das? wunderte er sich. Warum treibt man die Schafe heute so früh nach Hause? Die Staubwolke kam immer näher. Sie hatte jedoch nichts mit heimkehrenden Schafen zu tun. Von Grikor angeführt, zerrten etwa ein Dutzend Schuljungen stachlige Schlehdornbüsche hinter sich her. Grikors große schwarze Augen leuchteten in seinem schweißnassen, staubbedeckten Gesicht. Als die Kinder im Dorf angekommen waren, machten sie sich gleich, ohne auszuruhen, an die Arbeit. Die einen fingen an, einen Graben auszuheben, die anderen steckten die Dornbüsche mit den Wurzeln hinein, schütteten Erde darauf und stampften sie fest. So entstand um den Stall herum bald eine dichte, undurchdringliche Hecke. Während diese Arbeit noch in vollem Gange war, kamen, gefolgt von Kamo, Bagrat und Aram Michailowitsch. Grade wollte der leicht erregbare Kolchosvorsitzende in den zornigen Ruf: ,Anarchie...' ausbrechen, da besann er sich eines Besseren. »Weißt du«, sagte er zu dem Lehrer, »bei denen hat alles Hand und Fuß. Anerkennen kann ich ihre Farm aber erst, wenn die Küken da sind.« »Und was soll bis dahin werden?« fragte Kamo besorgt. »Bis dahin gebe ich euch das Futter nur als Vorschuß heraus. Einverstanden? « »Und der Tagelohn für die Arbeiter?« wollte Kamo wissen, und der Schalk guckte ihm aus den Augen. »Was? Tagelohn?« schrie Bagrat, der auf den Spaß des Jungen hereingefallen war. »Bis ich die Küken nicht mit eigenen Augen gesehen habe, ist kein Gedanke an Tagelohn! « Im Kolchosstall Wann werden die Küken ausschlüpfen? Werden die Eier nicht kalt werden? Das waren die Fragen, die Asmik ständig beschäftigten und ungeduldig machten. Bis zum Mittag hielt Grikor, der erst nachmittags Unterricht hatte, für gewöhnlich beim Stall Wache und beaufsichtigte die Glucken. Nach Schluß des Vormittagsunterrichts wurde er so-fort von Asmik abgelöst, die direkt von der Schule zum Stall eilte. Sie blieb bis zum Abend und machte sogar ihre Schularbeiten dort. Es kam dann vor, daß ihre Mutter sehr ungehalten angelaufen kam, und sie schalt: »Was soll das heißen, Töchterchen? Du hast noch nicht zu Mittag gegessen und mußt doch sicher hungrig sein.« Als sie aber merkte, daß Asmik von den Brutöfen nicht fort wollte, kehrte sie wohl oder übel heim und holte das Essen für sie. Eines schönen Tages kam Großvater Assatur zum Stall. Er sagte den Kindern, jemand anderes müsse an seiner Stelle wachen, denn es sei Zeit, mit den Fischern zum Fischfang auf den Sewan-See hinauszufahren. »Was machen wir jetzt?« rief Asmik ganz entsetzt. »Wer soll denn abends nach den Glucken sehen, und wer soll in der Nacht bei ihnen bleiben? Kamo hat mit der Schule und mit dem Jugendverband genug zu tun, außerdem sein Dienst bei den Jungpionieren. Was fangen wir nur an?« »Deine Mutter wird uns helfen, ich werde mit ihr reden«, erbot sich Grikor. Aber als sie zu ihr kamen, hob Anaid abwehrend die Arme: »Wo denkt ihr hin, Kinder? Ich weiß ja so schon vor Arbeit weder ein noch aus. Ich habe im Kolchos genug zu tun... Bin ja auf meinen Tagelohn angewiesen...« Grikor gab sein Vorhaben nicht so leicht auf. »Tante Anaid, andere haben ihr Leben eingesetzt«, mahnte er. Tante Anaid nahm Grikors Einwand ernst. Er tat ihr weh, denn auch Asmiks Vater war an der Front gefallen. Das Lächeln, das bis dahin ihr anziehendes, gebräuntes Gesicht verschönt hatte, verschwand. Sie wurde ernst, und in ihren großen schwarzen Augen schimmerten Tränen. »Haben wir denn keine Opfer gebracht, Grikor? Warum sagst du mir so etwas?« wandte sie sich in vorwurfsvollem, aber warmem Ton an den Jungen. »Du weißt doch, daß wir beide, Asmik und ich, auf meinen Verdienst angewiesen sind . . . « In einem anderen Falle hätte Grikor sicher mit einem Scherz geantwortet, doch diesmal bekamen seine Augen einen ernsten, nachdenklichen Ausdruck. Es wurde ihm beklommen ums Herz. Er wandte sich um und ging schnell aus dem Zimmer. Anaid und Asmik sollten nicht sehen, daß auch seine Augen feucht geworden waren. Wer stiehlt die Eier? Am Abend fand sich Grikor im Stall ein. Er hatte sich eine alte Matratze zum Schlafen mitgebracht. »So«, erklärte er, »ich werde nachts hierbleiben, solange der Großvater fort ist.« In einer Ecke schüttete er Stroh auf, um sich ein Lager zurechtzumachen. »Vielleicht ist es gar nicht mehr nötig? Es ist ja nur noch kurze Zeit...« , meinte Asmik. »Doch!« erklärte Grikor bestimmt. »Du hast selber gejammert, weil Eier verschwunden sind. Wer stiehlt sie? Wir müssen das rauskriegen... Schau her, was ich mir für ein schönes Plätzchen zurechtgemacht habe«, fügte er mit zufriedenem Blick auf sein Lager hinzu. Asmik versuchte zu lächeln. Den ganzen Tag über war sie niedergeschlagen gewesen und hatte auch in der Schule nicht richtig aufgepaßt. Als die sonst so tapfere Mutter geweint hatte, war sie ganz erschrocken, es tat ihr weh. Grikor trat dicht an sie heran und griff nach ihrer Hand. Er sagte tröstend: »Asmik-dshan, liebes Schwesterlein, gräm dich nicht, mußt nicht traurig sein... Ich war gestern häßlich zu deiner Mutter... es tut mir leid... will's nicht wieder tun.. .« Asmik sah den Freund erstaunt und zärtlich an: Dabei haben wir ihn immer für so oberflächlich gehalten! dachte sie. »Ist ja schon gut, Grikor. . . « , begütigte sie. »Weißt du, ein Mensch kann die Eier nicht gestohlen haben«, fuhr sie nachdenklich fort. »Ein Dieb hätte sicher mehr genommen; es fehlten immer nur ein paar — mal eins, mal zwei. Ich hab's zuerst nicht mal gemerkt. Der Kasten mit den Eiern steht ja ruhig an der Wand und ist zugedeckt. Als ich zufällig mal den Deckel hochhob, kam es mir vor, als wären es weniger Eier geworden. Wer kann denn mit den Eiern etwas anfangen? hab' ich mir gedacht.« »Hast du nicht auch gedacht, außer Grikor gibt's im ganzen Dorf keinen, der solche Eier essen würde?« »Ja, wahrhaftig. Du hast recht. Du ekelst dich wirklich vor nichts; du hast ja auch am See welche gegessen, aber daß du sie stiehlst, glaube ich nicht... Als ich dann wieder nachsah, fehlten viele Eier. Du mußt sie alle durchzählen, dachte ich. Na und dann hab' ich sie gezählt. Weißt du noch, wie viele Eier wir als Futter für die Küken zurückgelassen hatten?« »Ja, einhundertunddreiundsechzig.« »So, einhundertunddreiundsechzig.«. .    . Ich habe nachgezählt, jetzt sind es aber nur noch einhunderteinundvierzig. Am meisten fehlen Möweneier. Wer stiehlt sie, was meinst du?« »Ich werde es schon noch rauskriegen, Asmik. Verlaß dich drauf. Ich schlafe ja wie ein Hase, mit offenen Augen.« In den nächsten Tagen erzählte Grikor den Kameraden so komische Geschichten, daß sie nicht wußten, ob sie wahr oder erfunden waren, denn Grikor dachte sich gern Märchen aus. Armjon und Asmik waren eines Tages noch vor Schulbeginn für einen Augenblick in den Stall gekommen, um nach ihren Schützlingen zu sehen. »Na, Grikor, wie hast du geschlafen?« fragte Kamo den Freund. »Mein Lager ist herrlich weich«, antwortete Grikor fröhlich, »aber in dieser Nacht habe ich nicht geschlafen. Eine der ,eisernen' Glucken hat die ganze Nacht über so gelärmt, daß mir ganz bange wurde. Wenn sie nur nicht krank ist ...« , und Grikor lächelte verschmitzt. »Sieh mal nach, Armjon, ob sie nicht erhöhte Temperatur hat... Dann belauschte ich das Gegacker der Glucken - und was höre ich da? ,Wir wollen', sagten sie, ,diese eisernen Hennen erwürgen! Wenn sie hundert Küken auf einmal ausbrüten, was bleibt uns Armen dann noch zu tun übrig? Wir werden zugrunde gehen... Man wird uns nicht mehr auf die Eier setzen, wird uns unser Mutterrecht rauben.' Ganz verzweifelt sind sie gewesen, die Ärmsten.« Die Kinder lachten. »Ja«, fuhr Grikor - nun bereits in ernstem Tone - fort, »werdet ihr's mir glauben, wenn ich euch sage, daß ich diese Nacht die Eierdiebe ertappt habe?« »Du hast die Diebe erwischt?« fragten die Kinder aufgeregt. »Wer ist es denn?« »Mäuse sind es.« »Unsinn!« rief Asmik. »Wie können Mäuse Eier stehlen? Ich würde dir ja schließlich noch glauben, daß eine Maus ein Ei angeknabbert und ausgetrunken hat. Wie soll aber eine Maus ein ganzes Ei wegschleppen?« »Es ist aber so - ein ganzes Ei! So wie es da ist, schleppen sie es in ihr Loch und machen dort Rührei für ihre Jungen draus. Es sind ja Mütter, auch sie haben ein weiches Mutter-herz... Hört zu: Seht euch mal den Kasten an, sie haben an der Rückwand ein Loch durchgenagt. Durch dieses Loch holen sie sich die Eier. In der Nacht hörte ich etwas rascheln. Ich wurde hellwach und horchte. Vor dem Kasten mit den Eiern hüpften Mäuse umher. Ich konnte im Mondlicht, das durch die Ritzen dringt, alles sehr deutlich sehen. Die Mäuse führten um die Eierkiste wahre Tänze auf. Ich war ganz erschrocken. Nun hört weiter. Stellt euch vor, rollten doch die Mäuse ein Ei fort! Dann legte sich eine von ihnen auf den Rücken und streckte die Beinchen in die Luft, die andern stupsten das Ei mit dem Kopf und mit den Pfötchen weiter... Auf diese Weise haben sie es dem auf dem Rücken liegenden Mäuschen auf den Bauch gekullert. Das Mäuschen umklammerte es mit seinen Krällchen und drückte es mit seinem langen Schwänzchen noch fester an sich; es sah genauso aus, als hätte sich ein Mensch auf den Rücken gelegt und ein kleines Faß auf die Brust genommen. .. « Die Kinder staunten: »Das ist ein Märchen. Das hast du dir ausgedacht, Grikor! « »Ihr seid komisch«, rief Grikor entrüstet. »Sagt man euch die Wahrheit, glaubt ihr es nicht, lügt man euch was vor, glaubt ihr es auch nicht!« Grikor schien beleidigt. »Ich kann es ja lassen«, sagte er, »ich werde euch nichts mehr erzählen, wenn ihr mir doch nicht traut... « »Nein, nein, Grikor, erzähle weiter!« rief Asmik. »Aber komisch ist es, das mußt du doch zugeben.« »Ich würde es auch nicht glauben«, gestand Grikor, »wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.. . « »Und was geschah weiter?« Die Kinder sahen den Freund neugierig an. »Weiter? Na, hört zu. Die übrigen Mäuse spannten sich vor die Lastmaus, die das Ei hielt, klammerten sich an ihren Ohren fest, umfaßten ihren Kopf und zogen sie wie einen Schlitten samt dem Ei hinter sich her... Gewiß, die Maus wird dabei nichts zu lachen gehabt haben. — Aber was sollen die Armen tun? Sie müssen doch an die Kinderchen denken! Und so wurde das Ei für die Mäusekinder auf dem Bäuchlein der Mutter ins Nest gebracht... Ich war schon drauf und dran, aufzuspringen und die frechen Eierdiebe zu verscheuchen, ließ es aber doch bleiben. Sollen sie, sagte ich mir, sollen es sich die Mäusekinder gut schmecken lassen! Und ich stellte mich schlafend, um sie nicht zu stören. . .« Die Kinder lachten über Grikors Erzählung, wurden aber bis zuletzt nicht klug daraus: Hatte er dies alles erfunden, oder stehlen die Mäuse tatsächlich auf so geschickte Weise die kostbaren Eier? Aufregungen Morgen schlüpfen die Küken des Wasserhuhns aus«, verbündete Kamo. »Morgen ist der einundzwanzigste Tag.« »Vielleicht ist nichts draus geworden«, zweifelte Armjon nachdenklich. »Sicher ist es bei ihnen anders als bei unseren zahmen Hühnern.« »Wieso soll es anders sein?« wollte Kamo wissen. »Asmik, hast du schon mal die Eier eines Wasserhuhns ausbrüten lassen?« »Nein«, Asmik schüttelte den Kopf. »Wißt ihr, wodurch sie sich unterscheiden?« wiederholte Armjon seine Zweifel. »Ich will's euch sagen:    Die Wasserhühner gehören nach der in der Wissenschaft bekannten Einordnung der Vögel zur fünften Klasse, zur Familie der Kranichvögel.« »Oho, du gelehrtes Haus! Du bist ja ein richtiger Vogelzüchter geworden«, lachte Kamo. »Versteht sich, wenn man eine Vogelfarm gründen will. Ich hab' mir die Bücher geholt, in denen darüber geschrieben ist... Ich weiß nicht, wann die Küken des Wasserhuhns ausschlüpfen. Selbst in ,Brehms Tierleben' steht nichts davon.« Die folgende Nacht verbrachten die Kinder in großer Aufregung. Kamo konnte gar nicht einschlafen. Mitten in der Nacht zog er sich an und ging zum Stall. Grikor schlief auch noch nicht. »Na, ist es schon soweit?« fragte Kamo. »Nein, ich habe eben erst nachgesehen.« Am nächsten Morgen waren Asmik, Kamo und Armjon schon in aller Frühe im Stall. Noch hatte sich in keinem Ei etwas gerührt! Aber Grikor steckte wieder voller Geschichten. »In der Nacht hab' ich wieder zugehört, wie die Hühner sich unterhalten haben. Sie lockten zärtlich ihre Küken: ,Heraus mit euch, ihr Küchlein, der einundzwanzigste Tag ist gekommen. Es ist Zeit, macht, daß ihr aus den Eiern kommt. ' Und aus den Eiern piepste es: ,Wer seid ihr denn? Wir kennen die Stimmen unserer Mütter, eure Stimmen klingen fremd.'« Den Kindern war aber nicht zum Scherzen zumute. »Kannst du nie ernst sein«, tadelte Kamo. »Wie können wir nur rauskriegen, am wievielten Tag die Küken des Wasserhuhns ausschlüpfen?« Die Kinder beratschlagten und beschlossen, den Bezirksagronomen telefonisch zu befragen. Er wunderte sich zwar ein wenig, riet ihnen aber, den Vogelzüchter des Bezirks anzurufen — aber auch der wußte es nicht. So verbrachten die Kinder einen weiteren Tag in großer Aufregung In den Eiern aber rührte sich noch immer nichts. Dabei verging auch Grikor das Spaßmachen. »Ich hab' euch ja gleich gesagt«, warf er den Kameraden vor, »daß nichts als Rührei bei der Brüterei rauskommen wird! Wir hätten die Eier kochen und aufessen sollen. So sind sie für nichts und wieder nichts verdorben.« Grikor nahm eines der Eier in die Hand, hielt es ans Ohr und schüttelte es. »Du machst ja das Küken kaputt!« schrie Asmik entsetzt. »Man darf nicht so stark schütteln. Gib es mir!« Asmik nahm Grikor das Ei weg und hielt es gegen das Licht. »Seht mal, es ist ein Küken drin... Ganz deutlich ist es zu sehen!« »Horch doch mal, ob es atmet, ob das Herz schlägt«, riet Grikor. »Legt das Ei schnell wieder zurück, sonst kühlt es ab! « warnte Armjon. Nochmals brach eine unruhige Nacht für die Kinder an, sie schien kein Ende zu nehmen. Beim ersten Morgengrauen war die ganze Gesellschaft schon im Stall versammelt. Behutsam wurden die Glucken hochgehoben und die Eier betrachtet, und auch die in den Brutöfen wurden genau untersucht. Noch immer hatte kein einziges Küken die schützende Hülle durchstoßen. Und es war schon der dreiundzwanzigste Tag... Die Kinder waren so bekümmert und so enttäuscht, daß sie in der Schule kaum etwas von dem begriffen, was der Lehrer sagte. Warum bleiben nur die Küken so lange aus? — war während des ganzen Unterrichts ihr einziger Gedanke. Am Nachmittag liefen sie gleich zum Stall, Asmiks Mutter und Grikor waren schon dort. Grikor hatte ein Messer in der Hand und mühte sich, einen großen Holzklotz auszuhöhlen. Er mußte in die Schule und beeilte sich, mit seiner Arbeit fertig zu werden. »Was machst du denn da?« erkundigte sich Kamo, aber ohne eine Antwort abzuwarten, stellte er bereits die nächste Frage: »Sind die Küken ausgeschlüpft?« »Was ich hier mache? Einen Wasserbehälter für die Küken — eine Badewanne! Ihr fragt immer dasselbe: ,Sind die Küken noch nicht da? — Sind sie noch nicht ausgeschlüpft?' Was seid ihr so ungeduldig? Sie werden schon kommen. Sie haben es nicht so eilig, sie warten, bis ich mit ihrer Badewanne fertig bin, sie wollen doch sicher gleich ins Wasser.« »Es können doch nicht alle Eier verdorben sein«, jammerte Kamo ganz niedergeschlagen. Er war der aufgeregteste und ungeduldigste von allen Asmiks Mutter, die mit einer Handarbeit auf einem Stuhl neben einem der Brutöfen saß, versuchte die Kinder zu beruhigen. »Wenn man sagt, daß eine Glucke einundzwanzig Tage auf den Eiern sitzt, so bedeutet das nicht, daß sich die Küken auf den Tag genau einstellen müssen. Ich habe einmal Eier von Rassehühnern vom Sowjetgut mitgebracht, aus denen sind die Küken erst nach dreiundzwanzig Tagen geschlüpft. Der Geflügelzüchter hatte mir gesagt, daß es bei Rassehühnern länger dauert als bei den gewöhnlichen Sorten.« »Und sind die Wasserhühner etwa keine Rassehühner?« mischte sich Grikor ein. »Ich schwöre es bei ihren kahlen Köpfen, es sind Rassehühner!« »Vielleicht sitzen die Glucken nicht richtig und die Eier sind kalt geworden?« sorgte sich Asmik. »Vielleicht ist die Temperatur in den Brutöfen falsch?« »Das kommt auch manchmal vor«, bestätigte Anaid. »Wenn die Glucke oft aufsteht, um zu fressen, können die Eier kalt werden. « »Wir füttern sie sicher zu oft — daran kann es liegen«, rief Asmik erregt. »Natürlich sind die Eier kalt geworden, und alle Küken sind tot!« »Laß gut sein, Asmik«, tröstete Armjon. »In dem Buch über Geflügelzucht, das ich gelesen habe, heißt es, daß selbst, wenn die Glucke das Nest oft verläßt und die Eier ein bißchen abkühlen, die Küken dabei nicht gleich umkommen: aber ihre Entwicklung verzögert sich. In dem Buch wird auch gesagt, daß zu große Wärme schädlich ist.« »Ja, natürlich, bei zweiundvierzig Grad Wärme gerinnt das Eiweiß«, brachte Kamo sein Wissen an. »Wir haben doch die Temperatur in den Brutöfen nicht zu stark hochgetrieben?« »Nein, sie hat neununddreißig Grad nie überstiegen, dafür bürge ich«, erwiderte Armjon. »Ihr macht euch ja ganz verrückt«, unterbrach sie Grikor und hielt im Schnitzen inne. »Glaubt mir, die Küken horchen der-weilen in ihren Schalen auf mein Klopfen und flüstern sich zu: ,Unsere Badewanne ist noch nicht fertig, warum sollen wir uns beeilen?« »,Ja, wirklich«, besann sich Kamo, »worin sollen unsere Küken in den ersten Tagen baden? Auf — nach Hause! Jeder soll das herbringen, was er entbehren kann: Tröge, Schalen, Schüsseln.« »Recht so, Kamo!« pflichtete ihm Anaid bei. »Sobald die jungen Entlein und Gänslein aus dem Ei kriechen, drängen sie gleich zum Wasser. Holt also Gefäße herbei.« In Kürze waren im Stall eine Unzahl Futtertröge, Schalen, verbeulte Schüsseln und Wannen aufgestellt und mit Wasser gefüllt. Auch Grikor hatte inzwischen seine Badewanne fertiggeschnitzt. »So, jetzt können sie ausschlüpfen«, erklärte er befriedigt. »Bitte schön, meine Lieben, ihr seid herzlich willkommen!« Was Grikor berichtete Grikor war, wie immer, vom frühen Morgen an im Stall gewesen. Mitten im Unterricht wurde die Aufmerksamkeit der Schüler plötzlich von einem Jungen abgelenkt, der sich im Schulhof herumdrückte und geheimnisvolle Zeichen machte. Kamo, der seinen Platz in der Nähe des Fensters hatte, sah hinaus und erkannte Grikor. Als dieser Kamo sah, hielt er die Hände hoch und zeigte acht Finger. Dabei strahlte er über das ganze Gesicht. Er hüpfte und tanzte auf seinem gesunden Bein, wölbte eine Hand und schmiegte sie so zärtlich an die Wange, als halte er darin etwas sehr Zerbrechliches. Kamo hatte sofort begriffen. Er war so aufgeregt, daß er Armjon die Neuigkeit am liebsten gleich zugerufen hätte. Als er aber einen strengen Blick des Lehrers auffing, blieb er ruhig und verlegen auf seinem Platz sitzen. In der Pause liefen Kamo und Armjon hinunter, um Asmik die frohe Botschaft zu bringen. Beim Anblick ihrer strahlenden Gesichter schrie Asmik auf: »Sind sie ausgeschlüpft?« »Und wie viele! Acht Stück!« Ohne langes Reden war es den Kindern klar, daß sie unmöglich auch nur einen Augenblick länger in der Schule bleiben konnten. Sie erbaten sich von Aram Michailowitsch die Erlaubnis, fortzugehen, und stürmten, ohne das Ende des Unterrichts abzuwarten, zum Stall. Grikor kam ihnen schon entgegen. »Die Küken, die Küken!« schrie er. »In ganzen Regimentern schlüpfen sie aus! « »Wo sind sie?... Heb doch mal eine Glucke auf! Zeig doch mal!... Laß mich ans Guckloch! Ach, wie süß sie aussehen! — Gib mir mal eins!. . . « Die Kinder umdrängten die Brutöfen. Sie schrien und lachten durcheinander. Vorsichtig nahm Asmik ein winziges, in aschen-farbenen Flaum gehülltes Küken mit niedlichem gelbem Schnäbelchen und dunkelgrauen, bleifarbenen Füßchen in die Hand. Sie drückte das Küken behutsam an ihre Wange und erwärmte es mit ihrem Atem. Dann standen die Kinder etwas ratlos herum; sie wußten nicht, was nun zuerst geschehen mußte. Inzwischen hatten sich auch andere Kinder und Frauen am Stalleingang eingefunden. »Sind wirklich Küken ausgeschlüpft?« fragte eine der Frauen mißtrauisch. »Von den Eiern unter den Glucken oder denen in der Blechbüchse?« wollte eine andere wissen. »Laßt mal sehen!« »Nein, nein!« wehrte Asmik ab. »Die Tiere bekommen Angst, das geht nicht. « Großvater Assatur, der eben erst vom Sewan-See zurückgekehrt war, drängte sich durch die Wartenden und trat in den Stall. Asmik öffnete gerade den einen Brutofen. In dem weich ausgepolsterten, erwärmten Kasten wimmelte es von Dutzenden winziger dunkelgrauer Küken. »Was sind das für welche, Töchterchen?« fragte der Alte ganz aufgeregt. »Das sind kleine Wasserhühnchen, Großväterchen«, antwortete Asmik, die ihre Freude kaum bezähmen konnte. »Schau doch, wie viele Eier noch geplatzt sind, eins nach dem andern schlüpft aus.« »Was muß denn jetzt geschehen?« fragte der Großvater. »Sie müssen gefüttert werden.« »Kocht die Möweneier«, schlug Armjon vor. »Gleich, gleich«, sagte Asmik. »Aber es sind nicht genug, sie reichen doch nicht für die vielen Küken.« »Sorge dich nicht, Kindchen«, beruhigte sie der Großvater. »Ich werde schon was ausfindig machen.« Nachdem er seinen langen Bart zusammengerollt und ihn sorgfältig in den Archaluk[4 - Archaluk = kurzer gesteppter Rock.] gesteckt hatte, eilte der Großvater zur Kolchosverwaltung: »Bagrat, mein Bester, gib uns Eier aus dem Lager, so an die hundert — die Küken sind ausgeschlüpft, wollen fressen.« »Leicht gesagt«, brummte Bagrat, »hundert Eier! Soll ich sie vielleicht dem Kindergarten wegnehmen, soll ich den Kindern die Eier entziehen? Nur um eure Küken zu füttern, damit sie satt werden, wachsen und davonfliegen?« Der Alte ärgerte sich. Er wurde energisch: »Ich sage dir noch einmal, sofort, noch in dieser Minute rückst du die Eier heraus! Nein, was seid ihr doch für hartherzige Menschen! Die Kinder finden schon seit einem Monat keinen Schlaf mehr, und ihr stellt euch wegen der paar Eier an! Schreibe, schreibe, sofort, sonst, das schwöre ich dir, ziehe ich meinen Dolch!« drohte der Großvater, natürlich im Scherz. »Nanu? Hier geht es ja hart auf hart«, bemerkte Aram Michailowitsch, der in diesem Augenblick eintrat. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Auch Bagrat lachte. »Ach ja«, rief er, »da hat sich unser Alter mit den Kindern eingelassen, und nun will er mich erdolchen, wenn ich keine Eier für die Küken rausrücke. Ich bin ja gar nicht so, aber erst muß ich sie mit eigenen Augen sehen. Alles muß seine Ordnung haben...« »Ein ganzer Stall voll Küken ist es«, polterte der Großvater. »Gut, wir wollen sie uns ansehen! « Asmik kam ihnen aus dem Stall entgegengelaufen. »Nun, Onkel Bagrat, wann wird unsere Farm anerkannt?« Bagrats meist so grimmiges Gesicht wurde weich. Jedesmal wenn er diesem kleinen Mädchen begegnete, erhellte sich seine finstere Miene. Asmiks Vater, Owanes, war ein treuherziger, ehrlicher Mensch gewesen. Er hatte Seite an Seite mit Bagrat gegen die Faschisten gekämpft, sie hatten aus demselben Napf gegessen, und Owanes hatte Bagrat damals im Nahkampf das Leben gerettet. — Owanes war in Bagrats Armen gestorben. Er war in der Schlacht an der Oder für die Sowjetheimat gefallen. Schweigend strich Bagrat über das seidige, kastanienbraune Haar des Mädchens, und es wurde ihm wie immer beklommen ums Herz. Als er in den Stall trat, erblickte er die Küken und lächelte. »Die Stimmung bessert sich«, blinzelte Grikor den Kameraden zu. »Sie sind also tatsächlich ausgeschlüpft«, rief Bagrat. »Jetzt ist es eine andere Sache, jetzt kann der Rechnungsführer meinet-wegen euer Unternehmen registrieren.« Er zog einen Notizblock aus der Tasche, schrieb einen Zettel aus und reichte ihn Grikor, der sogleich damit zum Lager lief. »Dein Glück, Bagrat, jetzt hast du dein Leben gerettet«, lachte Großvater Assatur. »Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, als die Geflügelfarm deiner Schüler zu unterstützen«, meinte der Kolchosvorsitzende. Aram Michailowitsch lächelte befriedigt. Der Lagerverwalter murrte, als er die Eier ausliefern mußte. Er glaubte nicht recht an den Erfolg des seltsamen Unternehmens. Die ganze Sache erschien ihm recht zweifelhaft. Indessen pickten die Küken mit ihren winzigen Schnäbeln das feingehackte Ei auf. Großvater Assatur sah ihnen zu und strich zufrieden über seinen langen Bart. Er schien um zwanzig Jahre jünger geworden zu sein. »Und wann werden die Gänseküken ausschlüpfen, Töchterchen?« fragte er. »Bald, bald, Großväterchen... Dort im Brutofen sind die Eier.« »Und die Enten?« fragte der Alte. Er war jetzt beinahe ebenso ungeduldig wie die Kinder. »Die Krickenten werden, wenn nicht morgen, dann übermorgen ausschlüpfen. In diesem Brutofen liegen außerdem noch die Eier von der Marmorente.« In den nächsten Tagen schlüpften dann auch wirklich die Entenküken aus. Sie erfüllten den Stall mit lautem Gepiepse. So winzig sie auch waren, sie eilten, sobald sie das Wasser erblickten, auf die Tröge zu, schwammen in Scharen darin herum, tauchten und suchten im Wasser nach Futter. Sie wurden mit Quark und hartgekochten, feingewiegten Eiern gefüttert. Eines Tages blieb Asmik, als sie in den Stall kam, verwundert stehen. In einer Ecke war im Stroh ein kleiner Berg Eier aufgehäuft. Daneben hockte Grikor und zählte sie. »Woher sind die?« fragte Asmik. »Weißt du noch, wie die Mäuse sich bei uns Eier gestohlen haben? Jetzt haben sie sie zurückgebracht. Aus Hochachtung vor mir natürlich. Euch hätten sie sie bestimmt nicht wiedergegeben«, sagte der Junge und lachte verschmitzt. »Grikor, sage die Wahrheit. Woher hast du die Eier?« »Ich sage es dir doch: Die Mäuse haben sich geschämt, weil sie gestohlen haben, und haben uns nun die Eier zurückgebracht.« Es war nicht möglich, aus Grikor etwas Vernünftiges herauszukriegen; er sagte nicht, woher er die Eier hatte. Sollte er sie wirklich den Mäusen wieder abgejagt haben? »Zähle sie nach, Asmik. Ich glaube, sie haben ebenso viele wiedergebracht, wie sie fortgeschleppt hatten. Drei Stück habe ich ihnen aber für ihre Kinderchen dagelassen. Sie mußten für ihre Anständigkeit belohnt werden«, meinte Grikor. »Sie haben also kein einziges aufgefressen?« staunte Kamo. »Stell dir vor, nicht ein einziges. Sie haben aber auch noch keine Jungen. Sie wollten für die kommende Hecke Futter haben. Sind das nicht vorsorgliche Eltern? Und dabei ekelt ihr euch vor Mäusen. Ich würde ihnen am liebsten die Schnäuzchen küssen, weil sie so ehrlich und brav waren und das Gestohlene wiedergebracht haben. « »Pfui, Grikor, erzähle keine solchen Räubergeschichten. Paß auf, die Mäuse werden sich rächen, weil du ihnen ihren Raub weggenommen hast. Nachts werden sie kommen und dich beißen«, ging Asmik auf Grikors Spaß ein. Aber Grikor erklärte energisch: »Das können sie nicht, denn ich schlafe nicht mehr hier.« »0 Grikor, jetzt kommen doch die Gänseküken raus. Ein, zwei Nächte mußt du noch hier schlafen«, bat Kamo. »Wenn der Sekretär des Jugendverbandes befiehlt, muß ich wohl gehorchen, dagegen ist nichts zu machen!« sagte Grikor, und er strahlte, weil er mit seinen Späßen wieder Erfolg gehabt hatte. Ein heißer Tag Der achtundzwanzigste Tag war angebrochen. In dem Augenblick, als das erste Gänschen sich im Ei rührte und mit seinem gelben, schon kräftigen Schnäbelchen die Schale durchstieß, sprang Armjon, der neben dem Brutkasten saß und seinen Blick nicht vom Thermometer wandte, plötzlich bestürzt von seinem Platze auf. »Asmik, die Temperatur sinkt!« rief er, atemlos vor Erregung. »Was denn? In beiden Brutöfen?« »Nein, nur in diesem hier.« »Wie kommt das?« »Der Akkumulator muß aufgebraucht sein.« »Was machen wir nun?« »Wenn die Eier nicht kalt werden sollen, müssen wir schleunigst einen neuen Akkumulator besorgen.« Armjon stürmte hinaus, um Kamo um Hilfe zu rufen. Kamo kam sofort. Er und Armjon machten sich auf die Suche nach Großvater Assatur und Grikor und erzählten ihnen, was passiert war. Gemeinsam überlegten sie, konnten aber keinen Ausweg finden. Indessen hatten Seto und sein Bruder Arto gemerkt, daß keiner der Jungen im Stall war. Nur Asmik war zurückgeblieben. Diese Gelegenheit mußte ausgenutzt werden. Der kleine Arto hatte Bogen und Pfeile bei sich. »Gib her, ich werde mal zwei — drei Pfeile durch das Loch da in der Tür schießen!« schlug Seto vor. »Ein gutes Dutzend Eier wird dabei kaputtgehen. Asmik soll sich tüchtig ärgern!« Arto zögerte. »Ist es nicht schade«, fragte er, »in den Eiern sind doch Küken? « »Schade? Habe ich dir nicht leid getan, als sie alle über mich hergefallen sind? Aber deinen Bruder rächen, das willst du nicht!...« Seto schlich sich dicht an die Stalltür heran, spannte den Bogen und schoß durch ein ziemlich großes Loch in der Tür ein paar Pfeile ab. Tränenüberströmt stürzte Asmik aus dem Stall. Aber von den Lausbuben war nichts mehr zu sehen und zu hören. Als Kamo und Armjon zurückkehrten, erzählte ihnen Asmik, noch immer schluchzend, was die beiden Jungen angerichtet hatten. »Könnt ihr diese elenden Halunken nicht durchprügeln? Seht nur, was sie gemacht haben! Eine Glucke ist verletzt, und mehrere Gänseeier sind zerbrochen.« »Wir müssen uns beim Dorfsowjet beklagen«, schlug Grikor vor. »Mit solchen Taugenichtsen muß man allein fertig werden«, erklärte Großvater Assatur. »Sich beklagen, ist eines richtigen Mannes unwürdig. « Armjon schüttelte nur nachdenklich den Kopf: »Man muß versuchen, sie zu bessern, Großvater, mit Gewalt erreicht man gar nichts.« Kamo war nicht Armjons Ansicht. »Beeinflussen, solche Schurken? Durch Milde vielleicht?« »Ja, man muß sie dazu bringen, daß sie ihr Unrecht einsehen, Armjon hat recht«, stimmte Asmik zu. »Meiner Ansicht nach ist Seto allein schuld; er ist einfach verärgert, ist neidisch auf uns und unsere Erfolge. Vielleicht wäre er aber bereit, sich mit uns auszusöhnen und zu befreunden, wenn man mit ihm spräche.« »Ach, Armjon, es wäre schön, wenn du recht hättest.« Kamo schüttelte zweifelnd den Kopf. Dann gingen sie in den Stall. Ihr erster Blick galt dem Thermometer. »Es ist weiter gesunken«, sagte Grikor. Asmik war den Tränen nahe, bemühte sich aber, nicht zu weinen, als sie Kamos bekümmertes Gesicht sah. »Wie ist das nur passiert? Du hast doch ausgerechnet, daß die Energie des Akkus ausreichen würde?« wandte sich Kamo an Armjon. Seine Stimme klang etwas vorwurfsvoll. »Ich muß mich eben geirrt haben.« »Wird eigentlich viel Energie verbraucht, wenn man den Akku für ein Auto nimmt?« wollte Grikor wissen. Ihm schien etwas einzufallen. » Selbstverständlich! « »Da haben wir's!« rief Grikor. »Daß ich nicht gleich daran gedacht habe! Die Batterie, die du letztes Mal gebracht hast, Armjon, hatte der Lagerverwalter vorher bereits dem Fahrer gegeben.« »Na, wenn es so ist.« Kamo sprang aufgeregt hoch. »Wie kam denn das?« »Na, ganz einfach. Der Fahrer bat um eine Batterie. Der Lagerverwalter lehnte erst ab. Da schimpfte der Fahrer: ,Die ganze Sache wird in die Brüche gehen, wenn das Auto nicht in Gang kommt!' und was weiß ich... Da hat der Verwalter eben nachgegeben. ,Nimm sie', sagte er, ,aber bring sie schnell wieder. ' « »Und dann beschuldigst du Armjon, daß er falsch gerechnet hat!« sagte Asmik. Kamo schlug dem Freund auf die Schulter und lachte: »Er ist doch so gelehrt, wie kann er sich bei einer Berechnung irren?« Aber Grikor trat auch für Armjon ein. »Er hat es ja gar nicht falsch berechnet. Wenn doch der Akku schon halb leer war.. . .« Nun fing Kamo an zu schimpfen: »Warum hast du uns das mit dem Auto nicht früher gesagt, Grikor?« »Genug mit der Streiterei«, rief Armjon. »Wir müssen nur schnell einen Ausweg finden. Wenn ein Kolchosauto da wäre, könnten wir einfach die Batterie ausbauen.« »Laßt den Kopf nicht hängen! Wir holen uns aus der Stadt eine Batterie«, versuchte Kamo, dem seine Heftigkeit schon leid tat, den Freund zu beruhigen. »Aus der Stadt? Bis ihr hinkommt, bis ihr eine Batterie aufgetrieben habt und wieder zurück seid, sind die Eier längst kalt geworden... Seht mal, das Küken, das da eben ausschlüpfen will, wird bald verenden.« Asmik fuhr auf: »Wie kannst du das sagen?« Sie konnte kaum ihre Tränen zurückhalten. »Ich lasse kein einziges Küken verenden! Beeilt euch doch, und wenn ich es an mir wärmen müßte; findet doch schnell einen Ausweg.« Sie nahm das Ei und versuchte, das Küken mit ihrem Atem zu erwärmen. »Großväterchen«, wandte sich Kamo an den Alten, »wir haben dich gefragt, und du hast noch nichts geantwortet. Weißt du denn gar keinen Rat, wie man die Gänseküken retten kann?« »Nicht alles kann man in Büchern finden, und auch des Großvaters Erfahrung kann nicht immer helfen«, meinte der. Alte in seiner schwerfälligen Art. »Ich weiß besser mit der Bärenjagd Bescheid. Eier und Küken — das ist Weibersache. Kommt mit zu meiner Alten, wir wollen sie fragen. Sie hat in ihrem Leben schon viele Glucken gesetzt.« Die Kinder wurden von Großmutter Nargis freundlich empfangen. Als sie gehört hatte, um was es ging, fragte sie: »In wieviel Tagen sollen die Gössel ausschlüpfen?« »In einem Tag, Großmutter.« »Also morgen?« Doch bevor sie den Kindern ihre Frage beantwortete, breitete die Alte, wie es bei dem gastfreien alten Jäger Sitte war, eine Decke über den Tisch und trug alles, was sich im Hause fand, auf. »Großmütterchen, uns ist jetzt gar nicht nach Essen zumute«, flehten die Kinder. »Es würde uns in der Kehle steckenbleiben. Hilf uns lieber und sage uns, wie man die Küken retten kann.« »Greift erst zu, Kinderchen, greift zu! Das mit den Küken werdet ihr gleich hören. Auch dafür gibt es Rat, seid nur nicht bange«, sagte die Alte gelassen, indem sie den Kindern den Teller mit Käse zuschob. »Greif zu, mein Kleiner«, wiederholte sie und streichelte Kamos Kopf. »Du hast über all den Küken lange keine Zeit für deine Großmutter übrig gehabt.« »Ich mag jetzt nicht essen, Großmütterchen. Sage mir doch, wie man die Küken rettet«, wiederholte Kamo ungeduldig. Die Alte lächelte. Ein feines Netz von Runzeln bedeckte ihr gütiges, kleines Gesicht. »Nun«, sagte sie, »es gibt da ein Mittel. Wenn man die Eier eine Weile an der Brust oder in der Achselhöhle trägt, kann man sie zu Ende ausbrüten. Es kommt doch manchmal vor, daß die Glucke ein paar Küken ausbrütet, vom Nest geht und sie herumführt, und die übrigen Eier werden kalt — sie will einfach nicht weiterbrüten. Ich habe solche Eier schon oft an meiner Brust oder in der Achselhöhle fertig ausgebrütet.« »Was sagst du dazu, Armjon?« fragte Kamo. »Du hast doch die Weisheit mit Löffeln gegessen.« Armjon lachte gutmütig. »Das ist mit der Wissenschaft ganz gut zu erklären«, sagte er. »Zum Ausbrüten der Küken ist eine gleichmäßige Temperatur nötig, nichts weiter. Es heißt aber in den Büchern, daß die Temperatur neununddreißig Grad erreichen muß, während die normale Temperatur beim gesunden Menschen siebenunddreißig Grad nicht übersteigt. Wie ist es nun damit, Großmütterchen? « »Von euren Temperaturen verstehe ich nichts, mein Lieber«, antwortete die Alte gleichmütig. »Am letzten Tag ist das Küken schon ein fertiger Vogel, es muß Wärme haben, es muß aus dem Ei, es muß Luft haben, muß laufen, fressen ... Die Wärme des Menschen genügt ihm. Ich weiß das, die Küken werden auf diese Weise bestimmt ausschlüpfen und quicklebendig sein.« »Richtig, richtig! Das stimmt!« pflichtete Armjon der Großmutter bei. Und der sonst so ruhige Junge sprang aufgeregt von seinem Sitz auf. »So machen wir's auch. Asmik, ruf schnell die Schulkinder zusammen!« befahl Kamo. Als die Schulkinder sahen, wie betrübt Kamo und seine Kameraden waren, merkten sie, daß etwas Schlimmes geschehen sein mußte. Daß sogar der immer zu Späßen aufgelegte Grikor ein finsteres Gesicht machte, war ein besonders schlechtes Zeichen. »Was ist passiert?« fragten sie aufgeregt. Kamo erzählte kurz, was geschehen war. »Um das Leben der Küken zu retten«, sagte er ernst, »muß jeder von euch ein paar Stunden lang ein Ei in der Achselhöhle tragen. « Zuerst verstanden die Kinder gar nicht, was Kamo meinte; sie glaubten, es handle sich um einen Scherz. »Was erzählst du da? Wir sind doch keine Hennen«, rief ein kleines Mädchen und wollte sich vor Lachen ausschütten. Die andern lachten schallend mit. Aber nun mischte sich Asmik aufgeregt in das Gespräch: »Wenn wir uns nicht beeilen, ist alles umsonst, und unsere kleinen, hilflosen Küken müssen sterben. Ach bitte, kommt doch zum Stall und tut, was Kamo sagt.« Sie war so aufgeregt, daß die anderen Kinder davon angesteckt wurden. »Worauf warten wir denn noch?« rief eine helle Stimme. »Kommt, wir wollen die Küken retten!« Und die ganze kleine Gesellschaft stürmte zum Kolchosstall. »Ihr müßt aber sehr vorsichtig sein und die Eier ja nicht zerdrücken, wenn ihr sie in der Achsel haltet«, mahnte Asmik. »Und wenn es ein bißchen länger dauert, dürft ihr nicht ungeduldig werden — die Küken lassen sich manchmal Zeit. Am besten, hat Großmutter Nargis gesagt, ihr nehmt sie mit ins Bett.« »Wehe, wenn einer eines zerdrückt!« drohte Grikor mit gerunzelter Stirn. »Mit dieser Geschichte haben wir uns vor dem ganzen Dorf blamiert! « brummte Großvater Assatur. Aber auch er steckte ein paar Eier in seine wattierte Jacke und brachte sie seiner Alten. »Nimm sie, Nargis, nimm sie!« sagte er. »Da ist nichts zu machen. Hat man einen Fehler begangen, muß er wiedergutgemacht werden... Du solltest aber zu den Kindern gehen und ihnen zeigen, wie das mit den Eiern gemacht werden muß, sonst ersticken die Küken am Ende noch alle. . . « Asmik schlief die ganze Nacht nicht und ließ auch der Mutter keine Ruhe. »Mami, es pickt wieder! Aber warum kommt es nicht raus?« Immer wieder weckte sie die Mutter. Um selbst nicht einzuschlafen und etwa das Küken im Schlaf zu erdrücken, versuchte Asmik zu lesen, doch das Buch entglitt ihr und fiel auf den Boden. Erschreckt sprang sie auf. Ihr erster Gedanke war das Küken, wenn sie es nur nicht zerdrückt hatte! Gleichsam als Antwort auf die Sorge des Mädchens, begann sich in der Achselhöhle etwas zu regen. Asmik griff behutsam an die Stelle; sie hielt die zerbrochenen Eierschalen in der Hand und förderte ein winziges, mit nassem Flaum bedecktes Geschöpf zutage. Asmik hätte vor Glück beinahe losgeheult. »Wie allerliebst, wie niedlich!« rief sie entzückt aus und streichelte das hilflose Küken, das auf ihrer Handfläche saß. »Was hast du, Töchterchen? Ist es ausgeschlüpft?« rief Asmiks Mutter, die wach geworden war und zu ihr kam, um sich das Gänseküken anzusehen. »Sieh nur, Mami, sieh nur! Es ist noch ganz feucht... Gibt man ihm wohl gleich zu fressen? Ach, es wird noch erfrieren!« Asmik wickelte das Gänschen behutsam in weiche Wolle und legte es in ein kleines Körbchen. Das Körbchen aber stellte sie zur Vorsicht neben sich ins Bett, damit es etwas von ihrer Körperwärme abbekommen sollte. Eine ganz große Freude Das, was Asmik erlebt hatte, geschah in dieser Nacht auch in vielen anderen Häusern des Dorfes Litschk. In den Achselhöhlen der Kinder regten sich die Küken; das leise Knac ken der aufplatzenden Eierschalen und ein schwaches Piepen waren zu hören. Flaumig und noch feucht, sahen die kleinen Geschöpfe aus ihrer schützenden Hülle in die Welt. War das an diesem Tage eine Freude im Dorf! Die Kinder wollten sich von ihren Schutzbefohlenen gar nicht mehr trennen. Sie streichelten sie, fütterten sie mit hartgekochten, klein-gehackten Eiern und brachten sie nur widerstrebend zu Asmik in die Farm. Hier herrschte Hochbetrieb. Auch unter den Glucken schlüpften die Küken aus. Die Alten lockten und gackerten ärgerlich und wußten nicht recht, was sie tun sollten: erst die ausgeschlüpfte Brut herumführen oder in Erwartung der übrigen auf den Eiern sitzenbleiben? Das komische Aussehen ihrer Küken schien sie auch zu wundern: So große plumpe Kinder hatten sie Zeit ihres Lebens noch nicht ausgebrütet! In dem zweiten Brutofen, in dem die Temperatur gleichmäßig geblieben war, brachen jetzt ebenfalls die Schalen auf. Großvater Assatur betrachtete gerührt das Gewimmel der runden Flaumbällchen und schüttelte nur den Kopf. Seine Verwunderung war so groß, daß er sogleich nach Hause eilte, um die Sache seiner Frau zu erzählen. »Ich sage dir, Nargis, in dieser geheizten Blechkiste, diesem Brutofen, wie die Kinder das nennen, schlüpfen die Küken zu Hunderten aus«, erzählte der Großvater. Seiner Gewohnheit gemäß mußte er übertreiben. »Denk dir nur, die Hühner sind jetzt fürs Brüten abgemeldet; sie brauchen nicht mehr einen ganzen Monat auf den Eiern zu sitzen und brauchen sich nicht um ihre Küken zu kümmern! Soll doch die eiserne Henne die Küken ausbrüten! Inzwischen legen sie fleißig Eier. Es ist wirklich wunderbar, wie weit es die Wissenschaft gebracht hat! « »Was erzählst du für Märchen! Ohne Glucke kann man doch keine Küken ausbrüten? Ohne das Mutterherz geht es doch nicht«, empörte sich die Greisin. »Was hat das Herz damit zu tun? Die Küken schlüpfen aus den Eiern, Asmik füttert sie und pflegt sie — wozu braucht's da noch ein Mutterherz?« polterte der Großvater. Aber Großmutter Nargis konnte das nicht einsehen. »Wie soll es denn ohne Mutter gehen? Kann man denn ohne Mutter auskommen?« entrüstete sie sich. Wie alle Mütter hatte sie so manche schlaflose Nacht an der Wiege ihrer Kinder zugebracht. Sie konnte es nicht fassen, daß irgendein lebendiges Wesen ohne mütterliche Liebe und Fürsorge entstehen und aufwachsen sollte. Der Großvater aber hatte es eilig, wieder in den Stall zu kommen. Ganz unerwartet erschien an diesem Tage auch der Kolchosvorsitzende Bagrat im Geflügelstall. Als er die eben ausgeschlüpften Gänslein sah, leuchtete es in seinen Augen fröhlich auf. Aber er ließ sich seine Freude nicht allzusehr anmerken, kaute auf den Lippen und schien insgeheim etwas zu berechnen. Dann sagte er trocken: »Alles kommt auf die Abrechnung an, Kinder. Wenn am Ende des Jahres eure Abrechnung mehr Gewinn als Verlust aufweist, dann werde ich berichten, daß euer Unternehmen in Ordnung ist.« »Es kommt nicht nur auf die Abrechnung an, Onkel Bagrat«, widersprach Kamo. »Hier ist doch viel wichtiger, daß wir zum erstenmal versuchen, wilde Vögel in Massen zu zähmen und sie mit unserem zahmen Geflügel zu kreuzen.« »Mich interessieren solche Versuche nur, wenn sie dem Kolchos Nutzen bringen«, fiel ihm der Vorsitzende ins Wort. »Soll der Jugendverband die Verantwortung für den Versuch übernehmen! Wir liefern euch das Futter, nicht wahr? Stimmt es, daß das Futter bewirtschaftet ist? Bin ich dem Volk dafür verantwortlich? Ich bin es. Ihr habt eine Geflügelfarm gegründet, aber habt ihr dann an das Futter für den Winter gedacht?« fragte er in strengem Ton. »Das Futter werden wir von zu Hause mitbringen«, antwortete Kamo kleinlaut. »Von zu Hause? Ihr seid Großsprecher! Ich habe schon angeordnet, daß dort drüben ein halbes Hektar Land umgepflügt wird. Es ist für euch. Die Saatgerste bekommt ihr dieses Mal aus dem Kolchoslager. Geht zum Lagerverwalter, die Anweisung ist schon ausgeschrieben.« Der Vorsitzende machte kehrt, blieb aber nach ein paar Schritten wieder stehen und sagte: »Das Stück Land müßt ihr natürlich selbst bearbeiten. Der Agronom wird euch dabei helfen und euch beraten, damit es richtig gemacht wird. Alles muß nach wissenschaftlichen Methoden gemacht werden«, fügte er streng hinzu. »Sonst wird euch das Land wieder abgenommen.« Bagrat entfernte sich. Die Kinder sahen sich an und brachen in ein fröhliches Jubeln aus. Am liebsten hätten sie ein paar Luftsprünge gemacht. »Kann man dem Onkel Bagrat böse sein«, fragte Kamo, »wenn er auch oft so brummig ist?« »Ja, weißt du auch, warum er so ist und weshalb er so auf Ordnung sieht?« fragte Armjon. »Na, das ist sein Charakter«, meinte Kamo. »Nein«, erwiderte Armjon, »vor dem Krieg soll er nicht so gewesen sein. Aber er war bei der Roten Armee fünf Jahre Ältester in einer Kompanie. Und der Kompanieälteste hat für Ordnung zu sorgen. Bei der Roten Armee hat Onkel Bagrat gelernt, daß Disziplin über alles geht.« »Das ist auch ganz richtig«, stimmte Kamo zu. »Man braucht ihm nichts übelzunehmen. . . Nun, Armjon und Grikor, kommt, wir holen uns die Gerste.« »Für unsere Küken!« jubelte Asmik. »Jetzt, wo die vielen Küken da sind, muß jeder seine bestimmte Arbeit haben«, sagte Kamo. »Armjon, du mußt das Aussäen der Gerste besorgen und mußt eine so gute Ernte einbringen, daß auf jedes Küken fünf Kilogramm Futter kommen.« »Fünf Kilogramm?« staunte Armjon. »Armjon wird unsere Küken schon nicht hungern lassen«, mischte sich Asmik ein. »Ich werde mein Bestes tun«, erklärte er, »sie werden bestimmt nicht hungern. . . « Gegen Abend führte Asmik ihre Glucken mit den Küken zum Flüßchen. Sie hatte nicht bemerkt, daß ihr Seto in einiger Entfernung im Schutz der Hecken nachschlich. Großvater Assatur aber war das nicht entgangen. »He! Mach schnell, daß du aus der Nähe der Farm verschwindest. Sonst ziehe ich dir das Fell über die Ohren!« schrie der Alte ernstlich erbost. »Eure Farm!« Seto lachte spöttisch. »Die schwimmt ja weg!« Bestürzt eilte der Großvater zum Flüßchen. In der Tat, die ,Farm' schwamm davon, wenigstens ihre Insassen. Die kleinen Gänschen, Entlein und Wasserhühnchen tummelten sich vergnügt in ihrem Element, schwammen und tauchten unter... Allmählich aber wurden sie von der Strömung flußabwärts fortgetragen. Laut gackernd liefen die Glucken am Ufer entlang und riefen in ihrer Hühnersprache um Hilfe. — So seltsame Küken hatten sie noch nie ausgebrütet. Der Sewan heute und morgen Wer im Juni über den Semjonowski-Bergpaß kommt, vird beim Anblick des Sewan-Sees in Begeisterung geraten. Wie sehr er auch in Eile sein mag, er wird dennoch stehenbleiben, um sich an der unbeschreiblichen Schönheit des himmelblauen Wasserspiegels zu erfreuen, der sich, zwischen den Bergen eingebettet, vor seinen Blicken ausbreitet. Ja, schön ist der Sewan-See um diese Jahreszeit! Die den See umgebenden Berge, sonst so grau und düster, legen im Juni ein üppiges grünes Gewand an und schmücken sich mit einer unübersehbaren Menge von Blumen. Zwei scharf voneinander abweichende Farbtöne bezaubern beim Anblick des Sewan-Sees das Auge: das helle Blau der weiten Wasserfläche und das Smaragdgrün der von den Ufern des Sees ziemlich steil emporsteigenden Berghänge. An einem schönen Junimorgen hatten sich die Kinder am Abhang eines beim Dorfe Litschk gelegenen Berges nieder-gelassen und blickten auf das schöne, friedliche Bild. Neben ihnen saß Großvater Assatur und ließ, das Gewehr zwischen den Knien, seine Blicke über die grünen Weizenfelder und Tabakplantagen schweifen. Als Kolchoswächter mußte er aufpassen, daß nicht an irgendeiner Stelle das Vieh aus-brach. In der Nähe weideten Kälber, während weiter oben, hinter dichten Hecken, der vielstimmige Chor der buntgefiederten Bewohner der neuen Farm zu hören war. Die Luft war mit Blumenduft gesättigt, und summend schwirrten die Bienen von Blüte zu Blüte. Über dem Wasserspiegel des Sewan-Sees lag leichter, kaum merklicher Dunst, er schwebte wie ein dünner, durchsichtiger Schleier darüber. Es schien, als hätte die Natur eine hauchzarte Hülle über diese märchenhafte Schönheit gebreitet. Ringsum herrschten Ruhe und Frieden, und nur von Zeit zu Zeit ertönte vom Gilli-See her das unheimliche Brüllen. »Ist es nicht der reine Hohn, Armjon?« fragte Kamo. »Was meinst du?« »Nun, ich meine, daß unser Dorf aus Wassermangel zugrunde geht, wo sich dort unten ein ganzes Meer ausbreitet. . . Da gibt es mehr Wasser, als nötig wäre. « Armjon antwortete nicht. Die Kinder waren seit einiger Zeit besorgt und niedergeschlagen: Die Zeit der Dürre hatte ein-gesetzt. »Ich kann mir nicht helfen«, sagte Armjon nach kurzer Pause, »ich glaube, der Gilli-See muß von irgendwoher einen Zufluß haben. Denk doch mal selbst nach, Kamo, wie erklären sich im Gilli die vielen Quellen? Woher kommen sie? Vielleicht liegen auch unter unseren Feldern irgendwelche unterirdischen Wasseradern. Man müßte versuchen, sie an die Oberfläche zu heben.« »So ein Unsinn — unterirdische Wasseradern heben!« mischte sich der Großvater ein. »Da unten liegt ein ganzes Meer vor euch. Versucht doch, wenn ihr so tüchtig seid, es hier heraufzuheben.« »Das werden wir eines Tages auch!« behauptete Kamo entschlossen. »Es muß dazu nur ein elektrisches Hebewerk gebaut werden, dann werden wir Wasser haben, soviel wir brauchen. Ich habe gelesen, daß bei dem Dorf Kanakir das Wasser des Aiger-litsch-Sees und des Sanga-Sees schon gehoben worden ist.« »Solche Dinge brauchen aber Zeit, und wir müssen gleich Wasser haben. . .«, sagte Armjon. »Anstatt näher an unsere Felder heranzukommen, rückt der See immer weiter von ihnen weg«, fügte Grikor hinzu. »Das stimmt, er ist schon ziemlich weit weggerückt«, bestätigte Kamo. »Um wieviel ist der Wasserspiegel des Sewan gefallen. Weißt du es, Armjon?« »Um drei Meter.« »Nur? Und dabei ist soviel Land trockengelegt worden.« »Das liegt daran, daß der See an unserem Ufer sehr flach ist. Der Große Sewan' ist höchstens fünfzig Meter tief. In fünfzig Jahren wird dieser Teil des Sewan-Sees überhaupt nicht mehr existieren.«[5 - Der Sewan-See hat zwei Teile — den Großen und den Kleinen Sewan.Die Oberfläche des Großen Sewan beträgt 1032 qkm.] »Schade!« seufzte Kamo, »dann wird die Aussicht hier nicht mehr so schön sein.« »Das braucht dir nicht leid zu tun«, sagte Armjon. »Diese Gegend wird dann sogar noch schöner seein. Da, wo jetzt der See liegt, werden üppige Gärten entstehen. Ich habe mal ausgerechnet, daß auf dem neugewonnenen Land mindestens hundert Dörfer Platz haben.« »Was denn - hundert Dörfer?« staunte Grikor; »wie ist das möglich?« »Sehr einfach. Durch ein elektrisches Hebewerk und durch die Bewässerung der Ararat-Hochebene wird der Wasserspiegel des Sees um fünfzig Meter sinken.. . « »Oho!« »Dadurch werden hundertdreißigtausend Hektar fruchtbaren Bodens trockengelegt; darauf haben hundert Dörfer mit vielen. tausend Bewohnern Platz.« Grikor war unruhig. Er wäre gern bei den Kameraden geblieben und hätte über diese interessanten Dinge weiter mit ihnen gesprochen. Aber die Kälber mußten beaufsichtigt wer-den; sie waren übermütig und versuchten immerzu, ans Seeufer zu gelangen, wo die Aussaat des ,Ukrainka'- Weizens bereits aufgegangen war und in die Ähren schoß. Auf seinem gesunden. Bein hüpfend, eilte Grikor ihnen nach und trieb die ganz Vorwitzigen mit Steinen zurück. »He, ihr Nichtsnutzigen - ihr wißt wohl, daß Weizen besser schmeckt als einfaches Gras?« Dann setzte er sich wieder zu den Kameraden. Auch der Großvater beteiligte sich an dem Gespräch der Jungen. »Nicht nur fruchtbares Land wird durch das Verschwinden des Sees gewonnen - nein, Gold, pures Gold!« rief der alte Jäger begeistert. Er sah auf die üppig sprießende Saat. Sie schoß dort empor, wo vor kurzem noch ein See gewesen war. »Der junge Weizen da unten reicht euch ja schon bis an die Schulter, Kinder!« »Hast recht, Großvater, nicht nur Land, sondern Gold«, bekräftigte Kamo. »Unsere vorjährige Kartoffelernte am jenseitigen Ufer des Sewans soll die beste gewesen sein, die es hier jemals gegeben hat. Nicht wahr, Armjon?« »Das stimmt. Wir waren nahe daran, den Weltrekord zu erringen. Achttausend Pud Kartoffeln pro Hektar haben wir geerntet!« »Ich habe sie gesehen, die Kartoffeln!« fiel Grikor begeistert ein. »Jede Kartoffel war so groß wie ein Ferkel!« Diesmal machte es nichts, daß Grikor ein wenig übertrieb. »Solche Ernten wird es von jetzt ab da drüben jedes Jahr geben«, sagte Kamo. »Der Regen hat das ganze Erdreich vom Dali-Dagh in den See gespült, daraus hat sich fetter Schlamm gebildet. Nur schade, daß dieses Stück Land später auch unter dem Wassermangel leiden wird.« »Das ist nicht zu befürchten«, unterbrach ihn Armjon. »Dieses Stück Land wird der Gilli bewässern - er liegt ja höher als der Sewan.« »Und das Land oberhalb des Gilli? Unser Land?« fragte Kamo nachdenklich. Die Kinder verstummten. Woher Wasser nehmen? Diese Frage beschäftigte seit Jahrhunderten die Bewohner des Dorfes Litschk. Und über die Jahrhunderte hinweg blieb sie ungelöst. Die Menschen lebten und starben, vom Wasser träumend... Die Kinder hätten sich mit dieser schwierigen Frage der Wassernot bestimmt nicht beschäftigt, wäre nicht gerade ein so heißer, trockener Tag gewesen. So saßen sie nachdenklich neben ihrem alten Freunde, dem Großvater Assatur, und dachten über die jahrhundertealte Sorge des Landes - den Wassermangel -nach. Der alte Mann lauschte dem gleichmäßigen, melodischen Summen der Bienen und begann zu erzählen... Diese Erzählung des Großvaters, die den Kindern den Anstoß zur Entdeckung vieler Naturgeheimnisse geben sollte, wollen wir nun kennenlernen. Wilder Honig Welche Schätze an Honig gehen bei uns verloren!« sagte der alte Jäger seufzend und wies mit einer Kopfbewegung in die Richtung, in der ausgedehnte Luzerne- und Kleefelder lagen. Kamo erriet, was den alten Mann bekümmerte. »Können wir uns nicht auch mit Bienenzucht beschäftigen?« fragte er, und seine Augen leuchteten. »Wir wollen Onkel Bagrat bitten, daß er uns Bienen und Bienenstöcke beschafft. Wir werden sie auf unserer Parzelle aufstellen und eine richtige Bienenzucht einrichten.« »Bienen gibt es hier ringsum mehr als genug; es ist nur schwer, an sie heranzukommen.« »Wo gibt es denn hier Bienen?« »Da drüben, auf dem Tschantschakar -auf dem Bienenfelsen. Darum heißt er ja auch so; dort ist wirklich das Reich der Bienen. Und Honig gibt es dort in unglaublichen Mengen, er ist goldgelb, dickflüssig und duftet herrlich. Wir können eben nur nicht ran, dazu sind unsere Arme zu kurz. Ihr habt doch gehört, was sich die alten Leute im Dorfe erzählen? Berggeister sollen dort eine richtige Bienenzucht haben. Aber sie brauchen den ganzen Honig für sich allein und haben Wächter aufgestellt, damit kein Fremder rankommen kann. Die Leute erzählen sich, daß die Geister dort oben in Höhlen wohnen.« »Kommt man denn da wirklich nicht hin?« fragte Asmik. Sie hatte inzwischen die Küken gefüttert und setzte sich nun zu den Freunden. »Komm, Großväterchen, komm! Zeig uns die Höhlen wenigstens von weitem«, drängte Kamo. »In die Gegend wagt sich keiner. . . «    ,    murmelte der Großvater ein wenig verlegen. »Und du willst ein Jäger sein?« neckte Grikor den Alten. »Ach, du Grünschnabel, bist noch naß hinter den Ohren und willst dich über einen alten Jäger lustig machen? Ich habe so viele Wölfe und Bären getötet, wie Kälber in deiner Herde sind! Zeig mir nur mal einen Bären — ich will ohne Gewehr, nur mit dem Dolch bewaffnet, auf ihn losgehen! Dazu gehört Mut, mein Junge. Mit den Geistern ist es anders. Bei denen läßt sich mit Tapferkeit nichts ausrichten. Hast du soviel Verstand, um das zu begreifen?« So sehr sich die Knaben auch bemühten, dem Großvater Assatur klarzumachen, daß es keine Geister gäbe und daß all dieses Gerede dummer Aberglaube sei — er blieb hartnäckig bei seiner Meinung. »Was heißt das — es gibt keine Geister? Solange ihr mir nicht sagen könnt, wer in den Schwarzen Felsen so unheimlich ächzt und stöhnt, werde ich bei meinem Glauben bleiben«, beharrte der Großvater. »Ich will euch etwas erzählen: Der Jäger Karo — Friede seiner Asche — hat es versucht, zu den Geistern in die Höhlen einzudringen. Er ist abgestürzt, und man fand ihn zerschmettert am Fuße des Felsens. Und was für ein mutiger Jäger war er! « »Woher wußte er denn, daß da oben soviel Honig ist?« fragte Kamo. »Woher er das wußte? Nun, Karo war eben ein richtiger Jäger. Am Summen der Bienen konnte er beurteilen, wieviel Honig sie sammelten. Karo war unglaublich tapfer. Es gibt keine Geister, hat er gesagt, genau wie ihr. Nun, da ist er auf die Spitze des Tschantschakar geklettert, hat einen Strick an den Felsblöcken festgebunden und hat sich daran zur Höhle hinabgelassen. Doch er kam nicht hinein, der Eingang war zu schmal. Und was, meint ihr, hat er gemacht? Mit Dynamit hat er den Eingang aufgesprengt. Wißt ihr auch, wieviel Honig er aus der Höhle herausgeschaufelt hat, richtig herausgeschaufelt, mit einer Schaufel? Vierzehn Pud!« »Vierzehn Pud?« staunte Grikor. »Jawohl, vierzehn Pud... Den Honig hat er seinem Esel aufgeladen und hat ihn ins Dorf gebracht. Alle Leute sperrten Mund und Nase auf. Gevatter Mukel sagte zu ihm: ,Du hast Glück gehabt, Karo, daß die Geister nicht zu Hause waren.' Karo aber lachte nur und stieg am nächsten Tag wieder auf den Tschantschakar. Diesmal hatte er kein Glück; die Geister waren zu Hause. Sie wurden wütend, packten Karo und schleuderten ihn in den Abgrund — so haben sie Rache genommen... Seitdem er dort umgekommen ist, wagt es niemand mehr, den Felsen zu besteigen. Karos Schaufel ist in der Höhle geblieben; sie steckt sicher noch in dem Honig.« Alle schwiegen und hingen ihren Gedanken nach. Schließlich sagte der Großvater: »Ja, der Tschantschakar ist ein mit Honig gefüllter Speicher. Wer weiß, seit wieviel Jahrhunderten die Bienen ihn immer mit neuem Vorrat füllen.« »Seit Jahrhunderten? Werden denn die Bienen nicht alt, sterben sie nicht?« fragte Asmik naiv. Der Großvater schmunzelte. »Die Wohnung der Bienen im Felsen ist Hunderte von Jahren alt, die Bienen selber sind jedoch nicht älter als ein paar Monate. Die einen werden alt und sterben, die andern schwärmen aus und siedeln sich an einer anderen Stelle an. Im Bienenstock aber bleiben immer die jungen zurück. Wenn man sagt, daß die Bienen schwärmen, dann heißt das, daß die alten wegfliegen und den jungen die Bienenstöcke überlassen haben. Darum bleibt die Bienenfamilie auch ewig jung«, schloß der Großvater. »Wieso sagt man aber, wenn die Bienen schwärmen, daß die jungen sich von den alten getrennt haben und mit ihrer neuen Königin einen Unterschlupf suchen?« staunte Armjon. Der Großvater schmunzelte abermals und strich sich selbstzufrieden den langen weißen Bart. »Hrn.. .«, brummte er. »Du denkst, alles, was sich die Leute erzählen, ist richtig. Viele Menschen glauben, daß die jungen Bienen aus dem Bienenstock wegfliegen und eine neue Familie gründen, wie es bei vielen anderen Tieren ist:, die Kinder sind herangewachsen und verlassen das Elternhaus. Die Biene macht diesen Fehler nicht. Denn würde sie ihre schwachen, unerfahrenen Kinder aus dem Bienenstock weglassen - sie würden nicht am Leben bleiben, müßten elend zugrunde gehen. Mit den Bienen ist es anders als zum Beispiel mit den jungen Wölfen, die einen schlafenden Hasen finden, den Unglücklichen beim Genick packen und verschlingen. Für sie ist das einfach. Bei den Bienen ist die Sache nicht so leicht. Ein Bienenvolk muß, um zu leben, einen gewaltigen Bau errichten. Eine ganze Stadt! Speicher für den Honig, für den Blütenstaub, Räume für die Kinderchen und noch vieles mehr. Macht mal einen Bienenstock auf und seht ihn euch an — es ist eine Stadt, sage ich euch, eine richtige Stadt, mit ihrer besonderen Ordnung und ihren besonderen Regeln... Und nun frage ich euch: Wer soll weg-gehen, um eine neue Stadt zu bauen — die Alten, Erfahrenen, oder solche unvernünftigen Kinder wie ihr zum Beispiel?« »Die Alten natürlich! « antworteten die Kinder wie aus einem Munde. »So, meint ihr? Nun, so ist es auch; die alten Bienen überlassen den jungen freiwillig ihren ganzen Besitz. Die Wohnung, die Vorräte an Wachs und Honig, kurz, die ganze Stadt. Sie selber aber fliegen weg.« »Nehmen sie denn gar nichts mit?« fragte Asmik verwundert. »Kein Tüttelchen! « »Was sind das doch für gute Eltern! « rief Asmik aus, die von dem klugen Verhalten der Bienen ganz entzückt war. »Kann man wilde Bienen denn auch an einen Bienenstock gewöhnen?« fragte Kamo. »Natürlich kann man das. Nimm mal die Waben von wilden Bienen mit ihren Larven und hänge sie in einen Bienenstock - du wirst sehen, wie zahm sie werden. Wie oft habe ich, wenn ich auf der Jagd nach Mardern durch Berge und Wälder streifte, Bienenvölker gefunden. Der Marder hat mir den Weg gezeigt. Er ist es ja, der in der Nacht alle hohlen Baumstämme untersucht und sich gern überfrißt, wenn er Honig findet. Da kommt es dann wohl vor, daß er manchmal gleich an Ort und Stelle einschläft. Ich aber verfolge seine Spur, komme zu dem hohlen Baumstamm und finde den schlafenden Marder und habe ihm, ehe er aufwachen kann, den Garaus gemacht. Dann wird ihm das Fell über die Ohren gezogen und kommt an den Gürtel, der Honig in einen Eimer, die Bienen in meine Mütze - und rasch nach Hause damit! Und was sind das für Bienen!« »Welche Bienen findest du besser - die wilden oder die zahmen?« wollte Grikor wissen. »Weißt du denn nicht, daß die zahme Biene mit der wilden nicht zu vergleichen ist?« sagte der Großvater. »Das Gute an der wilden Biene ist, daß sie ein wolliges Kleid an hat, also besser gegen Kälte geschützt ist. Ihre Beinchen sind länger, ihre Flügel sind länger - also kann sie auch länger fliegen, und der Wind kann ihr nicht soviel anhaben. Sie kann Dürre und Hungerzeiten besser überstehen. Weshalb das so ist, meint ihr? Weil niemand für die Bienen sorgt und sie ganz auf sich selbst angewiesen sind. Die zahme Biene aber verläßt sich in allem auf den Imker. So ist in der Natur alles vorausgesehen, alles sinnvoll eingerichtet.« In Grikors Augen blitzte es auf. »Ja, kann ich denn weniger als ein Marder?« rief er, von seinem Platz aufspringend, lebhaft aus. »Wie eine Katze werde ich in die Höhle hineinkriechen, den Honig zusammenraffen und - in den Kolchos damit! Ihr werdet staunen.« Feuereifer hatte ihn gepackt. »Kommt, wir wollen gleich hingehen.« Der Großvater hob abwehrend die Hände. »Der Weg führt direkt in die Hölle«, rief er außer sich. »Wir haben keine Angst vor der Hölle«, trotzte Grikor. »Großväterchen, liebes Großväterchen«, bettelte Asmik, »komm doch, zeig uns wenigstens von weitem, wo es ist.« Schließlich gab der Alte nach. »Gut«, sagte er, »gehen wir. Aber nur unter der Bedingung, daß ihr nicht dicht herangeht.« Er erhob sich und steckte seine Bart sorgfältig in den Rock. Auch die Kinder waren aufgesprungen. Der Hirte kam, und Grikor übergab ihm die Kälber. Asmik lief noch schnell zu ihrer Mutter, um ihr die Küken anzuvertrauen. Die Kolchosverwaltung hatte Anaid bereits im Frühjahr die Aufsicht über das Geflügel übertragen, und seitdem wurde sie als ,Mitarbeiterin an der Versuchsfarm für Geflügelzucht' bezahlt. »Was müssen wir mitnehmen? Schaufeln? Stricke?« fragte Kamo. »Vor allem was zu essen!« warf Grikor ein und lief hastig nach Hause. »Bring aus dem Kolchos ein paar Stricke mit, aber möglichst starke!« rief ihm Kamo nach. »Bei dieser Gelegenheit müssen wir die Berghöhlen genau untersuchen. Ach, wenn wir außer dem Honig doch auch Wasser finden würden«, sagte Armjon nachdenklich. Alle seine Gedanken galten der Wassernot. »Wasser? Wasser — das ist ein Traum. Unsere Großväter sind mit dem Wort ,Wasser' auf den Lippen gestorben. Wasser finden! Das ist leicht gesagt. Geht doch hin und findet es! « sagte der Großvater mit hoffnungsloser Stimme. »Wenn wir nun in dem Berg bei unserm Dorf nach Wasser bohrten, wer weiß, ob wir keine Quellen fänden. Es müssen welche da sein, die den Gilli-See versorgen«, sagte Armjon. »Was meinst du dazu, Großväterchen?« »Ja, hätten wir denn nicht längst eine Leitung angelegt, wenn das möglich wäre?« brummte der Großvater. »Haben wir nicht auch ohne Bohrmaschinen alles versucht? Du hast schon recht. Ich bin nicht so dumm. Die Hauptsache ist — man muß die Wasserader finden und sie abfangen... Es ist aber keine da! « »Immer heißt es: ,Keine da, keine da!' Wenn wir sie nicht finden, dann werden die Geologen, die aus Jerewan kommen sollen, es tun.« Während sie auf Grikor warteten, fingen Kamo und Armjon wieder an, sich wegen des Wassermangels zu streiten. Großvater Assatur hörte ihnen schweigend zu und schüttelte nur zuweilen zweifelnd den Kopf. Endlich tauchte Grikor mit einer Spitzhacke und einem vollgestopften Rucksack auf. Die Freunde liefen ihm entgegen. »Und die Stricke?« »Wer wird mir im Kolchos Stricke geben? Nur geschimpft haben sie. Aber das Wichtigste habe ich mitgebracht — jetzt werden wir den Tschantschakar bezwingen. Seht her!« Und Grikor nahm den schweren Rucksack mit Eßvorräten von seiner Schulter. »Ich bin bei euren Müttern gewesen, und jede hat mir etwas Leckeres eingepackt.« »Bravo!« lachte Asmik. »Das hast du wirklich gut gemacht. Alle Achtung.« »Und wozu hast du die Spitzhacke mitgebracht?« erkundigte sich der Großvater. »Forscher gehen nie ohne Spitzhacke in die Berge«, ent-gegnete Grikor gewichtig. »Wenn du meinst«, sagte Kamo. »Doch jetzt kommt, wir wollen gehen.« So begann die Suche nach den wilden Bienen, ihr erster Aufstieg auf die Höhen des Dali-Dagh und des Tschantschakar, die von tiefen Schluchten zerklüftet sind. Das ,Blut der sieben Brüder' Der üppige Blumenteppich, der die Abhänge des Dali-Dagh bedeckte, leuchtete in hellen Farben den Kindern entgegen. Sie blieben stehen und betrachteten voller Entzücken den Bergmohn, der sich scharlachrot von dem Grün der Wiesen abhob. Gelbe Narzissen mit langen Blütenwimpern senkten ihre Köpfchen wie schüchterne Mägdelein, als trauten sie sich nicht, die Augen zu den fremden Wanderern aufzuheben. Grellgelbe Blümchen verbreiteten einen betäubenden Duft; in den Bergen wurden sie deshalb auch ,Weihrauchblümchen' genannt. Neben ihnen glänzten Butterblumen, als seien ihre Blüten in Fett getaucht. Abergläubische Frauen tun sie beim Buttern in die Sahne — weshalb, wissen sie selbst nicht. Zierliche Adonisröschen und blaue Glockenblümchen lugten bescheiden aus dem Grase her-vor. Überall wucherte weiße Kamille. Die heiße Sonne des Südens hatte alle diese Blumen nicht nur mit betäubendem Duft, sondern auch mit mannigfachen Heilkräften ausgestattet. »Seht ihr diese einfachen Blättchen?« fragte der Großvater. »Man nennt sie bei uns „Ochsenzungen'. Jede Wunde, auf die man sie legt — heilt in kürzester Zeit. Ich habe das selber erlebt. Ich bin mal von einem Felsen gestürzt und hatte mich an der Hand verletzt. Nachdem Großmutter Nargis diese Blättchen aufgelegt hatte, heilte die Wunde schnell. Legt man die Blättchen auf ein Geschwür, so ziehen sie den Eiter heraus. Als Tee aufgebrüht, lindern sie die Atemnot der Kranken. Ja, so reich ist die Natur.« Die Blüten der ,Kantaphe' — wie sie in Armenien heißen — ragen hoch über alle anderen Gewächse empor. Sie wiegen sich sanft auf ihren langen Stengeln. Hier im Gebirge werden sie getrocknet und als Heilmittel aufbewahrt. »Diese Blumen haben schon vielen Menschen das Leben gerettet!« begann der Großvater von neuem. »Einmal hatte der Jäger Karo in den Bergen im Schnee übernachtet. Er wollte einen erlegten Hirsch nicht liegenlassen. Dabei sind ihm die Lungen erfroren. Und wären nicht diese Blumen gewesen -er wäre sicher gestorben.« »Wie haben ihm denn die Blumen geholfen?« fragte Asmik. »Ganz einfach: man kochte einen Tee daraus, den man dem Kranken heiß zu trinken gab. Er hat tüchtig geschwitzt und war gerettet. « »Wie schön ist es hier!« rief Asmik. »Kommt, wir wollen unsere Schuhe ausziehen und barfuß umherlaufen!« Rasch entledigte sie sich ihrer Schuhe, hängte sie an den Schuhbändern über die Schulter und flatterte leichtfüßig, wie ein Falter, über die grüne Bergwiese. Die Knaben folgten ihrem Beispiel. Plötzlich blieb Asmik stehen. Ein besonders hübsches purpurrotes Blümchen hatte ihre Aufmerksamkeit angezogen. »Ist das nicht die Blume, die das ,Blut der sieben Brüder' genannt wird, Großväterchen?« fragte Kamo und lief hin, um sie zu betrachten. Auch Armjon kam angelaufen. Kamo hatte sich bereits gebückt, um sie zu pflücken, hielt aber inne, als er Asmiks flehenden Blick sah. »Laß sie mir, laß sie mir! Ich will sie ausgraben.« Asmik grub das Blümchen behutsam mitsamt der Wurzel aus. »Ich werde es zu Hause in einen Topf pflanzen«, sagte sie. »Wie hübsch es aussieht! Ist es denn wahr, Großväterchen, daß es das Blut von sieben Brüdern ist?« »Was denn sonst?« erwiderte der Alte mit wichtiger Miene. »Natürlich, von sieben tapferen Helden. Dieses Blümchen kommt nur bei uns in den Bergen vor, und auch da nur sehr selten. Schon sechzig Jahre streife ich über unsere Berge, habe es aber nur zweimal gefunden. Einmal — als ich noch jung war. Damals hatte ich gerade Nargis, meine Alte, kennengelernt. Ich brachte es ihr... Das andere Mal war's im japanischen Krieg. Wann?... Das weiß ich nicht mehr. Doch im Zimmer hält sich dieses Blümchen nicht, mein Töchterchen. Man sagt, in fremder Erde stirbt es.« Es war wirklich eine wunderhübsche Blüte! Welcher Künstler hätte es wohl fertiggebracht, auf der Leinwand die zarten, verschiedenartigen, ineinanderlaufenden Farbtöne wiederzugeben? Asmik sog den Duft des Blümchens ein und drückte es zärtlich an ihre Wange. »Großväterchen, weißt du Geschichten von diesem Blümchen?« fragte sie. »Erzähle sie uns bitte.« »Warum nicht, Töchterchen? Setzt euch her und hört zu.« Der Großvater setzte sich auf einen Stein und stopfte sich umständlich seine Pfeife. Die Kinder ließen sich im Kreise um ihn nieder und sahen ihn stumm und erwartungsvoll an. Großvater begann: »Es heißt, daß vor langer, langer Zeit in unseren Bergen Menschen gelebt haben, die Kurden genannt wurden. Es waren verschiedene Stämme, und diese Stämme lebten in Feindschaft untereinander. Zu einem dieser Stämme gehörten nun sieben Brüder, sieben verwegene Dshigite - das sind kaukasische Kunstreiter. Sie waren sozusagen auf dem Rücken ihrer Pferde groß geworden. Alle sieben waren tapfer, ansehnlich und gewandt. Diese Brüder hatten eine Schwester, die Sare hieß. Sie war so lieblich, daß die Sonne zu ihr sagte: ,Warum soll ich aufgehen, da du den Menschen an meiner Stelle Licht und Wärme gibst? ' Und der Mond war so verwirrt von ihrer Schönheit, daß er gar nicht erst vorkam, sondern sich hinter den Wolken verbarg. Sares Wangen waren wie Milch und Blut. In ihren Augen lagen Güte, Liebe und Wärme. Die zierlichen Augenbrauen waren schön geschwungen wie Schwalbenflügel. Und schlank war sie wie eine Gerte. . . « Der Großvater sog sinnend an seiner Pfeife und stieß ein paar dicke Rauchwolken aus. Einige Augenblicke saß er so da. Dann fuhr er fort: »Sie wuchs sorglos auf wie eine Gazelle, wie ein Schmetterling zwischen Blumen... Den Nachbarstamm regierte Awdal-Beg. Er war ein blutgieriger Mann. Mehr als einmal hat er den Stamm der sieben Brüder überfallen und fast zugrunde gerichtet. Wieder einmal schickte er seine Bauftragten zu den Brüdern und ließ ihnen sagen, daß er ihnen die Hälfte aller seiner Weiden, Herden und Pferde überlassen wolle, wenn sie ihm ihre Schwester zur Frau geben würden. Er versprach ihnen für ewige Zeiten seine Freundschaft. Da überlegten die Brüder, was zu tun sei. Der ganze Stamm kam zusammen. Sie beratschlagten hin und her und beschlossen, das Mädchen Sare dem Awdal-Beg zur Frau zu geben. Er besaß große Macht und konnte, wenn sie ablehnten, viel Unheil anrichten... Als Sare davon erfuhr, sagte sie: ,Ich werde zu Awdal-Beg gehen, doch ich gehe wie ein Opfertier, denn ich liebe diesen Mann nicht; ich kann den nicht lieben, um dessentwillen mein Stamm schon so viel Blut vergossen hat. Doch ich werde zu ihm gehen, wenn meine Brüder es wollen und wenn es für das Wohl meines Stammes notwendig ist.' Als der jüngste Bruder, der der hitzigste der sieben war, dies hörte, zog er seine Klinge, schlug mit ihr gegen den Felsen, daß es klirrte, und rief: ,Ich werde nicht zulassen, daß meine Schwester geopfert wird. Ich habe nur diese eine Schwester, und sie soll ich unserem Feinde in die Hände geben?' Der älteste Bruder war andersgeartet; er war nicht so hitzig, erkannte die Gefahr und mahnte zur Vorsicht. Es gelang ihm indes nicht, den jüngsten Bruder, auf dessen Seite alle anderen waren, umzustimmen. So wurde beschlossen, die Schwester nicht an Awdal-Beg auszuliefern. ,Nun gut', rief Awdal-Beg als er davon hörte, ,steht es so, dann will ich sie mir mit Gewalt nehmen.' Er kam angeritten, stieg von seinem Pferde und forderte alle sieben Brüder zum Zweikampf auf. Es sollte folgender-maßen vor sich gehen: Der älteste Bruder sollte sich zuerst zum Kampfe stellen, doch er zögerte. Er war ein reifer, besonnener Mann und hatte überdies eine große Familie. Er wollte nicht in den sicheren Tod gehen, denn er und seine Brüder befanden sich auf freiem Feld, während Awdal-Beg im Schutze der Felsen Aufstellung genommen hatte. Als Sare das Zögern des ältesten Bruders bemerkte, griff sie selber nach Pfeil und Bogen, stellte sich Awdal-Beg gegenüber und begann zu singen. « Großvater Assatur wiederholte mit seiner zittrigen Greisen-stimme das Liedchen in kurdischer Sprache, wie es die schöne junge Sare ihrem ältesten Bruder als Anklage entgegengeschleudert hatte, weil er nicht kämpfen wollte. »Ihr konntet die Worte des Liedes natürlich nicht verstehen«, sagte der Großvater. »Der Sinn ist etwa der: ,Wenn mein ältester Bruder sich weigert, zu kämpfen, so will ich selber Blut und Leben wagen, um meine Ehre zu verteidigen.' Als der älteste Bruder diesen bitteren Vorwurf hörte, riß er die Pelzmütze vom Kopfe, nahm den Bogen von der Schulter und schritt auf den Gegner zu. Der Zweikampf begann. Awdal-Beg aber tötete ihn. Sare sah das voller Verzweiflung, raufte sich die Haare und begann wieder zu singen. In diesem Liede rühmte sie die Treue und Tapferkeit des gefallenen Bruders.« Auch dieses kurdische Liedchen, eine schwermütige Weise. sang der Großvater den Kindern mit leier Stimme vor. »So hat sie gesungen«, fuhr der Großvater in seiner Erzählung fort, »dann hob sie Pfeil und Bogen des toten Bruders auf und wollte selber gegen Awdal-Beg kämpfen. Doch da warf sich der zweite Bruder dazwischen, küßte seine Schwester, drängte sie zur Seite und rief dem Gegner zu: ,Schändlicher, wir wollen lieber unser Blut vergießen, ehe wir zulassen, daß unsere Schwester dir geopfert wird.' Auch er entblößte sein Haupt, spannte den Bogen und wollte den tödlichen Pfeil abschießen, doch Awdal-Beg war schneller als er. Er war ein guter Schütze, der den Vogel im Fluge traf. Der Pfeil schwirrte durch die Luft; und auch der zweite Bruder stürzte tödlich getroffen zu Boden. Wieder raufte sich Sare verzweiflungsvoll die Haare, und wieder begann sie zu singen.« Nachdem der Großvater den Kindern auch dieses Liedchen vorgesungen hatte, setzte er seine Erzählung fort: »Einer nach dem andern sind die Brüder zum Kampf gegen Awdal-Beg angetreten, einer nach dem andern sind sie gefallen, und den Tod eines jeden begleitete Sare mit einem Klagelied. Sie pries darin den Mut und die Tapferkeit des einen Bruders, die Zärtlichkeit des zweiten, die Schönheit und Stattlichkeit des dritten, das gute Herz des vierten. . . « Stets sang der Großvater das kurdische Liedchen den Kindern mit bebender Stimme vor. Asmik war so ergriffen, daß sie leise vor sich hin weinte. »Als auch der letzte, jüngste Bruder getötet war«, nahm der Großvater seine Erzählung wieder auf, »sang Sare ihr letztes Lied. Doch es war kein Klagelied. Es war ein zorniges Lied, das Rache forderte.« Der Großvater sah plötzlich ganz verjüngt aus; er richtete sich auf, seine Stimme nahm einen entschlossenen Ton an, seine Augen sprühten, und die Hand umklammerte den Griff seines Dolches. Dann fuhr er in seiner Erzählung fort: »Als Sare den Gesang beendet hatte, nahm sie Bogen und Pfeile der Brüder, setzte die Kappe des jüngsten Bruders, die mit einem Seidenband geschmückt war, auf und trat vor... Wie schön war sie in diesem Augenblick, wie stolz und wie zornig! Awdal-Beg wich zurück und verbarg sich hinter dem Felsen, doch Sares scharfes Auge hatte ihn rasch entdeckt. Ihr Pfeil schwirrte durch die Luft und erreichte sein Ziel... Tödlich getroffen stürzte Awdal-Beg zu Boden.« Und mit leiser Stimme setzte der Alte hinzu: »Das Blut von sieben Brüdern netzte die Erde, und aus der Erde sproß ein Blümchen — rot wie Blut.« Nachdem Großvater Assatur seine Erzählung beendet hatte, nahm er wieder seine alte Pfeife in den Mund, zündete sie an und verharrte, in Gedanken versunken und in Rauchwolken eingehüllt, lange Zeit schweigsam. Auch die Kinder waren still geworden. Asmik wischte sich eine verstohlene Träne aus den Augen, dann stand sie auf und ging zu Kamo. »Komm, ich will dir dieses Blümchen an die Brust stecken«, sagte sie. »Ich glaube, daß auch du, wie so ein tapferer Dshigit, deine Schwester verteidigen würdest.« »Ich hab' keine Schwester«, erwiderte Kamo. »Sollte dich aber jemand kränken wollen, Asmik, ich würde dich bestimmt beschützen! « Grikor versuchte die trübe Stimmung mit einem Scherz zu vertreiben: »Nicht einmal eine Schwester hat dieser Mensch«, rief er, »für die er kämpfen könnte.« Aber auch in Grikors Augen standen Tränen. Großvaters Märchen hatte den Kindern gut gefallen. Bald darauf sprangen sie auf und liefen auf der Wiese umher, um Blumen zu pflücken. Doch dann setzten sie ihren Weg zum Fuße des Tschantschakar fort. Dabei wurde gescherzt und gelacht, und keiner wurde müde, neue Späße zu ersinnen. Großvater Assatur hörte den Kindern zu. Er mußte an seine eigene Jugend zurückdenken, die schon so fern lag. Fröhlich umjubelten ihn die Kinder — wie bunte Schmetterlinge, die von Blume zu Blume flattern, dachte der Großvater. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und das laute Summen der Bienen und das Zirpen vieler Insekten erfüllte die Luft. Betäubender Duft entströmte den Blüten. Müde und verträumt schritten die Kinder dahin. Vom fernen Gilli-See her war zuweilen das unheimliche Brüllen des ,Wassermanns' zu hören. Dann wurden die lachenden Gesichter der Kinder ernst und nachdenklich. »Großväterchen«, fragte die immer wißbegierige Asmik, die einen dicken Strauß Narzissen gepflückt hatte und sich an ihrem berauschenden Duft erfreute, »an den Ufern des Gilli-Sees blühen doch auch viele Blumen, sie riechen aber längst nicht so schön und so stark wie die Blumen hier in den Bergen. Woher mag das kommen?« »Nun, Töchterchen, dort ist es sumpfig. Die viele Feuchtigkeit ist schuld daran. Wo es wenig Feuchtigkeit und viel Sonne gibt, da ist der Duft der Blumen und Gräser stärker«, erklärte der Großvater. »Das wissen auch die Tiere. Es gibt in der Ebene Gras in Hülle und Fülle, aber sie suchen sich die Bergwiesen, wo das Gras nicht so üppig wächst. Was nun die Blumen anbelangt, so hat der Jäger Karo — Friede seiner Asche — einmal gesagt, es gäbe bei uns in den Bergen Blumen, von denen ein Aufguß die Menschen um Jahrzehnte verjüngen könnte. Das bewirkt alles die Sonne. Die klugen Leute heutzutage mit ihren Mixturen und Pülverchen können sich da verstecken.« Und wirklich, an diesen Berghängen war die gewaltige Sonne Alleinherrscherin. Sie war die Ursache all der betäubenden Düfte und der leuchtenden Farben. Die Kinder stiegen immer höher in die Berge hinauf. Alles ringsum schien ihnen durchtränkt von Blumenduft und bevölkert von Schmetterlingen. Der geheimnisvolle Krug Der Weg war schwer, und die Hitze wurde fast unerträglich. Aber dennoch hatten die Kinder bald die steilen Abhänge des Dali-Dagh hinter sich gebracht und näherten sich 130 bereits dem Fuße der Schwarzen Felsen. In Terrassen stiegen die düsteren Felsen empor. Sie ragten in den Himmel hinein, und ihre Gipfel verschwanden in den Wolken. Die Bergadler, durch den seltenen Anblick der Menschen aufgescheucht, beobachteten von ihren unzugänglichen Horsten aus jede Bewegung der ungebetenen Gäste in ihrem Reich. »Das ist sie — die ,Höllenpforte'«, sagte der Großvater und wies auf einen schmalen Höhleneingang, der sich dunkel an der Felswand abzeichnete. Nicht weit von diesem Felsen entfernt stand eine uralte Eiche. Die Wurzeln hatten sich im Kampf gegen die wütenden Stürme, die den Dali-Dagh ständig umtobten, immer noch behauptet. Bei diesem Baume angelangt, blieb der Großvater stehen und sagte feierlich: »Jetzt sind wir an der Grenze angekommen, die unsere Vorväter niemals überschritten haben.« »Außer dem Jäger Karo?« sagte Armjon lächelnd. »Außer Karo«, wiederholte der Großvater. »Er hat es gewagt, doch es ist ihm schlecht bekommen, er ist vom Felsen gestürzt und im Abgrund zerschmettert.« »Der arme Karo!« rief Asmik voller Mitgefühl. »Ja, die Geister lassen nicht mit sich spaßen. Man soll sich nicht mit ihnen einlassen«, warnte der Großvater. »Was hat denn Karos Tod mit Geistern zu tun?« entrüstete sich Kamo. Der Großvater schien gekränkt. »Wer hat denn Karo in den Abgrund gestürzt? Mein Gevatter Mukel vielleicht?« Die Kinder lachten. »Ja, ihr lacht. Nun, dann seht mal dort hinauf — wessen Werk ist das?« Die Kinder blickten nach oben. An einem der obersten Äste der Eiche hing ein großer kupferner Krug... sein Henkel war tief in den Ast eingewachsen. Der gewölbte Bauch des Gefäßes war deutlich zu sehen. »Was ist das für ein Krug, Großväterchen?« wollte Kamo wissen, »und wie ist er da hingekommen?« Der Großvater hatte noch nicht Zeit zu einer Antwort gefunden, als Kamo kurz entschlossen in die Hände spuckte und sich daranmachte, auf den Baum zu klettern. »Wohin, Söhnchen? Halt ein, klettere nicht hinauf! dem Baum und dem Krug darf man nicht nahe kommen - sie sind verhext! « rief der Großvater aufgeregt. Kamo hörte nicht auf ihn. Er kletterte weiter bis in Reichweite des Kruges und betrachtete ihn genau. Es war ein alter Krug. Das Kupfer, ständig Regen und Sonnenschein ausgesetzt, war ganz grün geworden. Er war eingebeult und an mehreren Stellen vom Hagel durchlöchert. Man sah es ihm an, daß er seit vielen, vielen Jahren an diesem Aste hing. »Ich werde ihn abnehmen und zu euch runterwerfen«, rief Kamo von oben. Doch das Abnehmen des Kruges erwies sich als unmöglich. Im Laufe der langen Zeit war der Ast, an dem er hing, gewachsen, er war stärker geworden und hielt den Henkel fest. Enttäuscht kletterte Kamo wieder vom Baum herunter. »Großväterchen, wie ist der Krug nach oben auf den Baum gekommen?« fragte er. »Ich habe es euch doch schon gesagt - Teufelswerk ist es. Hört, was der Gevatter Mukel - die Erde werde ihm leicht -darüber erzählt hat. Mukel war ein kluger Mann, der über alles Bescheid wußte. Vor langer, langer Zeit, sagte er, ist hier eine große Dürre gewesen. Alles ringsum ist vertrocknet. Der Hunger forderte seine Opfer. Viele Leute aus unserer Gegend flüchteten nach Kasach - auf die andere Seite des Dali-Dagh. Dort gab es Wälder, Flüsse, Quellen. Dort weiß man nicht, was Dürre ist. Die müden, vom Hunger erschöpften und kraft-los gewordenen Menschen schleppten sich mit Mühe über die steinigen, von der Sonne verbrannten Abhänge der Berge. Erwachsene und Kinder vergingen vor Durst und flehten ständig um ein Tröpfchen Wasser. Zusammen mit den Frauen ging ein junges Mädchen, ein hübsches, gutes und mutiges Mädchen. Es hieß Schuschan. Diese Schuschan also nahm einen großen kupfernen Krug - den ihr die verstorbene Mutter vererbt hatte. Sie stieg mit ihrem Kruge hinunter zum Gilli-See und brachte von dort Wasser für die Kinder herauf, und mit freundlichen Worten sprach sie ihnen Mut zu. Sie waren von dem Heimatdorf noch nicht weit entfernt, da erblickte Schuschan unter einem Baum wieder Frauen, die nicht wußten, wie sie ihren Durst stillen sollten. Das Herz des guten Mädchens krampfte sich vor Mitleid zusammen; doch es konnte nicht umkehren, um Wasser aus dem Gilli-See zu holen. Da beschloß es, in der Höhle des Schwarzen Felsens sein Glück zu versuchen. Seine Kräfte ließen bereits nach, es hatte Hunger, und der Weg, der vor ihnen lag, war noch lang. Unsere Großväter haben erzählt, daß dort die Hölle sei. Dort steht ein großer Kupferkessel auf dem Feuer, und in diesem Kessel schmoren die Seelen der Sünder. Ihr hört ja, wie es in ihm brodelt und kocht.. . Schuschan aber schüttelte nur den Kopf: ,Was man sich alles für Märchen erzählt!' meinte sie. ,Wie soll dort die Hölle sein? Sicherlich sprudelt eine Quelle aus dem Felsen. Nun, ich werde hingehen und nachsehen, und wenn ich Wasser finde, werde ich es den Kindern bringen und sie vorm Verdursten retten.' Das mutige Mädchen nahm seinen Krug und stieg auf die Schwarzen Felsen. ,Geh nicht, geh nicht dorthin - dort ist die Hölle!' riefen ihr die Frauen nach. Aber Schuschan hörte nicht auf sie, sie hatte Mut, und die dürstenden Kinder gingen ihr nicht aus dem Sinn - sie hörte, wie sie nach Wasser jammerten. In der Höhle aber lebte ein böser Geist. Als er Schuschan erblickte, knirschte er mit den Zähnen! ,Wie wagst du es, Menschenbrut, in meine Behausung zu kommen?' ,Ich bin gekommen, um ein wenig Wasser für unsere durstenden Kinder zu schöpfen... Erlaube es mir, was macht es dir aus?' sagte Schuschan. Da lachte der böse Geist höhnisch. Denn wenn es den Menschen schlecht geht, freuen sich die bösen Geister. ,Gleich werde ich dir das Wasser zeigen! Du willst hinter mein Geheimnis kommen? Nun, warte, ich werde dich den Adlern zum Zerfleischen vorwerfen', brüllte der Geist. Und er packte Schuschan mitsamt ihrem Kruge und hängte sie an diesem Eichenast auf. Für einen Geist ist das eine Kleinigkeit. Seine Arme reichen bis in den Himmel hinein... Die Frauen, die unter dem Baum saßen und das alles mit ansahen, nahmen ihre Kinder, rafften ihre letzten Kräfte zusammen und verließen fluchtartig diesen Ort. Und wie es der Geist vorausgesagt hatte, kamen die Adler geflogen und zerfleischten das arme Mädchen. Der Krug aber ist hängengeblieben als Warnung für die Menschen, die ihn sehen und erkennen, daß sie sich wohl hüten sollen, dieser Hölle zu nahe zu kommen.« Die Knaben lächelten über die einfältige Geschichte des Großvaters, aber Asmik flüsterte ganz aufgeregt: »Wie mutig und gut war Schuschan.« »Nein, Großväterchen, eine Hölle gibt's nicht. Da hast du dir einen schönen Bären aufbinden lassen!« sagte Armjon und schüttelte den Kopf. »Ich denke mir, der Krug ist auf irgend-eine andere Weise auf den Baum geraten. Wie alt mag denn diese Eiche sein? Vielleicht zweihundertundfünfzig Jahre. Vor zweieinhalb Jahrhunderten zogen die Türken durch unser Land. Sie plünderten und brannten die Dörfer nieder, und die Bewohner flohen, von Angst und Schrecken getrieben, in die Berge. Damals war dieser Baum so alt, wie Asmik jetzt ist... Die Flüchtlinge wurden beim Besteigen der Berge müde und ließen nach und nach vieles von ihrer Habe zurück. So wird auch dieser Krug von irgendeinem alten Mütterchen zurückgelassen worden sein. Sie hängte ihn an einem jungen Baum auf und dachte vielleicht, daß sie bald zurückkommen und ihn dann wieder mitnehmen würde. Doch dann kam sehr lange Zeit kein Mensch mehr des Weges. Der Baum wuchs, und mit ihm wurde der Krug immer höher emporgehoben. Und als wieder Menschen vorüberkamen und ihn sahen, da war er schon uralt und grün und nicht mehr zu gebrauchen. Die Eiche war gewachsen und so hoch und so mächtig geworden, wie wir sie jetzt vor uns sehen.« »Ja, so muß es gewesen sein«, rief Asmik und klatschte fröhlich in die Hände. Sie war erleichtert, daß der Krug nichts mit Geistern zu tun hatte. Grikor allerdings meinte schalkhaft: »Wie kannst du die Geister beleidigen. Hörst du denn nicht, wie böse sie geworden sind?« Er wies zum Himmel. Hinter dem Felsen zuckte ein greller Blitz herab; gleichzeitig ließ ein heftiger Donnerschlag die Luft erzittern. Wie so häufig im Gebirge, hatte sich der strahlende Himmel plötzlich verfinstert. Schwarze Wolken ballten sich zusammen. Das Echo des Donners hallte zehnfach aus den Schluchten wider. Asmik zuckte ängstlich zusammen und schmiegte sich dicht an Kamo. »Weshalb erschrickst du denn? Etwa über den Donner? Hast du vergessen, was du in der Schule gelernt hast?...« Unter den schwarzen Felsenklippen Die Kinder krochen unter dem Felsvorsprung hervor, unter dem sie während des Gewitters Schutz gesucht hatten. Alles ringsum war wieder friedlich und still; der Himmel hatte sich aufgeklärt, und die Sonne strahlte. In Richtung der Schlucht bildeten die Felsen eine Art vorspringendes Gesims, das sich längs der Felswand hinzog und aus der Ferne an die Stirnfalten eines Greises erinnerte. Kamo zeigte auf einen dieser Felsvorsprünge und fragte den Großvater: »Großväterchen, siehst du den Steinpfad da oben? Wohin mag der führen?« »Dieser Pfad endet in der Mitte der Felsen. Darüber ist noch ein anderer, von dem aus kann man die Höhle des bösen Geistes sehen.« »Dahin wollen wir, los, Freunde«, rief Kamo energisch und begann, leichtfüßig wie eine Gemse, den vom Großvater be-zeichneten Pfad hinaufzuklettern. Grikor und Asmik folgten ihm auf den Fersen. Armjon bildete den Schluß des kleinen Zuges. Der Großvater aber rief ihnen entsetzt nach: »Laßt das bleiben, Kinderchen. Ihr lauft ja dem Teufel direkt in die Arme. Was soll ich euren Eltern sagen?« Ganz außer sich griff er nach seinem Dolch, um sie irgendwie zurückzuhalten. »Großväterchen, du hast ja die Grenze schon überschritten«, rief Grikor und schlug mit geheucheltem Schrecken die Hände über dem Kopf zusammen. Alle mußten lachen. Großvater Assatur aber kehrte schnurstracks zu dem Eichbaum zurück. Sein Gesicht war kreidebleich geworden. Er brachte gerade noch die Kraft auf, den Kindern mit vor Aufregung zitternden Lippen nachzurufen: »Seht bloß nicht nach unten, damit ihr nicht schwindlig werdet! Seht nicht nach unten, Kinder!« Die Kinder sahen ohnehin nicht nach unten. Sie drängten sich im Vorwärtsgehen dicht an die Felswand zur Linken. Dabei entdeckten sie allerlei Einbuchtungen und Einschnitte, die den wilden Ziegen und Gemsen wohl als Unterschlupf dienen mochten. Kamo ging sicher, mit festen Schritten voran und ermutigte die Kameraden durch sein tapferes Verhalten. Armjon, der immer etwas ängstlich war und daher nur ungern an diesem Unternehmen teilgenommen hatte, folgte als letzter. Grikor und Asmik gingen dicht vor ihm her. Grikor hätte wahrscheinlich wie immer Späße gemacht, aber auch ihm war ein wenig bange zumute: wie leicht konnte ihm sein lahmes Bein zum Verhängnis werden! Einmal stolperte er und wäre beinahe in den Abgrund gestürzt. Nur mit Mühe konnte er sich noch rechtzeitig an einem Felsvorsprung festklammern. Asmik war erschrocken zusammengefahren: »Mir ist beinahe das Herz stehengeblieben!« »Mein dummes Bein ist schuld«, rechtfertigte sich Grikor ärgerlich. »Geh vorsichtiger!« flehte ihn Asmik an, »sonst muß ich dich wie ein kleines Kind an der Hand führen.« Je weiter sie kamen, desto enger wurde die Schlucht zwischen den beiden Bergwänden. Die Schwarzen Felsen und die Felsenklippen des Tschantschakar kamen einander immer näher, um schließlich fast zu einem Massiv miteinander zu verschmelzen. Beide Felswände - die eine schwarz, die andere rot - fielen nahezu senkrecht ab. Ein tiefer Abgrund gähnte zwischen ihnen. - Plötzlich war der Pfad zu Ende, und ein Felsen versperrte den Weg. Die Kinder blieben stehen und lauschten. Aus der Tiefe, von den Schwarzen Felsen her, drangen merkwürdige Töne zu ihnen herauf, die in der Tat einem dumpfen Stöhnen glichen. Das Gestein unter ihnen schien zuweilen zu beben; es klang so, als arbeite sehr tief im Innern des Felsens eine gewaltige Maschine. Die Höhle, die seit alten Zeiten als ,Höllenpforte' galt, befand sich auf der anderen Seite des Felsens und war von hier aus nicht zu sehen. Dicht an das Gestein gedrängt, blickten die Kinder neugierig zu den Abhängen des Tschantschakar hinüber. Dort schien es mehrere Höhlen zu geben, große und kleine. Die Schlucht, die die beiden Bergmassive voneinander trennte, war so schmal, daß die Höhlen auf der anderen Seite gut zu erkennen waren: die Kinder sahen wie durch die weitgeöffneten Fenster vom obersten Stockwerk eines hohen Hauses auf ein ebenso hohes Haus jenseits einer schmalen Straße. Plötzlich stieß Kamo einen erstaunten Ruf aus. Die andern folgten seinem Blick. In einer der gegenüberliegenden Höhlen konnten sie im Dämmerlicht die Umrisse von irgendwelchen ovalen Gegenständen erkennen. »Was kann das sein?« fragte Kamo ganz aufgeregt. »Bienen sind das, Kamo, Bienen!« schrie Armjon. »Sieh nur, wie viele Bienen!« »Wo denn?« »Sieh doch hin! Sie fliegen in die runden Dinger hinein und wieder heraus, als wären das Bienenkörbe.« Beim näheren Hinschauen erkannten die Kinder, daß tatsächlich unzählige wilde Bienen dort aus und ein schwirrten und die rötliche Felswand des Tschantschakar mit lautem Gesumm umschwärmten. »Was für Unmassen von Honig müssen da drin sein«, rief Grikor, der gleich ans Schlecken dachte. »Jetzt müßt' ich eine lange Stange haben, ungefähr zwanzig Meter lang, dann würde ich einen Lappen um das Ende wickeln und damit rüberangeln, bis ich die Bienenkörbe erreicht hätte. Was meint ihr wohl, wieviel Honig wir uns da herüberholen könnten?... Guckt doch nur... da muß auch die Schaufel des Jägers Karo sein! Jede Felsspalte trieft von Honig. Wenn ich nicht Angst hätte, abzustürzen, würde ich jetzt vor Freude tanzen.« »Freue dich nur nicht zu sehr«, meinte Asmik besorgt, »sonst stürzt du am Ende wirklich hinunter.« Als die Kinder die Felsen noch weiter mit ihren Blicken absuchten, entdeckten sie eine andere Höhle, in deren Eingang sich ebenfalls irgendwelche Gegenstände abzeichneten. Aus der Höhle ragte ein Balken heraus, und ein wenig weiter drinnen schien so etwas wie ein großer Kessel zu stehen. Ihre Erregung wuchs von Minute zu Minute. »Da müssen Menschen gehaust haben!« rief Kamo. »Aber wie sind sie da hingekommen?« »Das ist ein richtiges Satansnest. Wie sollten denn Menschen da hinkommen?« zweifelte Grikor. »Der Großvater hat sicher recht mit seinen Geistern. Und auch das Bienennest ist Teufels-werk«; dabei schmunzelte er und sah die Freunde erwartungsvoll an, ob sie auf seinen Spaß eingingen. Armjon begann richtig zu phantasieren. »Wie schön wär's, wenn wir jetzt eine Schiebeleiter von der Feuerwehr hier hätten und damit über die Schlucht kämen... Mit so 'ner Leiter würde das sicher gehen.« »Ja«, seufzte Kamo, »das wäre wie eine richtige Brücke.« Grikor aber meinte recht kläglich »Wie soll ich denn aber mit meinem lahmen Bein über so eine Brücke kommen?« Als Asmik das hörte, wie von einer Brücke gesprochen wurde, beugte sie sich zum erstenmal vor und blickte in die Tiefe. »Oh, wie tief«, schrie sie, »man kann gar nicht bis auf den Grund der Schlucht sehen. Wollen wir nicht lieber umkehren?« »Wie kann ich umkehren?« Grikor tat so, als müsse er gleich losheulen, und schnitt eine komische Grimasse. »Ich bin ganz betäubt von den Honigmengen. Mein Herz würde schmelzen, sollte ich umkehren, ohne von dem Honig gekostet zu haben!« Ganz erfüllt von den merkwürdigen Dingen, die sie gesehen hatten, kehrten die Kinder auf demselben Pfad, auf dem sie gekommen waren, wieder zurück. Armjon fand auf dem Rückweg eine alte, verrostete Patronenhülse und steckte sie in die Tasche. Der Großvater erwartete sie im Schatten der alten Eiche. Er hatte sich bereits Sorgen um die Kinder gemacht. Als er sie endlich kommen sah, war er außer sich vor Freude, daß ihnen nichts zugestoßen war. »Alle wieder da — und alle heil und gesund?« rief er. »Ist euch nichts zugestoßen? Ein Wunder ist das, einfach ein Wunder! Ihr wagt euch in die Höhle des Satans und kommt, ohne Schaden zu nehmen, zurück! « Großvater Assatur strahlte vor Glück, und die Kinder bemerkten, daß ihr Ausflug in die Höhle des Satans seinen Glauben an diese dunklen Mächte doch stark ins Wanken gebracht hatte. »Infolge der Hitze haben die bösen Geister ihren Höllenbetrieb während der Sommermonate geschlossen«, erklärte Grikor verschmitzt. »Sie sind in ihr Sommerhaus auf der Spitze des Dali-Dagh gezogen. Du hast ja gesehen, die Erde hat nicht gebebt, und kein Sturm hat gewütet.« Der Großvater blickte ungläubig drein. »Nun erzählt mir nur, was ihr dort alles gesehen habt! Habt ihr euch denn zurechtgefunden in dem Teufelskram?« fragte er, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte. »Was wir alles gesehen haben, Großväterchen! Was wir alles gesehen haben!« jubelte Asmik. »Solche Wunder, wie sie noch niemand gesehen hat... Es ist einfach wie im Märchen! « Aufgeregt durcheinanderschwatzend, berichteten die Kinder dem Großvater von allem, was sie in den Höhlen entdeckt hatten. »Alles, was in den Höhlen ist, haben Menschen dort zurückgelassen, das ist sicher«, sagte Armjon bestimmt. »Wir müssen nur noch rauskriegen, wie die Menschen da raufgekommen sind. Das ist das einzige ,Wunder' an der ganzen Sache, und dem werden wir auch noch auf die Spur kommen.« »Sag mal, Großväterchen, hast du dies vielleicht mal verloren, als du in deiner Jugend auf die Jagd gegangen bist?« Der alte Jäger nahm die Patronenhülse in die Hand und betrachtete sie aufmerksam. »Ich habe euch ja erzählt, daß der Jäger Karo hier in die Berge hinaufgestiegen ist - Friede seiner Asche«, sagte der Großvater ganz feierlich, wie er das so gerne tat. »Das war ein verwegener Jäger! In unserer Gegend hat auch nur er ein solches Gewehr gehabt - die Hülse stammt sicher von ihm. Zu seiner Zeit gingen die Menschen noch mit Steinschloßflinten auf die Bärenjagd. Da kam es wohl vor, daß der Stein herausfiel oder kein Feuer schlug — dann war das Unglück groß! Der gereizte Bär richtete sich hoch und ging auf den Jäger los. Man mußte mutig sein, um in einem solchen Augenblick nicht den Kopf zu verlieren. Damals gab es noch viele Bären in diesen Bergen.« »Hier kommen doch Gemsen und Ziegen kaum durch«, staunte Kamo, »wie konnten denn Bären diese schmalen Pfade hochklettern? « »Dafür sind es eben Bären — der Honig lockt und benebelt sie. Blindlings gehen sie dem Honigduft nach.« »Es geht ihnen wie mir«, sagte Grikor und lachte. Doch der Großvater konnte sich nicht über den ungewöhnlichen Fund beruhigen. Immer wieder untersuchte er die Patronenhülse und murmelte vor sich hin: »Ach, Karo, Karo, was hast du doch für ein gutes Herz gehabt. Was warst du für ein treuer Freund! « Er hatte die Kinder offenbar ganz vergessen und schien sich im Geiste mit seinem Freunde Karo zu unterhalten. Dicke Tränen kullerten über seine runzligen Wangen. Die Kinder unterhielten sich so lebhaft über alles, was sie gesehen und erlebt hatten, daß sie im Dorf anlangten, ehe sie sich's versahen. Armjon und Kamo gingen gleich zu Aram Michailowitsch, um ihm zu erzählen, was sie alles gesehen hatten. Er hörte seinen Schülern erst gelassen zu, aber schließlich wurde auch er von ihrer Aufregung angesteckt. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, rief er. Und als sie ihren Bericht beendet hatten, stand der Lehrer auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor ihnen stehen und fragte: »Was wollt ihr nun machen? Auf welche Weise wollt ihr zu den Höhlen gelangen?« Armjon und Kamo blickten sich an, und Armjon sagte unsicher: »Wir haben gedacht, es ginge vielleicht mit einer Feuerwehrleiter... als Brücke über die Schlucht...« Der Lehrer lächelte. »An einer Leiter kann man hinaufsteigen, aber als Brücke läßt sie sich nicht verwenden. Wieviel Meter mögen es von der Felsenspitze bis zum Höhleneingang sein?« »Ungefähr sechzig Meter«, meinte Kamo. »Man müßte eine Strickleiter von dieser Länge auftreiben oder anfertigen und sich an ihr von oben herunterlassen. Kamo, du mußt nach jerewan fahren — du bist dort bekannt und wirst am ehesten finden, was gebraucht wird. — Wir wollen Kamo schicken«, entschied der Lehrer. Am Tage darauf fuhr Kamo nach Jerewan. Ein Land verändert sein Gesicht Kamo war nach dem Kriege die Strecke noch nicht wieder gefahren. Vieles hatte sich in diesen Jahren verändert! Von den Ufern des Sewan-Sees bis unmittelbar nach Jerewan verlief die Chaussee parallel zur Sanga; bald näherte sie sich dem Fluß, bald machte sie eine Biegung und schlängelte sich am Fuße der Berge entlang, die bis zum Flußufer hinabreichten. Aus einer Schlucht klang das Rattern von Maschinen. Von Zeit zu Zeit wurden Felsen gesprengt. Der ganze Berg schien zu beben. »Es wird ein Kanal für den Sangafluß gebaut«, erzählte einer der Reisegefährten. »Bald wird man von hier nach Jerewan auch zu Wasser fahren können.« Der Autobus, in dem sie fuhren, blieb stehen: ein Zug kam vorüber. Auf einem Gleis, das eigens zu diesem Zweck gelegt worden war, wurden Bagger und andere Geräte für die im Bau befindlichen Kraftwerke herangeschafft. Als der Zug vorüber war und der Autobus den letzten Ge-birgskamm erreichte, breitete sich vor Kamos Blicken in ihrer ganzen Schönheit die Ebene des Ararat aus. An der einen Seite der fruchtbaren grünen Ebene zog sich die Kette der Ausläufer des Kaukasus hin, und ihnen gegenüber stiegen die armenischen Berge empor. In weiter Ferne, tief unten im Tal, glitzerte wie ein silbernes Band, das sich im Zickzack hinschlängelte, der Fluß Aras. In Dunst eingehüllt, gleichsam mit einem weißen Turban gekrönt, verlor sich der Gipfel des Großen Ararat in den Wolken. Von seinem Haupte leuchteten die ewigen Schneefelder. Ähnlich einem Zuckerhut ragte neben dem Großen der Kleine Ararat empor. Kamo, der seinen Platz neben dem Fahrer eingenommen und sich mit ihm angefreundet hatte, bat plötzlich: »Ach bitte, warten Sie ein wenig ', ich möchte mich so gerne umschauen. « Er wandte seinen Blick von den schneeigen Berggipfeln hinab in die Ebene. In zarten violetten Dunst gebettet, lagen, zwischen dem Grün der Felder verstreut, zahlreiche Siedlungen. Schlank reckten sich die Schornsteine der neu errichteten Fabriken gen Himmel. »Wie heiß ist es um diese Jahreszeit in der AraratEbene?« wollte einer der Mitreisenden wissen. »Sehr heiß«, meinte ein anderer. »Darum haben auch die Früchte sonst nirgends ein solches Aroma und solch süßen Saft wie die der Ararat-Ebene.« In diesem Augenblick erregte eine neues, Kamo noch völlig unbekanntes Bild seine Aufmerksamkeit. Zwischen den steinigen Abhängen längs der Chaussee schoß ein breiter Fluß herab und ergoß sich ungestüm in sein neues, frisch auszementiertes Bett. Sprudelnd und schäumend strömte das Wasser darin der Ararat-Ebene zu. »Nanu, hier war doch sonst kein Fluß. . .«, staunte Kamo. »Das ist die Sanga. Man hat sie durch unterirdische Kanäle hierhergeleitet«, antwortete der Fahrer so stolz, als sei er selbst am Bau dieser Kanäle beteiligt gewesen. Der Autobus fuhr jetzt bergab, der breiten Ebene zu. Jerewan war zwar noch nicht zu sehen, doch man spürte bereits den Atem der Stadt. Allmählich tauchten in der Ferne die Schornsteine neuer Fabriken auf. Über ihnen kräuselten sich weiße Rauchwölkchen und verloren sich in den Bergen. Auf einer Anhöhe, nicht weit von Kanakir, wurde mit Hilfe gewaltiger Maschinen Wasser geschöpft, das sich dann als weißer Gischt in die Tiefe stürzte. »Was ist das? Diese Anlage habe ich früher nie gesehen.« »Die gibt es auch noch nicht lange. Es ist ein Wasserhebe-werk«, erklärte einer der Mitreisenden. »Das Wasser wird mit elektrischen Pumpen aus der SangaSchlucht heraufgepumpt und dann durch Kanäle zur Bewässerung neuangelegter Wein-berge weitergeleitet.« Kamo konnte sich vor Staunen gar nicht fassen. Vor kurzem war hier eine Wüste, dachte er. Sein Erstaunen wuchs aber noch, als sich der Autobus der Stadt näherte. Auf den ehemals ausgedörrten, steinigen Anhöhen, die Jerewan umgaben und auf denen es früher von Schlangen und Skorpionen gewimmelt hatte, erhoben sich jetzt die riesigen Bauten neuer Fabrikanlagen. Zur Linken breitete sich eine weiß schimmernde Siedlung aus. In den Gärten rings um die kleinen Häuser sprudelte überall das belebende Wasser des Sangaflusses. Noch eine Biegung, und nun zeigte sich den Blicken der Reisenden die Stadt Jerewan. In das Grün der Gärten gebettet und an drei Seiten von Anhöhen umgeben, lag die Stadt in einer Bucht der weiten Ararat-Ebene vor ihnen. Kamos Herz schlug laut und schnell vor Freude und Erregung. Er war in Jerewan geboren. Hier hatte er als kleiner Junge gespielt... Der Autobus hielt. Kamo stieg aus, bedankte sich bei dem Fahrer und bog in einen Weg ein, der zwischen Gärten hindurchführte. Links und rechts leuchteten hinter den Zäunen im grünen Laub die reifenden Aprikosen. Sie hatten sich förmlich mit Sonnenwärme vollgesogen. Eine ältere Frau, die hinter einem Zaun stand, fragte Kamo: »Woher kommst du denn, mein Junge? Wo bist du zu Hause?« »Ich wohne jetzt am Ufer des Sewan-Sees«, antwortete Kamo. »Am Sewan? Nun, komm, hier hast du ein paar Aprikosen. Die gibt es dort nicht.« Und ohne auf Kamos Widerspruch zu achten, füllte ihm die freundliche Frau seine Mütze mit den köstlichen reifen Früchten. Sie hatte recht, daheim, in der wasserarmen, waldlosen Gegend, gab es kein solches Obst. Nicht umsonst werden die Aprikosen vielfach als ,armenische Früchte' und die AraratEbene als ihre Heimat bezeichnet. In der ganzen Welt lassen sich keine anderen Aprikosen, weder im Aroma noch im Aussehen, mit den Aprikosen Jerewans vergleichen ... Ungeduldig, noch mehr zu sehen, ging Kamo weiter. Wie groß war seine Heimatstadt geworden! Sie kam ihm auch viel schöner vor. Da, wo sich früher ein altes Gäßchen mit Lehmbauten hingezogen hatte, erstreckte sich jetzt die schöne Stalinallee. Zu beiden Seiten standen große, prächtige Häuser aus schwarzem, rotem, rosa und hellgelbem Tuffstein. Die Stadt Jerewan ist auf den Ablagerungen vulkanischer Lava gebaut. Die Bodenschätze sind fast unerschöpflich. Vor vielen Jahrtausenden hatte sich die Lava über diese Landschaft ergossen, sie war versteinert und hatte im Laufe der Zeit den wertvollen, in verschiedenen Farben aufeinandergeschichteten Tuffstein gebildet. Die Bewohner Jerewans brauchten das Material zum Bau ihrer Häuser nicht von weit her heranzuholen. Kamo konnte sich erinnern, wie er als kleiner Junge oft vor der Werkstatt eines Steinmetzen stehengeblieben war, um ihm bei der Arbeit zuzusehen. Der Tuffstein ist, wenn er ausgegraben wird, weich wie Holz; er wird zersägt und abgeschliffen. Manchmal hatte Kamo Steine, so groß wie er selber war, aufgehoben, so leicht ist dieses Gestein. »Sag, Väterchen«, hatte er einmal gefragt, »wie kommt es, daß man aus so weichen Steinen Häuser bauen kann? Werden sie nicht einstürzen?« Der Alte hatte gelächelt. »Weich ist der Tuff stein nur, wenn er eben erst aus der Erde gekommen ist. Mit den Jahren wird er hart, und die daraus gebauten Mauern sind sehr fest.« Kamo sah sich weiter in der Stadt um. Erstaunt stellte er fest, daß in den letzten Jahren in der Ararat-Ebene, unterhalb Jerewans, eine neue Industriestadt, aus dem Boden gewachsen war, mit langen Reihen gewaltiger Bauten und gut angelegten Arbeitersiedlungen, die sich bis zum Ufer der Sanga erstreckten. Er sah Elektrizitätswerke, die sich in Reih und Glied am Flußufer entlangzogen. In Kupferkabeln wurde die von der Wasserkraft des Sangaflusses erzeugte Energie den in der Ararat-Ebene errichteten Baum-wollfabriken, Konservenfabriken und Pumpstationen zugeleitet. Das Wasser wird hier mit elektrischer Kraft aus dem Aiger-gjol-See auf die Anhöhen gehoben, und von dort stürzt es herab und ergießt sich in Kanäle, die die Baumwollplantagen und Weinberge bewässern. Alle Werkstätten, Fabriken und Industrieanlagen der Ararat-Ebene werden durch die Sanga in Betrieb gesetzt. Die Kraft der Sanga aber ist die Kraft des Wassers, das sich im Laufe der Jahrhunderte im Sewan-See angesammelt hat. In jerewan suchte Kamo als erstes die Redaktion der Pionierzeitung auf, denn er hatte Berichte für die Zeitung geschrieben. Das junge Mädchen, bei dem sich Kamo erkundigte, ob der Redakteur zu sprechen sei, wies freundlich auf eine zum Nachbarzimmer führende Tür. Hinter einem großen Schreibtisch saß, über eine Zeitung gebeugt, ein noch junger Mann. Es war der Redakteur. Gerade läutete das Telefon. Der Redakteur nahm den Höre ab und sprach mit jemand. Als er Kamo bemerkte, wies e einladend auf einen Sessel. Während der, Redakteur telefonierte, musterte ihn Kamo insgeheim. Die hohe Stirn, die schwarzen Haare, die dunkel braunen Augen und die selbstsichere Stimme gefielen ihm gut Nachdem der Redakteur den Hörer wieder aufgelegt hatte wandte er sich an Kamo. »Guten Tag, mein Freund, willst du zu mir?« »Ja, ich bin Ihr Korrespondent Kamo, aus dem Dorfe Litschk am Sewan.« »Ah, aus Litschk! Ich kann mich erinnern...« Der Redakteur sah Kamo freundlich an. Der schlanke .Junge mit dem frischen, sonnenverbrannten Gesicht machte einen guten Eindruck auf ihn. »Ihr scheint mir ja tüchtige Kerle zu sein«, sagt er. »Übrigens, deine Berichte sind immer recht ordentlich geschrieben. Nun, wie steht es — bekommt ihr jetzt genügend Gerste für eure Geflügelfarm?« »Woher wissen Sie davon?« staunte Kamo. »Woher wir das wissen? Nun, dazu sind wir doch da. Ist es nicht unsere Pflicht, den Pionieren zu helfen, wenn ihnen die nötige Unterstützung versagt wird? Wie ist es also, bekommt ihr jetzt Futter?« »Ja, und außerdem haben wir Land bekommen und ernten bald selbst.« Der Redakteur lächelte. »Na, und sonst? Womit hapert's in eurer Farm? Oder habt ihr euch noch was Neues ausgedacht?« Kamo erzählte ausführlich von ihrem Ausflug auf den Tschantschakar, von den Höhlen und von dem, was sie dort gesehen hatten. Als Kamo zu Ende war, sagte der Redakteur: »Das ist sehr interessant. Schade, daß ich keine Zeit habe, sonst würde ich selber hinkommen, um zu sehen, was das für Höhlen sind. Wie kann sich der Tschantschakar erdreisten, solchen Burschen wie euch Widerstand zu leisten? Richtige Draufgänger seid ihr j a ! Schwierigkeiten müssen überwunden werden, und Aram Michailowitsch tut gut daran, daß er euch hilft. Ich habe aber gehört, daß ihr zuweilen den Mut sinken laßt. Das ist natürlich zu verstehen. Es ist keine Kleinigkeit, den Tschantschakar zu besteigen oder die Geheimnisse des Gilli-Sees und der Schwarzen Felsen zu lüften. Auch mit eurer Geflügelfarm habt ihr ja noch Sorgen. Die Schwierigkeiten sind sicher groß; doch das schadet nichts! Der Kampf mit der Natur soll der Lebensinhalt junger Menschen sein.« Als der Redakteur hörte, weswegen Kamo nach Jerewan gekommen war, nahm er sogleich den Telefonhörer auf und wählte eine Nummer. Er sagte jemandem am anderen Ende der Leitung, daß eine Alpinistenausrüstung gebraucht würde. Sein Gesprächspartner schien sich ablehnend zu verhalten, denn in den schwarzen Augen des Redakteurs blitzte es zornig auf. »Woher sollen Pioniere Geld haben?« entrüstete er sich. »Die Ausrüstung werden Sie mir leihen und auch von mir zurückerhalten... Nun also, das ist etwas anderes... Gewiß, gewiß. . . « Der Redakteur nickte zustimmend. Nachdem er den Hörer wieder aufgelegt hatte, sagte er befriedigt zu Kamo: »So, das hätte geklappt. Du wirst alles bekommen, was d brauchst! « Dann ließ er seinen Sekretär kommen und gab ihm folgend Anweisung: »Höre dir den Bericht dieses jungen Freundes an. Schreib dir aber alles auf. Dann halte bitte in der Zeitung eine Spalte für einen Artikel über die Geflügelfarm frei, die von den Pionieren des Dorfes Litschk gegründet wurde ... Und du, Kamo schreibe auch selbst einen Artikel, den wir an die ,Pionerskaja Prawda' einsenden werden. Das ganze Land soll von den Versuchen unserer Pioniere aus dem Dorfe Litschk erfahren.« Kamos Bericht wurde angehört und alles aufgeschrieben. Anschließend wurde er fotografiert und dann in das Amt für Sportangelegenheiten geschickt. Dort bekam er die erbetene Ausrüstung. Noch am gleichen Abend wurde Kamo in den ,Palast der Pioniere ' geführt, wo er über die Vogelfarm, auf der Wildvögel gezüchtet wurden, berichten mußte. Zwei Tage später sauste er in einem Kolchos-Auto wieder heimwärts. Er hatte eine Strickleiter, Stöcke mit Haken und andere von Alpinisten benötigte Ausrüstungsgegenstände bei sich. Außerdem hatte er die neueste Nummer der Pionierzeitung mitgenommen; auf einer Seite unter der Überschrift ,Neue Wege junger Pioniere im Dorfe Litschk' war ein langer Artikel abgedruckt. In der Mitte des Artikels stand Kamos Bild. Armjon wälzte sich die ganze Nacht schlaflos von einer Seite auf die andere — die Eindrücke des verflossenen Tages ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Auch die anderen Kinder hatten eine unruhige Nacht gehabt. Auf den Spuren der einstigen Bewohner der Tschantschakar-Höhlen Einen Tag nach Kamos Abreise nach Jerewan kamen Armjon und Grikor morgens in die Farm. Asmik war nicht dabei - sie hatte die Küken zum Teich getrieben, allerdings war nur noch ein Rest trüben Wassers darin. Die Hitze nahm ständig zu. Seit einem Monat hatte es nicht mehr geregnet, und das am Dorfe vorbeifließende Flüßchen war gänzlich ausgetrocknet. Auch der Teich war beinahe trocken. Die Küken der Wasservögel waren herangewachsen - bald mußten ihnen die Flügel beschnitten werden. Die jüngsten Gänschen, die noch vor kurzem ein gelber Flaum bedeckt hatte, stolzierten jetzt im weißgrauen Gewande einher. Sie waren beweglicher, flinker, aber auch ängstlicher als die Jungen der Hausgänse. Obwohl sie von Anaid und Asmik beaufsichtigt wurden und Großvater Assatur immer aufpaßte, schraken sie bei jedem verdächtigen Geräusch zusammen und waren ständig auf der Hut. Sie waren vorsichtig und mißtrauisch; der an-geborene Instinkt wilder Vögel war ihnen deutlich anzumerken. Im Teich benahmen sie sich ebenso wie die Hausgänse - sie schnatterten miteinander und besprachen sich in ihrer Gänse-sprache, zuweilen zischten sie auch wütend. Der Flaum der jungen Wasserhühnchen war, als sie ausschlüpften, hellbraun, und die winzigen Flügelchen waren an den Rändern mit weißen Pünktchen bedeckt. Jetzt begann sich ihre Farbe merklich zu verändern. Ihr Federkleid wurde dunkler, und sie nahmen nach und nach das Aussehen ihrer Mütter an. Ihr Gefieder hatte meist einen schiefergrauen Farbton, der auf dem Kopfe etwas dunkler, auf der Brust und dem Bäuchlein heller aussah. In dem dunklen Gefieder leuchteten ihre hellroten Augen. Auch Asmiks übrige Pflegebefohlenen nahmen allmählich die Farbe ihrer Eltern an. In dem Tümpel, zu dem der Teich infolge der Dürre geworden war, fanden nicht mehr alle Küken Platz. Oft gab es ein großes Gedränge, und die kleinen Vögel machten einander geräuschvoll die besten Plätze streitig. Armjon und Grikor gingen zu Asmik. »Was meinst du«, fragte Armjon, »sollen wir gar nichts unternehmen, solange Kamo weg ist?« Anstatt einer Antwort hob Asmik ein verendetes Entenküken an den Beinchen hoch. »Der Lagerverwalter gibt keine Gerste mehr heraus«, klagte sie, und ihre Lippen zuckten verräterisch. »Weshalb? Wie kommt er dazu?« brauste der sonst so ruhige Armjon auf. »Er sagt, sie krepieren doch alle, es ist schade um die Gerste.« »Und was sagt der Vorsitzende?« »Wir sollen die Vögel auf den Markt schicken und sie verkaufen. Ohne Wasser sei doch nichts zu machen, sagt er«, erzählte Asmik und fügte hinzu: »Der Lagerverwalter murrt jedesmal, wenn er Gerste rausgeben soll. Er ist schuld daran, daß Onkel Bagrat die Lust an der Sache verloren hat.« »Weißt du was, Asmik, wir werden zu Aram Michailowitsch gehen«, schlug Armjon vor. »Ach bitte, tut das, ich werde ins Lager laufen, vielleicht gelingt es mir doch, den Verwalter zu erweichen«, antwortete Asmik. Sie wischte sich rasch die Tränen aus den Augenwinkeln und legte das inzwischen verendete Küken behutsam auf die Erde. »Laß den Kopf nicht hängen, Asmik, bald ist unsere eigene Gerste reif!« tröstete Armjon. »Leicht gesagt — laß den Kopf nicht hängen! Werden unsere Vögel es so lange aushalten?« antwortete Asmik und zeigte auf die Küken. »Und du hast aus dem Teich noch so viel Wasser für das Gerstenfeld genommen! Wo soll ich die Küken jetzt schwimmen lassen? Sie sind doch so süß, und sie tun mir so leid . . .« »Aber die Gerste vertrocknet ja sonst«, rechtfertigte sich Armjon. »Und sie ist doch auch für die Küken... Ich habe nicht geglaubt, daß das Flüßchen so schnell versiegen würde... Aber wenn wir jammern, wird's nicht besser!« »Geh mal an den See, dann wirst du sehen, wie gut es dort die wilde Sippschaft unserer Entlein und Gänslein hat, wie sie vor Freude piepsen, wenn sie im Wasser herumschwimmen und plantschen und lärmen. Sieh dir nur an, wie ihre Federn glänzen! Unsere sehen ganz räudig aus ...«, klagte Asmik. Anaid war zu den Kindern getreten. »Armjon, ich habe wohl nicht genug Arbeit gehabt, daß ihr mir noch eine neue Plage aufhalst«, sagte sie mit sanftem Vorwurf. »Seit dem Frühling kennt Asmik kaum noch Schlaf und Ruhe... Immer liegt sie mir in den Ohren: ,Ach, meine Küken sind ohne Wasser! Ach, ein Geier — er wird sich ein Küken holen!' Es braucht sich nur ein Rabe auf die Telegrafenstange zu setzen — schon heißt es: ,Ach, der Räuber! Ich weiß schon, weshalb er dort sitzt, ich weiß, woran er denkt, er will sich ein Küken schnappen! ' — Warum habt ihr nur die Sache mit der Geflügelfarm angefangen? Und nun ist auch noch der Teich ausgetrocknet!... Was soll nun werden?« »Sei nicht traurig, Tante Anaid«, sagte Grikor. »Wenn es ganz schlimm wird, schlachten wir alle Vögel und essen sie auf. Ich verspreche, tüchtig dabei zu helfen«, scherzte er. »Aber darf Asmik nun mit uns auf den Tschantschakar kommen?« »Ach, Junge, was hat ein kleines Mädchen auf dem Tschantschakar zu suchen? Vorgestern habt ihr sie auch mit in die Berge geschleppt. Sie hat sich ihre Schuhe ganz zerrissen. Was habt ihr dort zu suchen?« »Was wir dort zu suchen haben? Kann man denn hier ruhig sitzen, wenn es in den Höhlen des Tschantschakar einfach von Honig trieft?... Komm, Asmik!« »Es handelt sich nicht nur um den Honig«, fügte Armjon erklärend hinzu. »Wir wollen rauskriegen, auf welche Weise Menschen in die Höhlen kamen, und wir wollen versuchen, an die alten Gerätschaften heranzukommen, die in den Höhlen zurückgeblieben sind.« »Davon verstehe ich nichts, Armjon; aber wenn du dabei bist, kann Asmik meinetwegen mitgehen. Auf dich kann ich mich verlassen. Auf diesen Schlingel da verlasse ich mich nicht«, lachte Anaid und deutete auf Grikor. Die Kinder nahmen Schaufeln und Spitzhacken und machten sich auf den Weg. Sie hatten sich kaum einige Schritte von der Farm entfernt, als Grikor bereits zu murren anfing. »Was ist dir nur eingefallen, Armjon? Was du alles haben willst! Wenn es um Honig geht, komme ich mit; geht es aber um altes Gerümpel - dann bleibe ich lieber bei meinen Kälbern. « »Wenn wir rausfinden könnten, wie die Menschen in diese Höhlen gekommen sind, werden wir auch den Honig rausholen«, tröstete Armjon. Grikor war nun doch einverstanden und ging mit. Als die Kinder den Fuß des Tschantschakar erreicht hatten, stiegen sie in der Schlucht bis zu der Stelle hoch, an der der Tschantschakar und die Schwarzen Felsen so nahe aneinander rücken, daß sie sich fast berühren. Die steilen Felswände bilden hier einen schmalen Korridor, der wirklich einer Großstadtstraße mit Wolkenkratzern zu beiden Seiten gleicht. Die Kinder standen nun sozusagen auf dem ,Fahrdamm' und schauten hinauf, wo sich hoch oben die dunklen Umrisse der Höhleneingänge abzeichneten. Es war ein heißer Tag. In der Schlucht regte sich kein Lüftchen, und die Steine waren von der Sonne so durchglüht, daß man sich kaum darauf setzen konnte. Immer wieder wischten sich die Kinder den Schweiß von der Stirn und mußten sich ausruhen. »Selbst eine Katze kann auf diese Felsenspitzen nicht hinauf. Wie haben es nur die Menschen fertiggebracht?« überlegte Armjon. »Vielleicht haben sie die Felsenwände durch eine Brücke verbunden, auf der sie dann von den Schwarzen Felsen auf den Tschantschakar hinübergegangen sind?« meinte Asmik. »Einen anderen Weg kann ich mir nicht denken.« Die Kinder schwiegen eine Weile. Was ist zu tun? Womit soll man anfangen? dachte jedes für sich. Ein verdorrter Baum, der sich durch eine Felsspalte zwängte, erregte Armjons Aufmerksamkeit. »Das war doch eine Eiche«, sagte er, »wie ist die hierher gekommen?« Nachdem Armjon mehrere Steine ausgegraben und beiseite geworfen hatte, lockerte er mit der Spitzhacke an zwei, drei Stellen das steinige Erdreich und legte die Wurzeln des morschen, aber einstmals großen und kräftigen Baumes frei. Ein paar schmächtige, grüne Sprosse ragten aus dem Boden hervor; es waren aus den Wurzeln geschossene wilde Triebe. Armjon dachte lange nach. Plötzlich hellten sich seine Züge auf, und er rief seinen Gefährten in freudiger Erregung zu: »Jetzt ist mir alles klar! Hier hat ganz früher eine mächtige Eiche gestanden. Ihre Wipfel müssen bis zur Mitte des Felsens gereicht haben, also bis zum Eingang zu der Bienenhöhle. Die Menschen sind an dieser Eiche hochgeklettert. Auf dem gleichen Wege haben sie ihre Geräte hinaufgeschafft.« »Weshalb sind die Menschen denn in die Höhlen gezogen?« wollte Asmik wissen. »Um sich vor irgendwelchen Feinden zu retten natürlich«, antwortete Grikor. »Es ist erwiesen, daß hier im Gebirge in früheren Zeiten Menschen in fast unzugänglichen Höhlen gelebt haben.« »Und was ist aus der Eiche geworden?« fragte Asmik neugierig. '»Die Eiche hat vielleicht der Blitz getroffen. Verstehst du es jetzt? Du kennst doch unseren Dali-Dagh? Die Sonne scheint, es ist ein klarer Tag, aber plötzlich — Wolken, Donner, Gewitter! Sieh nur — schon wieder ziehen Wolken herauf. . . « Und in der Tat, das Gewölk, das sich über dem Dali-Dagh zusammenzog, wuchs schnell an und wurde dunkler und drohen-der. Bald hatte es sich über den ganzen Himmel ausgebreitet und stand wie eine dunkle Wand über dem Sewan. Grelle Blitze zerrissen diesen schwarzen Umhang mit ihren feurigen Strahlen und beleuchteten für Augenblicke den dunklen Wasserspiegel. Ein Donnerschlag ließ die Luft erzittern. Armjon und Asmik hatten sich rechtzeitig in den Schutz eines Felsens gerettet und sahen jetzt, wie der Regen in Strömen niederrauschte. Ihre Freude war groß. »Das ist das Richtige für unsere Küken! « jubelte Asmik. »Oh, wie gut ihnen das tun wird! Der Teich wird voll werden, und die Gänschen und Entlein werden schwimmen und plantschen.« Armjon und Asmik hockten sich auf einen Stein, denn sie merkten, daß sie ihren Unterschlupf nicht so bald würden verlassen können. — Es goß mit unverminderter Heftigkeit vom Himmel herab. »Du darfst aber kein Wasser mehr für die Gerste aus dem Teich nehmen«, sagte Asmik bestimmt. »Ich erlaube es nicht.« »Du erlaubst es nicht? Und der Plan? Zwanzig Zentner Gerste von jedem halben Hektar? Übrigens wird das Wasser jetzt nicht nötig sein. Nach einem solchen Regenguß werde ich bis zur Ernte keins mehr brauchen... Grikor, was machst du da?« Grikor stand im strömenden Regen und ließ sich mit Wonne ganze Bäche über das Gesicht laufen. »Ich will mich erfrischen! Seid ihr wasserscheu? Wasser ist eine Himmelsgabe für unsere versengte Erde. Ihr sollt mal sehen, wie jetzt alles grün wird nach diesem Regen! Ihr sollt mal sehen, wie unsere Kälber sich auf das frische Gras stürzen werden! Im Herbst kommen sie dann auf die Viehwaage. Man wird sie wiegen und zu mir sagen: ,Grikor Owsepowitsch, bitte, holen auch Sie sich eine Prämie ab!' Das hätte mir gerade noch gefehlt — mich mit dem lahmen Bein in das Kolchoslager zu schleppen, um die Prämie abzuholen! Und obendrein muß man für das Prämienkalb auch noch einen Platz im Stall zurecht-machen! « sagte Grikor und bemühte sich, seinen Spaß mit dem nötigen Ernst vorzubringen. »Grikor, komm her zu uns, du wirst ja naß bis auf die Haut! Wirst dich erkälten«, warnte Asmik. »Laßt mich, ich fühle mich hier sehr wohl!« Armjon und Asmik mußten ihn mit Gewalt unter den Felsvorsprung ziehen. Dort saßen sie nun dicht beieinander, während in der Schlucht der Donner schauerlich widerhallte, in kurzen Abständen Blitze aufzuckten und der Regen sich in ausgiebigen Strömen über die von Hitze erschöpfte, ausgedörrte und durstige Erde ergoß. Der Angriff auf den Tschantschakar Die Zeitung mit Kamos Bild machte im Dorf die Runde. Man riß sie sich förmlich aus den Händen. Endlich gelangte sie auch zu dem alten Jäger. Großvater Assatur war ganz aus dem Häuschen. »Komm, laß dich umarmen«, rief er und drückte den heftig errötenden Kamo an seine Brust. Auch Bagrat schien erfreut. Ein freundliches Lächeln erhellte jetzt, wenn er den Kindern begegnete, sein sonst so mißmutiges Gesicht. »Jetzt können wir die Farm ordnungsgemäß eintragen, und ich werde anordnen, daß allen, die dort arbeiten, ein Tagelohn ausgesetzt wird.« »Damit nicht genug, Onkel Bagrat — du mußt im Kolchos auch noch neue Familien aufnehmen!« erklärte Grikor. Der Kolchosvorsitzende sah ihn erstaunt an. »Was sind denn das für Neuigkeiten? Welche Familien denn? In unserem Dorf ist die Kollektivierung schon durchgeführt worden, als du noch ein Säugling warst, mein Lieber.« »Bienenfamilien, Onkel Bagrat! Mit Kind und Kegel und Bergen von Honig!« »Aha, vom Tschantschakar!« Bagrat hatte es erraten. »Nun, sollen sie anrücken, die Familien, sie werden uns willkommen sein. Nur glaube ich nicht, daß euch das gelingen wird, was bisher noch keiner fertiggebracht hat... Was willst du?« wandte er sich dann an den Gruppenführer Owsep, der hinzugekommen war. »Du sagst, daß die Mähmaschinen und Sensen fertig sind? Gehen wir! Ich will sie mir selber ansehen.« Und der Vorsitzende entfernte sich, zusammen mit dem Gruppenführer. »Wann brechen wir auf, meine Herren Gelehrten?« fragte Grikor. »Beim Morgengrauen?« »Ja«, antwortete Kamo, »verschlaft nur nicht!« Artusch, der sich in der Nähe herumdrückte und das Gespräch belauscht hatte, stichelte: »Wer hätte das gedacht - eine wissenschaftliche Expedition wird organisiert! Wir Dummköpfe haben natürlich keine Ahnung von unseren Reichtümern gehabt! Kamo aber ist aus der Stadt gekommen und hat sie entdeckt..« »Warum pustest du dich auf?« fragte Kamo und blickte Artusch fragend an. Artusch murmelte etwas Unverständliches. »Darum, weil du den Jungen mit deinen Einfällen den Kopf verdrehst.« »Weshalb ärgerst du dich? Man hat dich mehr als einmal aufgefordert, mitzumachen; du willst aber nicht und hetzt die anderen nur auf.. . Grikor, geh und bitte Aram Michailowitsch, er soll doch mit uns kommen.« »Aram Michailowitsch paßt gar nicht zu euch«, sagte Artusch. »Er ist ein kluger Mensch.« »Da hast du recht; er ist ein kluger und sehr ernsthafter Mensch, und er wird sich gern mit ernsthaften Dingen beschäftigen. Mit seiner Hilfe werden wir vielleicht nicht nur uralte Gegenstände finden, sondern auch Erze, wie es den Pionieren im Altai-Gebirge gelungen ist.« »Schöner Vergleich!« spöttelte Artusch. »Hier hast du es mit dem Dali-Dagh zu tun und nicht mit dem Altai.« »Weißt du nicht, daß die Gebirgskette des Kleinen Kaukasus auch sehr reich an Erzen ist?« fragte Kamo. »Dann hole sie dir doch! Das Gold wartet ja nur darauf, von dir geholt zu werden«, spöttelte Artusch. »Nun, vielleicht finden wir etwas, was noch wichtiger ist als Gold... Kommt, Freunde, laßt uns gehen! « »Ich versteh' nicht, was mit dir ist«, sagte Grikor im Weggehen zu Artusch. »Wenn du vernünftig geworden bist, dann komme zu uns, wir werden gemeinsam arbeiten. . . « »Also, das Bienennest haben wir schon! « erklärte Grikor, als die Kinder, müde und recht erschöpft, endlich die alte Eiche erreicht hatten. »Verwalten werde ich es, und der Großvater, als ältester Bienenzüchter und zugleich Aufseher, wird in den Nächten den Honig vor Bären und Mardern bewachen.« »Ich bin bis an die Grenze meiner Vorväter mitgekommen«, sagte der Großvater mit dumpfer, feierlicher Stimme und blieb an der Eiche stehen. Er nahm seine Kappe vom Kopfe und trocknete sich das in Schweiß gebadete Gesicht. »Und nun wirst du diese Grenze gleich überschreiten«, lächelte Aram Michailowitsch. »Ich? Ich werde die Grenze überschreiten, über die meine Väter nie einen Schritt getan haben?« »Ja, du! Du hast sie ja schon überschritten.« »Wieso denn? Wann denn?« »Als du in den Kolchos eintratest und in ihm ein gutes Mitglied wurdest. Und als du dich mit diesen Jungen Pionieren befreundet hast... Ja, Großvater, du hast deine Vorväter schon längst überflügelt. Nun überschreite auch noch diese Grenze. . . « Bei den letzten Worten nahm der Lehrer den Großvater beim Arm und führte ihn weiter. »Hur-ra-a! Großväterchen hat die Grenze überschritten!« schrien die Kinder und folgten ihrem Lehrer und dem Alten auf dem unwegsamen Pfade, der an der Rückseite des Berges zur Spitze des Tschantschakar hinaufführte. Der Aufstieg war schwer. Aber endlich hatten sie doch den Gipfel erreicht. Der Wind, der vom Sewan herüberwehte, erfrischte die erhitzten Gesichter. In seiner ganzen Ausdehnung, von einem Ufer bis zum andern, konnte man von hier aus den Sewan übersehen. Sein Wasser, zuerst dunkelblau, nahm bei Sonnenaufgang eine helle, heitere Tönung an, und die Schaumkrönchen der Wellen glitzerten so, als wäre von einer unsichtbaren Hand flüssiges Silber über den weiten Wasserspiegel des Sees ausgegossen worden. Ein Teil des Sewan lag noch im Schatten, aber die Wolken zogen schnell nach Westen ab, und immer klarer und strahlender leuchtete der Wasserspiegel. »Seht doch, was für eine große Möwe!« rief Asmik. »Was sagst du - Möwe - das ist doch ein Segelboot des Fischtrusts«, belehrte sie Armjon. »Aber du hast recht, es sieht aus wie eine riesengroße Möwe.« Das Schiffchen mit seinem weißen Segel glitt in der Mitte des Sees dahin und zog hinter sich eine lange schaumige Kielspur her. Während die Aufmerksamkeit der Kinder von dem See in Anspruch genommen wurde, stöberte Tschambar in den Felsen-spalten herum und schreckte Rebhühner auf, die spektakelnd den Sonnenaufgang begrüßten. »Großväterchen!« rief Grikor. »Was hältst du von Rebhühnern? Man sollte welche schießen.« »Laß sie leben, Junge, es ist Brutzeit«, erwiderte der Alte gutmütig lächelnd. Doch die Rebhühner waren so zahlreich und veranstalteten ein solches Konzert, daß sie alle vor Staunen beinahe vergessen hätten, was sie auf den Gipfel des Tschantschakar geführt hatte. Als erster besann sich der Lehrer. Aram Michailowitsch musterte die Felsen genau, um ihre Höhe festzustellen. Dann befestigte er die Strickleiter mit dem einen Ende an einem Felsvorsprung und ließ sie vorsichtig zur Felsplatte vor dem Höhleneingang hinabgleiten. Der Eingang war groß und führte auf eine etwa vier Meter breite Felsenplattform. Der unterste Teil der Strickleiter klappte wie eine Harmonika auf ihr zusammen. »Von hier bis zur Höhle sind es also weniger als sechzig Meter«, sagte der Lehrer. »Seht, wieviel von der Strickleiter noch übriggeblieben ist! « Der Augenblick des Hinabsteigens war gekommen. Eine merkwürdige Unruhe bemächtigte sich der Kinder. Sie hatten etwas Angst; aber der Wissensdurst und die Spannung auf das Neue waren doch stärker. Als erster trat der Lehrer an die Leiter heran, aber Kamo hielt ihn zurück. »Aram Michailowitsch, erlauben Sie, daß ich zuerst hinunter-steige!« »Dir fällt das natürlich leichter als mir«, antwortete der Lehrer, indem er auf die geschmeidige Gestalt des Knaben blickte. »Aber ich trage die Verantwortung für euch alle und bin verpflichtet, den Anfang zu machen.« »Aram, geht es denn nicht, daß niemand von euch in diese verfluchte Höhle zu steigen braucht?« flehte der Großvater ängstlich. »Hab keine Sorge, Großväterchen«, sagte der Lehrer und legte seine Hand auf die Schulter des Greises. »Wir werden hinabsteigen, und du wirst sehen, daß dort keinerlei Teufel hausen.« Hierauf trat er an den Rand des Felsens und setzte den Fuß auf die erste Sprosse der Leiter. Asmik wandte sich ab, doch die Knaben beobachteten ihren Lehrer voller Spannung. Von einer Sprosse auf die nächste tretend, das Gesicht dem Felsen und den Rücken dem Abgrund zugewandt, stieg Aram Michailowitsch die Leiter hinab. Bald entschwand er den Blicken der Kinder. Die Felswand war steil, und was tiefer unten vor sich ging, hätte man nur sehen können, wenn man sich weit vorgebeugt hätte. Nur daran, wie das an dem Felsvorsprung befestigte Ende der Strickleiter zitterte, war zu merken, daß der Lehrer seinen Abstieg fortsetzte. Endlich hörte die Strickleiter auf zu zittern. »Großväterchen, er ist schon unten!« schrie Kamo und neigte sich über den Abgrund. Der Alte klammerte sich an die Felsen und sah ebenfalls vorsichtig nach unten. Aram Michailowitsch stand auf dem Felsplateau und war eben dabei, sich zum Schutz gegen Bienenstiche ein Netz über den Kopf zu stülpen. Die Knaben hatten Mut gefaßt und waren entschlossen, dem Lehrer zu folgen. Aber wer kam nun zuerst an die Reihe? Da trat Großvater Assatur vor, legte die Hand auf seinen Dolch und sprach: »Meint ihr denn, der Enkel des Jägers Assatur werde zulassen, daß ein anderer sich vor ihm in Gefahr begibt?« Kamo lachte und umarmte den Alten. »Heldenblut hat mein Großväterchen in seinen Adern!« sagte er scherzend. Dann trat er an die Leiter heran und stieg behende zur Felsenplattform hinab. Als Asmik ihn unten stehen sah, klatschte sie vergnügt in die Hände und rief laut: »Bravo, Kamo!« Tschambar, der durch die sonderbaren Vorgänge ganz verstört war, lief unruhig hin und her, bellte laut und versuchte über den Felsrand hinunterzusehen, wohin wohl Aram Michailowitsch und Kamo verschwunden waren. Asmik blickte fragend auf die Gefährten: »Wer ist jetzt an der Reihe?« Armjon, der es die ganze Zeit ängstlich vermieden hatte, in den Abgrund zu sehen, wandte sich nun entschlossen der Leiter zu. Aber Asmik griff nach seinem Arm und hielt auch Grikor zurück. »Bleibe du hier bei Grikor«, sagte sie und blickte verstohlen auf dessen lahmes Bein. »Du könntest ausgleiten und stürzen. . .«, stotterte sie. »Wie? Wegen des Beines?« fragte Grikor und zog die Brauen hoch. »Und wenn du noch so bittest, ich muß da hinunter, und wenn ich gar keine Beine hätte.« »Nein, nein, bitte nicht! « flehte Asmik. »Es kann ein Unglück geschehen.« »Ich will mir ja gerade das andere Bein auch brechen, damit du mich bedauern und pflegen sollst«, fuhr Grikor, der ewige Spaßmacher, fort, indem er nach der Strickleiter griff. Asmik machte ein böses, verzweifeltes Gesicht. »Wenn du mich so böse ansiehst, werde ich mich vor lauter Verzweiflung in den Abgrund stürzen«, sagte Grikor mit gekränkter Miene und begann, die Leiter hinabzusteigen. Er kletterte mit solcher Geschwindigkeit hinunter, daß es Asmik so vorkam, als sei er tatsächlich in den Abgrund gestürzt. »Oh, Großväterchen! « schrie sie auf und warf sich dem Alten an die Brust. Armjon war auch etwas beunruhigt. Doch schon nachwenigen Augenblicken drangen von unten Grikors Freudenrufe herauf: »Ach, ihr meine Guten! Mein Leben geb' ich her für eure Liedchen, für eure süßen goldenen Waben! Wartet nur, ich bringe euch allesamt in den Kolchos!« Dann wurde es still. Erst nach längerer Pause hörten sie Grikor begeistert rufen: »Kinder, hier haben wir das Süßeste, was es auf Erden gibt! Ist das ein Honig! Nicht Honig, nein — flüssiges Gold, nicht Wachs — sondern Bernstein!« Grikor verschwand in der Höhle. Die oben Zurückgebliebenen warteten gespannt auf das, was nun weiter geschehen würde. Nach einigen Minuten kam Grikor wieder aus der Felsenspalte hervor. »Vor tausend Jahren haben hier Menschen gehaust!« schrie er. »Was da nicht alles rumliegt... Töpfe, Dolche, Schädel, Knochen... Wahrhaftig, mir steht der Verstand still!« Nach Grikor schaute auch Kamo aus der Höhle heraus. Als er die über den Abgrund lugenden Köpfe des Großvaters und Armjons sah, rief er hinauf: »Geht in die Schlucht zurück! Wir lassen alles, was wir finden, runter.« Die Zeit, die der Großvater, Armjon, Asmik und Tschambar für den Abstieg in die Schlucht brauchten, nutzten Aram Michailowitsch und seine beiden jungen Forscher dazu aus, die Höhle näher zu untersuchen. Die Geheimnisse der Höhlen Aram Michailowitsch und die Knaben standen auf der Felsenplattform und konnten die Wände des Tschantschakar nunmehr aus nächster Nähe betrachten. Linker Hand bemerkten sie eine Höhle, vor der wie eine Wolke ein aufgeregter Bienenschwarm in Bewegung geraten war. Ein Teil der Bienen kam zu dem Felsplateau herüber und summte unheildrohend über den Köpfen der Eindringlinge. Ein Sonnenstrahl fiel in die Höhle, und die Waben, die unmittelbar am Ein-gang einen Teil der Wände bedeckten, waren jetzt deutlich sichtbar. »Wie haben es die Menschen nur fertiggebracht, solche Krüge in die Höhle zu schaffen?« fragte Kamo den Lehrer. »Ja, das ist wirklich ein Rätsel«, antwortete Aram Michailowitsch kopfschüttelnd. »Schade, daß wir an unserer Strickleiter nicht zum Eingang runtergeklettert sind! « »Das braucht uns nicht leid zu tun. Wir wollen jetzt erst diese Höhle gründlich untersuchen. Aber, Kinder, geht mit allem, was wir auch finden werden, recht behutsam um«, mahnte der Lehrer. Sie krochen in die Höhle hinein, und als Kamo sich im Halbdunkel umsah, rief er enttäuscht: »Hier scheint überhaupt nichts zu sein.« »Doch, ich hab' etwas! « antwortete Grikor und brachte aus dem Hintergrund der Höhle vorsichtig ein schweres Tongefäß ans Licht. »Haben unsere Vorfahren vielleicht Milch darin sauer werden lassen? Seht nur, wie groß das Ding ist! Und was ist das hier? Damit kann man ja jemanden töten!« rief Grikor und schwenkte triumphierend einen langen Speer. Jetzt wurde auch Aram Michailowitsch von dem Eifer angesteckt. Hastig griff er nach dem Speer. »Ja, Kinder«, sagte er, »das ist wirklich ein interessanter Fund. Wir wollen die Höhlen gut durchsuchen.« Der Eingang war ziemlich breit; je weiter man aber hinein kam, desto enger und niedriger wurde die Höhle. Der Hintergrund verlor sich ganz im Dunkel. Grikor entdeckte einen Bogen. »Eine Waffe unserer Ahnen!« rief er. »Aber wo sind die Pfeile dazu?« »Die Pfeile werden sie vermutlich auf ihre Feinde abgeschossen haben«, meinte der Lehrer, der einen leeren Köcher gefunden hatte. Grikor tastete sich im Dunkeln weiter, befühlte die Wände und alle Felsvorsprünge, Ecken und Kanten. Plötzlich klirrte es metallen. Grikor hatte mit dem Fuß gegen etwas Hartes gestoßen. Er bückte sich und hob es auf. »Sehen Sie nur, was ich gefunden habe, Aram Michailowitsch!« rief er. Der Lehrer und Kamo richteten das Licht ihrer Taschenlampen auf Grikors Fund. Es war ein kurzes Schwert mit einem schönen geschnitzten Griff. »Das hat sicher einem Fürsten gehört«, meinte Grikor, stolz auf seine Entdeckung. »Ist schon möglich. Es ist ein Seldschukenschwert. Die Seldschuken sind im dreizehnten Jahrhundert in Armenien eingedrungen«, belehrte Aram Michailowitsch die Kinder. »Dann ist es wohl eine Kriegstrophäe?« fragte Kamo. »Das haben sie dem Feind abgenommen, und wahrscheinlich ist es sogar vergiftet«, war Grikors kühne Mutmaßung. »Die Seldschuken vergifteten damals die Spitzen ihrer Speere und Schwerter, das habe ich im Geschichtsbuch gelesen.« »Was ist das für ein Metall?« fragte Kamo. »Es ist nicht verrostet, glänzt aber auch nicht.« »Es sieht aus wie Bronze. Während unsere Väter damals bereits eine hochentwickelte Kultur hatten, befanden sich die Barbaren, die sie überfielen, noch in der Bronzezeit; sie haben damals unsere alte Kultur zerstört«, erklärte Aram Michailowitsch nachdenklich, während er das Schwert in seinen Händen wog. Grikor war viel zu ungeduldig; er hörte die Erklärungen des Lehrers nicht bis zu Ende an. Nachdem er einen so wichtigen Fund gemacht hatte, brannte er darauf, noch Wertvolleres zu finden. »Hier müssen auch Frauen gewesen sein!« rief er bald dar-auf. »Ich habe Ohrringe gefunden.« »Sie sind aus Silber«, sagte der Lehrer, der die Ohrringe ein-gehend betrachtete. »Aber wieso meinst du, daß es Frauenohrringe sein müssen? Vielleicht haben sie Männern gehört — die armenischen Fürsten trugen zu jener Zeit auch Ohrringe... Seht nur, wie kunstvoll sie gearbeitet sind. Ihr müßt wissen, daß in unserem Lande, und namentlich in der alten Stadt Wan, die Goldschmiedekunst in früheren Zeiten sehr hoch in Blüte stand.« Die drei Forscher stöberten weiter in der Höhle herum. Ihre Augen hatten sich bereits an das Halbdunkel gewöhnt. »Seht nur«, jubelte Grikor, als er in einer Ecke auf die Über-reste eines zerfallenen Feuerherdes stieß. »Hier liegen Brat-spieße, Steine, Kohlen, sogar Asche... Und hier Gerippe — Knochen! Unsere Vorfahren haben aber leckere Braten gegessen. Kann man an diesen Knochen nicht feststellen, von welchen Tieren sie stammen, Aram Michailowitsch? Sieht der hier nicht aus wie der Knöchel von einem Reh?« Inzwischen hatte Kamo an der Wand einen großen, schweren Kupferkessel entdeckt, den er keuchend ans Tageslicht schleppte. Der Lehrer war über diesen Fund nicht weniger aufgeregt als seine Schüler. Hätten sie an Stelle dieser verrosteten, einfachen Gerätschaften aus Eisen, Kupfer und Bronze einen ganzen Berg Gold gefunden, sie hätten nicht glücklicher sein können. Diese uralten Gegenstände erzählten von den Menschen, die vor Jahrhunderten hier gelebt und gekämpft hatten, die hier gestorben waren und denen diese Dinge zum Gebrauch gedient hatten. »Seht einmal her, Kinder«, rief der Lehrer, »das hier ist ein Ringpanzer.« Er zeigte den Jungen ein aus Eisenringen zusammengesetztes Kleidungsstück, das Ähnlichkeit mit einer langen Weste hatte. »Und was ist das?« fragte Kamo und hob vom Boden der Höhle einen flachen runden und etwas gewölbten Gegenstand auf, der, wie die Oberfläche einer türkischen Trommel, mit Leder überzogen war und wie eine große Schüssel aussah. »Das ist ein Schild. Seht her, an der Innenseite hat er einen Griff.« »Und die Pfeile haben das Leder nicht durchbohrt?« wunderte sich Kamo. »Die haben aber wenig Durchschlagskraft gehabt. Wenn man sich dagegen vorstellt, daß moderne Geschosse vierzig Millimeter starke Panzerungen glatt durchschlagen.« »Naß auf gespannte Ochsenhaut wird, wenn sie wieder trocken ist, sehr widerstandsfähig«, erklärte der Lehrer, »die Pfeile konnten sie nicht durchbohren. Als die Araber Ende des neunten Jahrhunderts eine Insel im Sewan belagerten, waren sie mit solchen Schilden ausgerüstet. Die Insel war von den Kriegern des armenischen Zaren Aschot besetzt.« »Ist er auf der belagerten Insel ums Leben gekommen?« erkundigte sich Grikor. »Nein, er unternahm einen Ausfall und schlug die Araber. Im ganzen nahmen vielleicht hundert Krieger an dem Ausfall teil... « »Nur so wenig?« staunte Kamo. »In den Kriegen der damaligen Zeit spielte das Wetter eine wichtige Rolle. In dem Augenblick, in dem Aschot mit seinen Kriegern zum anderen Ufer übersetzte, ging die Sonne auf; ihre Strahlen blendeten die Araber so stark, daß sie die Fahrzeuge des Zaren kaum sehen konnten. Daher fielen ihre abgeschossenen Pfeile ins Wasser. .. Ist es nicht wunderbar«, fuhr der Lehrer fort, »wie gut sich hier alles erhalten hat? Die Höhle läßt die Sonne herein, sie ist ganz trocken. Kommt, Kinder, wir wollen unsere kostbaren Funde nach unten bringen. Hole das Seil, Kamo, und du, Grikor, lege alles behutsam in diesen Sack.« Während die beiden Jungen die gefundenen Gegenstände sorgfältig in dem Sack verstauten, war der Lehrer noch tiefer in die Höhle eingedrungen. Die Kinder hörten ihn rufen: »Kommt vorsichtig hinter mir her! Ich habe einen Gang gefunden, der weiter ins Innere des Felsens führt.« Kamo und Grikor eilten ihrem Lehrer nach. Wirklich, im Hintergrund der Höhle war eine Öffnung, die einen schmalen Gang freigab. Kamo leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. Erstaunt rief er dem Lehrer zu: »Dieser Gang muß von Menschen angelegt worden sein. Sehen sie nur die Spuren an den Wänden, sie stammen sicher von einer Spitzhacke oder so etwas Ähnlichem.« »Ihr müßt euch bücken, Kinder, sonst stoßt ihr euch die Köpfe«, sagte der Lehrer. »Der Gang ist sehr niedrig.« Von den beiden Knaben gefolgt, kroch Aram Michailowitsch in den Gang hinein. Schon nach wenigen Schritten machten sie verblüfft halt: der Gang gabelte sich. »Welche Richtung sollen wir einschlagen?« überlegte Aram Michailowitsch. »Gehen wir aufs Geratewohl nach links! « schlug Kamo vor. Der Lehrer bog schweigend nach links ab. Hier war der Gang noch niedriger, und um vorwärts zu kommen, mußten sie auf allen vieren kriechen. Nach und nach wurde es heller. Und gleich darauf standen sie in einer neuen Höhle. Die Jungen jubelten laut. Am Ausgang der Höhle, dicht an dem Abgrund, hockten zwei riesige Vögel. Es waren Königsadler — die größten und stärksten unter den Adlern. Sie hatten ganz weißes Gefieder. Die Flügelränder waren dunkelbraun und die Spitzen der Schwanzfedern tiefschwarz. Das zottige Federkleid ihrer Beine glich weiten Hosen und war ebenfalls dunkelbraun. Als die Adler das Herannahen der Menschen bemerkten, breiteten sie schwerfällig ihre Schwingen aus und glitten hinab in die Schlucht. In einer Ecke der Höhle lag Reisig aufgeschichtet, aus dem junge Adler ihre Köpfe mit den krummen Schnäbeln neugierig hervorstreckten. Angst und Verwunderung spiegelten sich in ihren dunkelbraunen Augen. »Ein Adlernest«, flüsterte Kamo. »Warum fliegen sie denn nicht weg?« fragte Grikor. »Sie sind noch zu klein. Sie können noch nicht fliegen.« »Da sind ja Betten«, rief Kamo. »Ein ganzer Berg Matratzen und Decken!« Er wollte sich darauf stürzen, doch Aram Michailowitsch hielt ihn am Arm fest. »Halt, du darfst nichts anrühren!« rief der Lehrer. Er war genauso aufgeregt wie die Kinder. Seine Hände zitterten, und seine Augen hatten einen ungewöhnlichen Glanz bekommen. Dieser neue Fund mußte offenbar von außergewöhnlicher Bedeutung sein. »Ja nichts anrühren! « warnte er noch einmal. Er ließ seine Blicke prüfend in die Runde schweifen. Die Jungen merkten, daß er fürchtete, die geringste Bewegung könnte etwas zerstören. Es lagen wirklich ganze Berge von Matratzen, Decken, farbigen Geweben und buntgemusterten Teppichen in einer Ecke. Auch über dem dicken Bodenbelag, der anscheinend aus Filz war, lag ein Teppich ausgebreitet, auf dem verschiedene Kissen lagen. Sicher hatten vor vielen hundert Jahren hier Menschen nach orientalischer Sitte mit untergeschlagenen Beinen auf diesem Teppich gesessen. In der Mitte der Höhle standen die Reste eines zerfallenen Herdes, in dem sich noch Kohlen und Asche befanden. Ein halbverkohlter Holzklotz steckte im Feuerloch. Die Decke und die Wände der Höhle waren rauchgeschwärzt. »Auch hier ist gekocht und gebraten worden«, meinte Grikor sinnend, als er des Herdes ansichtig wurde. »Und zum Braten ist auch Wein getrunken worden - seht mal, was für ein riesiger Krug da steht. « Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, daß der ungewöhnlich große Tonkrug bis zum Rande mit glänzenden Glasperlen gefüllt war. »Darüber wird sich Asmik freuen!« rief Grikor. »Du findest die merkwürdigsten Dinge«, meinte Kamo ein wenig neidisch. »Kommt mal her, Kinder!« rief der Lehrer plötzlich. »Seht euch diese Schwerter an - sie sind sehr groß und grob gearbeitet — wahrscheinlich von einheimischen Schmieden in aller Eile geschmiedet, vielleicht sogar erst, als bereits gekämpft wurde und es an Waffen fehlte.« Wieder hatte Grikor etwas Seltsames, Neues entdeckt: ein kurzes dickes Rohr mit einem Holzgriff. Der Lehrer meinte, der daran befestigte Stein sei ein Feuerstein, und dieses merkwürdige Ding müsse ein primitives Schießinstrument sein, und dabei leuchteten seine Augen vor Freude. Vielleicht handelte es sich um eine der ersten Feuerwaffen, deren Anwendung, wie Aram Michailowitsch wußte, die Armenier von den Arabern gelernt hatten. Inzwischen hatten sich Kamo und Grikor zu dem ziemlich hoch angebrachten Adlerhorst geschlichen. Kamo hatte sich an die Wand gestellt. Grikor mußte auf seinen Rücken steigen. »Versuche mal einen oder zwei der Vögel aus dem Nest zu nehmen«, befahl er. »Sie werden mich beißen«, erwiderte Grikor. »Wozu brauchen wir denn junge Adler?« »Für unsere Versuchsfarm«, entgegnete Kamo. »Wir werden ihnen einen großen Käfig bauen.« Grikor griff in das Nest, doch einer der jungen Vögel hackte böse nach seiner Hand. Grikor schrie auf, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. »Was ist denn los?« wollte Kamo wissen. »Einer hat mich gebissen«, empörte sich Grikor und hielt seinen blutenden Finger hoch. »Und du willst ein Mann sein!« spottete Kamo. »Stell du dich jetzt mal hin, ich werde auf deinen Rücken klettern.« »Du bist mir zu schwer«, widersprach Grikor, »aber immer noch besser, als daß ich diese Biester noch mal anfasse.« Kamo, der geschickter war als Grikor, warf seine Mütze auf einen der jungen Vögel, packte ihn und sprang von Grikors Rücken herab. Er betrachtete seine Beute genauer, hielt aber dem jungen Adler dabei den Schnabel zu. Er war ungefähr so groß wie ein stattliches Huhn. Seine Federn waren um einen Ton heller als die der Alten; aber auch er hatte struppige Hosen an. Kamo hatte noch nicht Zeit gehabt, sich den jungen Adler richtig anzusehen, als ein schriller Pfiff erscholl und die Adlermutter flügelschlagend in die Höhle schoß. Mit ihren mächtigen Schwingen schlug sie auf Grikor ein. Kamo war mit seiner Beute in den Hintergrund geflüchtet. Aram Michailowitsch hatte so-fort geistesgegenwärtig eine verrostete Spitzhacke ergriffen und war Grikor zu Hilfe geeilt. Der schrie wie am Spieß und hielt Arme und Hände schützend vor das Gesicht, obwohl die Adlermutter schon längst wieder davongeflogen war. Sie blieb in der Nähe des Höhleneingangs sitzen, schlug aufgeregt mit den Flügeln und war entschlossen, ihren Jungen, die angstvoll piepten, sofort zu Hilfe zu eilen, sollte sich nochmals jemand an sie heranwagen. Kamo aber hatte seinen gefangenen Adler so fest in seine Jacke gewickelt, daß er sich nicht bemerkbar machen konnte. Die Adlermutter, die nichts von dem Raub wußte, verzichtete auf weitere Angriffe. Nachdem sich die Aufregung über den Zwischenfall gelegt hatte, mußte Kamo doch herzlich lachen. Gutmütig neckte er den Freund: »Nun, Grikor, wie geht's? Lebst du noch?« »Die ganze Schulter hat mir das Biest zerfetzt«, jammerte Grikor und nahm, wie immer, den Mund sehr voll. Aber Kamo lachte nur. »Nichts von Bedeutung«, rief er, als er die Schulter untersucht hatte. »Nur ein paar Schrammen. Denke nur, wie sie im Dorfe staunen werden, wenn wir mit einem jungen Adler ankommen. So etwas ist eine Seltenheit. Da kann man ruhig ein paar Kratzer mit in Kauf nehmen.« Kamo band seinem Gefangenen die Füße zusammen und trug ihn in die dunkelste Ecke der Höhle. Dabei hatte ihm der junge Raubvogel doch noch die Hände blutig gekratzt und das Hemd gehörig zerfetzt. Der Junge trat dicht an den Rand des Abgrundes: »Asmik, Armjon«, schrie er in die Schlucht hinunter, »wir haben einen jungen Adler gefangen!« Asmik rief zurück: »Laß ihn sehen!« »Warte, ich hole ihn gleich!« versprach Kamo. Als er dann aber die Adlermutter sah, die über der Schlucht kreiste, hielt er es doch für klüger, seinen gefangenen Raubvogel nicht zu zeigen. Die Jungen kehrten nun zu Aram Michailowitsch zurück, der noch immer im Hintergrund der Höhle herumstöberte und nach neuen Schätzen suchte. In diesem Augenblick entdeckte Grikor ein menschliches Skelett, das in sitzender Stellung an der Wand lehnte. Zu Tode erschrocken, wich er zurück, stolperte und fiel auf die Kissen. Und nun geschah etwas sehr Merkwürdiges. Die Kissen und Teppiche, die doch eben noch dagewesen waren, die sie alle deutlich gesehen hatten, waren zu Staub zerfallen. Kamo stand wie versteinert; Aram Michailowitsch aber war sehr ungehalten. »Ich habe doch gesagt, seid vorsichtig«, schimpfte er ärgerlich. Doch als er Grikors Blicken folgte, erschrak auch er— so unheimlich war der Anblick des hier seit Jahrhunderten modernden Skeletts, das auf den Knien ein riesiges Schwert liegen hatte. Auch dem sonst so unerschrockenen Kamo lief es kalt über den Rücken. Als sich Grikor wieder aufgerichtet hatte, stand er eine ganze Weile völlig verstört da. Er brachte zunächst kein Wort heraus. Schließlich fragte er angstvoll flüsternd: »Was ist eigentlich passiert? Weshalb ist alles verschwunden? « Auch Kamo wollte wissen, ob es richtige Betten gewesen waren. »Natürlich«, erwiderte Aram Michailowitsch. »An dieser Decke kannst du es sehen. Sie ist noch unversehrt. Sieh nur, wie sich sogar die Farben frisch erhalten haben. Unsere Vorfahren gewannen ihre Farben aus Pflanzen. Das Geheimnis der Zubereitung ist uns leider unbekannt.« »Aber wieso ist denn alles in Staub zerfallen?« fragte Kamo verwundert. »Es war schon alles zerfressen und mürbe. Solange diese Dinge von niemand berührt wurden, behielten sie Form und Farbe, doch die geringste Berührung genügte, wie ihr eben gesehen habt, um alles in Staub aufzulösen.« Grikor, dem das Erlebnis mit dem Skelett noch in den Gliedern saß, dachte sehnsüchtig an das Honigparadies. Wortlos verschwand er in einem der Seitengänge. Als er zu der Stelle kam, an der die Gänge sich gabelten, schlug er den anderen Weg ein, der nach seiner Meinung zur Bienenhöhle führen mußte. Es war finster und feucht in dem Gang. Kälte schlug ihm entgegen, und die Wände trieften vor Nässe. Eine schleimige, klebrige Masse überzog sie. Es wurde dem Jungen recht unheimlich zumute, und fast wäre er umgekehrt. Aber Grikor dachte nur noch an den Honig: er mußte ihn finden, mag kommen was wolle. Also blieb Grikor nichts anderes übrig, als auf den Knien weiterzurutschen. Er arbeitete sich in der Dunkelheit langsam vorwärts, dabei schürfte er die Ellenbogen ab, daß sie bluteten. Endlich schimmerte von weitem ein wenig Licht. Grikor kroch weiter und sah nun eine breite Öffnung, die von zahllosen Bienen umschwärmt wurde. In der Honigfabrik der bösen Geister Hurra, da wären wir«, triumphierte Grikor laut, um sein Angstgefühl, das ihn immer noch nicht verlassen hatte, loszuwerden, »hier ist ja der Honig!« Vorsichtig drang er in der großen Höhle weiter vor, in der es von Bienen wimmelte. Die Bienen, die offenbar Menschen gar nicht kannten und noch keine schlechten Erfahrungen mit ihnen gemacht hatten, achteten nicht auf Grikor und ließen ihn unbehelligt. So konnte er die Bienenhöhle genauer untersuchen. Er fand eine Reihe größerer und kleinerer Tongefäße, mit und ohne Henkel, doch alle hatten weite Öffnungen. Vielleicht hatten die Menschen früher Milch und Käse darin aufbewahrt. Ein rußgeschwärztes Tongefäß brachte Grikor auf den Gedanken, daß die Menschen, die einst hier gehaust hatten, es zum Kochen gebraucht hatten. Doch jetzt waren alle diese irdenen Gefäße, ob groß, ob klein, zu Wohnungen für die Bienenvölker geworden; sie enthielten durchweg kunstvolle Waben und waren mit dickem goldgelbem Honig gefüllt. Grikor war über all das sehr verwundert, und er wollte das gleich jemandem erzählen. Vorsichtig kroch er bis zum Rande der Felsenplatte und spähte in die Schlucht hinab. Seine Freude war groß, als er Armjon und Asmik sah, die unten standen und sich schier die Hälse verrenkten. Dicht neben ihnen stiegen blaue Rauchwölkchen hoch. Das mußte Großvater Assaturs Pfeifchen sein. Er selber war von hier oben nicht zu sehen. Grikor beugte sich, so weit es ging, über den Abgrund und schrie den Freunden zu: »Die Bienen haben hier alles mit Honig gefüllt.« Außer sich vor Freude, hüpfte Grikor auf seinem gesunden Bein dicht am Rande des Abgrundes, so daß Asmik entsetzt die Augen schloß und laut aufschrie: »Du wirst abstürzen, sei doch bloß vorsichtiger.« Grikor aber war schon wieder auf dem Wege zur Höhle. Er hatte entdeckt, daß kleine Vögel darin herumflatterten, die Jagd auf die Bienen machten. Der aufgeweckte Junge blieb ganz erstaunt stehen. Ist es zu glauben, dachte er, daß die Bienen auch Feinde haben? Die kleinen buntgefiederten Vögel — Bienenfresser genannt — verfolgten die Bienen tatsächlich und verschlangen sie im Fluge. Nachdem Grikor dieses neue Wunder der Natur bestaunt hatte, trat er wieder an den Abgrund und rief in die Schlucht hinab: »Armjon, könnt ihr die Schaufel des Gevatters Mukel entdecken?« Asmik lachte hellauf. »Das hast du verwechselt; sie gehörte nicht Gevatter Mukel, sondern dem Jäger Karo!« rief sie hinauf. »Sie ist rechts von dir zu sehen, ganz in deiner Nähe.« Vorsichtig trat Grikor noch einen Schritt vor und spähte nach rechts. Tatsächlich, dort ragte ein langer Stiel durch einen Spalt der benachbarten Höhle hervor. Von der Felsenplatte, auf der Grikor stand, führte ein schmaler Pfad zu dieser Höhle. Grikor mußte sich mit den Händen an den Felsvorsprüngen fest-klammern und vermied ängstlich, in die Tiefe zu blicken, um nicht schwindlig zu werden. Mit einiger Mühe erreichte er den Pfad und gelangte darauf bis zum Eingang der benachbarten Höhle. Es war nur ein tiefer Spalt, aus dem wirklich der dicke Stiel einer Schaufel herausragte. Sie stak fest in den Waben, die, wie es schien, die ganze Höhle ausfüllten. Mit vieler Mühe gelang es Grikor, die Schaufel herauszuziehen. Er mußte sich lange Zeit damit herumquälen. Als sie sich aber schließlich doch lockerte und es ihm endlich gelang, sie durch den Spalt zu zwängen, sah er, daß sie ganz mit Wachs und Honig verklebt war. Ganze Wolken aufgescheuchter, angriffslustiger Bienen umsummten den Knaben, und rasch mußte er sich den Schleier, den er sich vorsorglich eingesteckt hatte, zum Schutz um den Kopf binden. »Großväterchen«, rief er in die Schlucht hinab, »paß auf, ich werfe dir die Schaufel zu.« Und schon flog sie, von aufgeregten Bienen umsummt, nach unten. Großvater Assatur zeterte ängstlich: »Was stellt dieser Tollkopf an? Gleich werden ihn die bösen Geister in den Abgrund stürzen.« Grikor war aber schon wieder zur Höhle zurückgekrochen und besah sich staunend dieses wilde Bienenparadies. So etwas gab es wohl auf der ganzen Welt nicht ein zweites Mal; es war ein riesiges Bienenhaus, und noch nie hatten Menschenhände daran gerührt. Im Innern der Höhle mußten gewaltige Mengen süßen Bienenhonigs angesammelt sein. Grikor überlegte. Wie konnte man an das süße Zeug, das er so gern aß, rankommen, und wie konnte es ins Dorf gebracht werden? Er schrie in die Schlucht hinab: »Großväterchen, wir brauchen Eimer für den Honig. Laß schnell Eimer holen! « Nachdem Grikor das ,Honiglager' ausgiebig untersucht hatte, kehrte er auf dem gleichen Pfade, auf dem er gekommen war, in die erste Höhle zurück... Aram Michailowitsch und Kamo waren gerade dabei, ihre kostbaren Funde an einem langen Seil in die Schlucht hinab-zulassen. Großvater Assatur war ganz überwältigt, als er die Schätze erblickte. Auch Armjon und Asmik sahen sich alles staunend an und stießen laute Freudenrufe aus. »Weißt du noch, was ich gesagt habe?« rief Armjon triumphierend. »Jetzt ist mir alles klar. Ich kann dir erklären, wie die Menschen in die Höhlen gekommen sind. Als sie vor ihren Feinden flüchten mußten, vielleicht vor den Türken — denn die Türken haben unser Armenien mehr als einmal überfallen —, stießen sie zuerst auf die hohe Eiche, von der wir nur noch die Wurzeln gefunden haben. Sie hatten keine andere Möglichkeit, sich zu retten, und sind daran hochgeklettert. Die Armenier waren sicher schon in die Höhlen geflüchtet, bevor ihre Feinde herangekommen waren, denn du siehst ja, daß sie ihr Hab und Gut zum Teil da oben verstauten.« Asmik fragte neugierig: »Konnten denn die nachfolgenden Feinde nicht auch auf die Eiche klettern und alles umbringen?« »Natürlich konnten sie das. Aber die Flüchtlinge haben sicher damit gerechnet. Vielleicht haben die letzten, die ins Gebirge flüchteten, den Baum rasch gefällt. Dadurch waren die Verfolger aufgehalten, und wenn sie die Flüchtlinge doch entdeckten, werden diese von oben Steine heruntergeworfen haben. Jedenfalls konnten die Türken nicht bis zu den Höhlen gelangen. « Asmik hatte aufmerksam zugehört. »Weiter, weiter«, drängte sie in kindlicher Ungeduld. »Wie geht die Geschichte weiter?« »Als dann der Feind abgezogen war, denke ich mir, konnten die Flüchtlinge natürlich nicht mehr zurück, denn den Baum, der die einzige Verbindung nach unten gewesen war, hatten sie ja gefällt. Alle litten unter Hunger und Durst, und die Mütter mußten mit ansehen, wie die kleinen Kinder verhungerten und verdursteten. Die Höhlen, in die die Menschen sich vor ihren Verfolgern gerettet hatten, wurden zu ihren Gräbern. . . « Während sich die Kinder in der Schlucht so miteinander unterhielten, erscholl plötzlich von oben her Grikors verzweifelte Stimme: »Ich habe viele Krüge voll Honig aus der Höhle geschleppt. Was soll ich damit machen?« Großvater Assatur schlug als findiger und praktischer Jäger, der immer einen Ausweg wissen muß, vor: »Hole Kamo! Dann müßt ihr um die Hälse der Gefäße Stricke schlingen, sie gut verknoten und vorsichtig hier herunterlassen. Wir werden sie ebenso vorsichtig in Empfang nehmen.« Ärgerlich schlug Grikor nach den Bienen, die ihn wütend umsummten. »Die lassen mich nicht mal Honig schlecken, diese Biester«, schrie er. »Und dabei riecht es so lecker hier.« »Du mußt abwarten und nicht so gefräßig sein«, riefen die Kinder herauf. »Später kannst du naschen, soviel du willst. Jetzt laß mal erst die Krüge runter.« Als Aram Michailowitsch und Kamo sich in der Bienenhöhle einfanden, war Grikor damit beschäftigt, seine süße Beute gegen die Angriffe unzähliger Bienen zu verteidigen. »Endlich seid ihr da«, rief er ihnen erleichtert entgegen Rasch unterbreitete er ihnen den Vorschlag des Großvaters, wie sie die Krüge in die Schlucht befördern konnten. »Ich habe das Honigparadies des Jägers Karo gefunden«, sagte Grikor, »und seine Schaufel habe ich auch schon rausgezogen.« Kamo wollte gleich Näheres darüber wissen, aber der Lehrer mahnte: »Zuerst müssen wir den Honig nach unten bringen.« Die Krüge waren riesengroß, und auch der Lehrer meinte, sie seien in alten Zeiten zur Aufbewahrung von Wein, Käse, Getreide und ähnlichem verwendet worden. Diese Krüge hatten sich als Bienenkörbe sehr nützlich erwiesen. Jetzt summten die in Aufruhr geratenen kleinen Bestien angriffslustig umher und waren offenbar entschlossen, mit ihrem Stachel ihr Eigentum gegen die Räuber zu verteidigen. Die Höhle, in der die Bienen hausten, war so schwer zu er-reichen, daß ihnen bisher kein Honigdieb hatte gefährlich werden können. Auch der weitverbreitete Aberglaube, daß Geister hier ihre Schätze behüteten, hatte die Menschen fern-gehalten. Deshalb konnten sich die Bienen auch ungehindert vermehren und hatten nicht nur die großen Tonkrüge gefüllt, sondern jeden Winkel der Höhle mit honigstrotzenden Waben überzogen. Die beiden Jungen arbeiteten fieberhaft; sie befestigten die mitgebrachten Stricke an den Krügen, und bald waren diese zur Fahrt in den Abgrund bereit. Kamo beugte sich über den Rand der Schlucht und rief hinab: »Gleich werden die Krüge runtergelassen, gebt gut acht!« Kamo und Grikor schleppten einen der großen Krüge, um den sie einen Strick geschlungen hatten, vorsichtig zum Rande der Felsenplatte und begannen ihn unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen in die Tiefe hinabzulassen. Großvater Assatur blieb der Mund offenstehen: »Haben sie es doch geschafft!« staunte er. »Allen Teufeln zum Trotz! « »Großväterchen«, rief Kamo ihm ganz respektlos zu, »halte keine langen Reden, sondern paß lieber auf, daß der Krug nicht auf den Felsen aufschlägt und zerbricht.« Nun zeigte sich, wie kräftig und geschickt der Alte noch immer war. Er umfaßte den herabschwebenden Krug mit beiden Armen und stellte ihn vorsichtig auf den Boden. »Ist er ganz voll Honig, Großväterchen?« wollte Asmik wissen. »Voll Wachs und Honig«, bestätigte der Großvater, der es immer noch nicht fassen konnte, daß der Lehrer und die Kinder die bösen Geister überlistet hatten. Der Alte entfernte zuerst den Strick, und Kamo, der das eine Ende festgehalten hatte, zog ihn wieder hinauf. Auch die übrigen Krüge wurden auf die gleiche Weise hinabgelassen. Mit dieser Arbeit hatten alle bis Mittag reichlich zu tun. Armjon war von Grikor zum Kolchos geschickt worden, um Transportmittel zu erbitten. »Bringe so viele Eimer mit, wie du auftreiben kannst; im Honigparadies des Jägers Karo sind unerschöpfliche Vorräte.« Als Armjon nach geraumer Zeit zurückkehrte, trieb er mehrere Packesel vor sich her, die mit leeren Eimern und Körben beladen waren. Sogar an einen Käfig für den jungen Adler hatte er gedacht. Fünf ,Bienenkörbe' standen bereits in der Schlucht am Fuße des Tschantschakar. Armjon hatte es nicht leicht gehabt, Esel, Eimer und Körbe aufzutreiben. »Das ist die reine Anarchie«, hatte Bagrat wie gewöhnlich geschrien, als Armjon ihn um die Esel und die Eimer bat. »jetzt in der Heuernte wollt ihr uns die Tiere von der Arbeit wegholen?« schimpfte er ungehalten. Armjon aber schmeichelte: »Wenn Sie wüßten, Onkel Bagrat, was wir für kostbare Altertümer gefunden haben... « »Altertümer hin, Altertümer her...« Bagrat zog geringschätzig die Augenbrauen hoch. »Und Bienen, und Honig«, fuhr Armjon begeistert fort und erzählte nun Näheres über ihre Entdeckungen. Bagrat, der sich von den Kindern, die er sehr ins Herz geschlossen hatte, immer schnell erweichen ließ, meinte: »Da habt ihr euch aber sicher sehr abgequält. Und wenn der Lehrer und Großvater Assatur mit dabei sind, wird es wohl seine Richtigkeit haben.« Bereitwillig schrieb er dann zwei Anweisungen aus, die er Armjon gab, und meinte scherzend: »Die eine ist für die Esel, die andere für Proviant für unsere ,Ärchäologen', sie werden gewiß hungrig sein. Vergiß auch nicht, Zucker für die Bienen mitzunehmen; der Großvater weiß, wie das gemacht wird. Wir werden inzwischen Bienenkörbe für eure Völker vorbereiten.« Die mitgebrachten Körbe wurden an Stricken zur Bienenhöhle hinaufgezogen, und der Lehrer legte die Waben, die er noch aus dem Innern der Höhle herausgeholt hatte, hinein. Die restlichen Körbe wurden innen mit Zuckerlösung bestrichen. Von dem süßen Saft angelockt, suchten zahlreiche Bienen die Körbe auf. Befand sich jedoch bei dem neugebildeten Bienenvolk keine Königin, dann war Aram Michailowitsch nicht zu-frieden. »Eine Königin muß dabei sein«, erklärte er den Kindern. »Jedes Bienenvolk braucht eine Königin.« Die Kinder mußten nach seiner Beschreibung feststellen, ob eine Königin dabei war, dann wurden die Körbe verschlossen und mitsamt den Waben und den Bienenvölkern in die Schlucht hinabgelassen. Erst nachdem das Honigparadies so ziemlich ausgeräumt war, begaben sich unsere Forscher auf dem schmalen Felsenpfade zu der Höhle, aus der Grikor vorhin schon die Schaufel des Jägers Karo geborgen hatte. Die dort aufgespeicherten Honigmengen waren abermals riesengroß, und es dauerte lange, bis alle Eimer gefüllt und an Stricken in die Schlucht hinabbefördert worden waren. Als letztes wurde der Käfig, in den sie den jungen Adler gesperrt hatten, geholt und ebenfalls an einem Strick hinuntergelassen. Dieser Vogel machte Asmik besondere Freude. Ungeduldig rief sie immer wieder: »Macht doch schneller«, und als der junge Raubvogel endlich in der Schlucht landete, hätte Asmik ihn am liebsten gestreichelt. Der junge Adler aber saß verängstigt und mit gesträubten Federn auf dem Boden des Käfigs, funkelte Asmik böse an, zischte wütend und hackte nach ihrem Finger. Der Käfig mit der seltenen Beute wurde besonders sorgsam auf dem Rücken eines Esels befestigt. Dann rief Armjon hinauf: »Ist alles unten? Seid ihr fertig?« »Ja, alles. Wir kommen gleich«, rief Kamo zurück. Die Arbeit war beendet. Aram Michailowitsch, Kamo und Grikor hatten sich am Höhleneingang niedergelassen, um ein paar Augenblicke auszuruhen. Ihnen gegenüber, auf der anderen Seite der Schlucht, lag der Eingang zu der Höhle, die im Volksmund ,Höllenpforte' hieß. Die gezackten Gipfel der Schwarzen Felsen zeichneten sich vom hellen Himmel deutlich ab. Der Wind heulte in den Felsenschluchten. Die Adler, durch die ungewohnte Nähe der Menschen beunruhigt, schrien laut und unheimlich. Wenn der Wind eine Weile schwieg und es still wurde, drang von den Schwarzen Felsen herüber ein seltsam drohender Lärm. »Warum stöhnt und ächzt der Berg?« fragte sich Aram Michailowitsch. Er lauschte angespannt auf die geheimnisvollen Töne, konnte aber auch keine rechte Erklärung dafür finden. Während der Lehrer den Zugang zur Höhle in den Schwarzen Felsen genauer betrachtete, kam er ihm immer mehr wie der aufgesperrte Rachen eines Ungeheuers vor, dessen Oberlippe wie mit vielen Schnittwunden bedeckt und zerfurcht war, während die Unterlippe glatt und ebenmäßig glänzte. Als Aram Michailowitsch genauer hinsah, entdeckte er, daß sich von dieser Unterlippe ein leuchtender Streifen bis zur Schlucht hinabzog. Es sieht tatsächlich beinahe so aus, dachte der Lehrer, als hätte Farchad — der usbekische Riese aus dem Märchen, der so stark ist, daß er Felsen zertrümmerte — diesen glänzenden Streifen auf die Felswand gemalt. In tiefes Nachsinnen versunken, zerbrach sich der Lehrer den Kopf, was dieser rätselhafte Streifen, der von den abergläubischen alten Leuten dem Riesen Farchad zugeschrieben wurde, in Wahrheit bedeuten konnte. Großvater Assatur erzählte während der nächsten Tage den alten Leuten im Dorfe mehr als einmal: »Es gibt keine Geister auf dem Tschantschakar, das ist so klar wie der Sonnenschein.« Und obgleich die Alten sich sofort bekreuzigten und ängstlich widersprachen, war im Dorfe von nichts anderem die Rede als von den erstaunlichen Entdeckungen der Kinder. Einzig und allein der immer neidische Artusch war ungehalten und nannte Kamo einen Wichtigtuer. Die Krüge mit den Honigwaben wurden in einem Winkel des zur Versuchsfarm gehörenden Geflügelhofs untergebracht. Es wurde dafür gesorgt, daß die jungen Vögel nicht in die Nähe kommen konnten. Die Altertümer, die die Kinder und der Lehrer in den Höhlen gefunden hatten, wurden in einem besonderen Raum des Schulgebäudes untergebracht, den Aram Michailowitsch dafür ausräumen ließ. Noch am gleichen Tage war ein Telegramm an die Akademie der Wissenschaften der Armenischen SSR abgegangen. »In den Höhlen des Tschantschakar umfangreiche Funde mittelalterlicher Waffen und Gebrauchsgegenstände gemacht. Entsendet Mitarbeiter des Instituts für Geschichte und Archäologie. « Das Telegramm war an den Leiter der Akademie, Professor Sewjanan, gerichtet. Großvater Assatur kümmerte sich um die Krüge mit dem Honig und um die Bienenkörbe. Die Fluglöcher wurden geöffnet, und bald schwärmten die Bienen umher. Nachdem die verschiedenen Bienenvölker regelrechte Schlachten geschlagen hatten, trat schließlich Ruhe und Ordnung ein. Für die neuen Schwärme, die bisher keinen Platz gefunden hatten, mußten noch Unterkünfte geschaffen werden. Da nicht genügend Bienenstöcke vorhanden waren, zimmerten Armjon und Kamo unter der Anleitung ihres Lehrers neue Kästen. »Wie kommt es«, fragte Armjon, »daß die Bienen ihre Wohnungen in den leeren Krügen gebaut haben? Haben denn unsere Vorfahren solche Krüge als Bienenstöcke verwendet? « »Deine Vermutung, daß die Flüchtlinge damals auf dem Weg über die hohe Eiche in die Höhlen gelangt sind und dann nicht wieder zurück konnten, hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit«, sagte der Lehrer. »Aber der Gedanke, daß sie Bienenvölker auf ihrer Flucht mitnahmen und in Tonkrügen ansiedelten, erscheint mir doch recht fragwürdig. Es ist viel wahrscheinlicher, daß die wilden Bienen, nachdem es in den Höhlen keine Menschen mehr gab, beim Ausschwärmen diese bequemen und praktischen Wohnungen aufgesucht haben.« Die Bienen hatten sich schon nach wenigen Tagen in ihrer neuen Umgebung eingelebt; sie hatten mit ihrer Suche nach Nektar begonnen und summten nun fleißig über den Wiesen umher. Großvater Assatur zeigte Grikor, wie die Bienen versorgt werden mußten. Manchmal hüpfte Grikor auf seinem gesunden Bein erstaunlich geschwind zum Zaun der Geflügelfarm. Neckend rief er Asmik zu: »Was willst du nur mit den dummen Küken? Schaff dir lieber Bienen an — dann hast du immer was Süßes zum Schlecken.« Der Stein aus dem Ring des Feldherrn Artak Großvater Assatur war jetzt Tag für Tag damit beschäftigt, die Bienenzucht in Gang zu bringen. Als er eines Tages einen alten, schwarz gewordenen Krug reinigte und die Wabenreste, die sich innen in dem Krug festgesetzt hatten, mit seinem Messer abkratzte, stieß die Klinge plötzlich gegen einen harten, in Wachs gehüllten Gegenstand. Der Alte löste das Wachs ab, und ein grünlich schimmernder Stein in der Größe einer Haselnuß kam zum Vorschein. Der Großvater freute sich über den hübschen glänzenden Stein und dachte: Ich will ihn Asmik schenken. Er wird ihr gefallen; und ein Mädchen schmückt sich gern. Er steckte den Fund in die Tasche seines Archaluk. Schon am nächsten Tage kam Großvater Assatur auf den Geflügelhof und bewunderte die jungen Wildvögel, die tüchtig gewachsen waren. Reichliche Regengüsse hatten in den letzten Tagen das Flüßchen zum Anschwellen gebracht. Auch der Wasserstand im Teich war befriedigend. Eine Menge junger weißer Gänslein schwamm vergnügt auf der glatten Wasserfläche, und die Luft war erfüllt von ihrem lauten Geschnatter. Dazwischen schwammen im bunten Durcheinander die verschiedensten Jungvögel. Asmik ging dicht an den Teich heran, um ihre Schützlinge zu füttern. Die kleinen Gänschen und Entlein kannten sie gut. Sie schwammen herbei und kletterten Hals über Kopf ans Ufer. Dabei schlugen sie mit den Flügeln, drängten die Schwächeren beiseite und stürzten sich geräuschvoll auf das Futter, das Asmik mit vollen Händen ausstreute. »Sieh nur, Großväterchen, wie munter sie sind«, rief Asmik dem Alten zu. »Sieh nur, wie sie sich herandrängen.« Der Großvater lächelte: »Du hast deine Arbeit so gut gemacht, daß du eine Belohnung verdienst«, und er reichte ihr den schönen grünen Stein. Asmik betrachtete ihn neugierig. Er gefiel ihr sehr gut, und sie stürzte gleich davon, um ihn Armjon zu zeigen. »Ich bin sofort wieder da, Großväterchen«, rief sie. »Gib du solange auf meine Kinderchen acht.« Und schon war sie verschwunden. Als Armjon den Stein sah, runzelte er erstaunt die Brauen. »Meiner Ansicht nach ist das ein Smaragd«, sagte er, »und ich glaube, daß er sehr wertvoll sein muß.« Asmik erschrak. »Sehr wertvoll?« stotterte sie. »Ja, und sieh nur«, fuhr Armjon eifrig fort, »da sind doch Buchstaben oder Zeichen eingeschnitten.« »Laß mal sehen«, bat Asmik. »Du hast recht... Was kann das nur sein?« »Laß mir den Stein mal hier«, meinte Armjon. »Ich werde ihn Aram Michailowitsch zeigen, der wird uns sicher sagen können, was das für Zeichen sind.« Nur widerstrebend trennte sich Asmik von dem schönen Geschenk des Großvaters. Zu Hause angelangt, betrachtete Armjon den Stein durch eine Lupe und machte einen Freudensprung. Das war ja eine großartige Entdeckung. In dem Stein war ein Adler eingeritzt und darunter einige Worte, von denen Armjon allerdings nur den Namen »Artak« entziffern konnte. Winzige Vertiefungen am Rande bewiesen, daß der Stein irgendwo eingelassen gewesen war. Armjon, der ein gutes Gedächtnis hatte, entsann sich, im Geschichtsunterricht von dem Feldherrn Artak, der vor vielen Jahrhunderten gelebt hatte, gehört zu haben. Sicherlich stammte dieser Stein aus dem Siegelring des Feldherrn, mit dem er seine Erlasse gesiegelt hatte. Armjon lief, den Stein in der Hand, zu Aram Michailowitsch; der untersuchte ihn sehr genau, und nach längerem Überlegen konnte er die Vermutung des Knaben bestätigen. »Das kann ein wichtiger Fund für die Geschichtsforschung sein«, sagte der Lehrer. »Woher hast du ihn denn?« »Großvater Assatur hat ihn Asmik geschenkt.« »Vielleicht hat er ihn auf der Jagd, irgendwo in den Bergen, gefunden. « Armjon lief sogleich zu dem Alten. »Großväterchen, woher hast du den Stein?« rief er aufgeregt. »In einem der Krüge in alten, vertrockneten Honigwaben habe ich ihn gefunden.« »War sonst nichts in dem Krug?« »Gar nichts«, sagte der Großvater, »hätte ich gewußt, daß der Stein etwas Besonderes ist, so hätte ich ihn dem Lehrer gleich gebracht.« Als Armjon dann mit Kamo zusammentraf, erzählte er ihm von dem schönen Stein, den der Großvater auf so komische Weise gefunden hatte. Der Stein schien wirklich ein Beweis dafür zu sein, daß der Feldherr Artak in den Höhlen des Tschantschakar Zuflucht gesucht haben mußte. Wie hätte sonst der Stein in den Krug kommen sollen? »Ich habe gehört, daß sich die Menschen von solchen Ringen bis zu ihrem Tode nie trennten«, meinte Armjon. »Sicher gibt es in den Höhlen noch viele solcher merkwürdigen Dinge.« »Das, was wir bis jetzt gefunden haben, muß armen Leuten gehört haben. Nichts war so kostbar, daß man glauben konnte, es sei im Besitz eines großen Feldherrn gewesen«, meinte Kamo. Armjon aber war anderer Meinung: »Das will alles nichts besagen. Daß sich Artaks Ring in der Höhle befunden hat, zeigt doch, daß der Feldherr dagewesen sein muß.« »Gut, Armjon, dann müssen wir also noch einmal ins Gebirge und noch viel gründlicher in den Höhlen herumstöbern.« Auf eigene Faust, ohne dem Lehrer etwas davon zu sagen, beschlossen die beiden Jungen, sich auf den Weg zum Tschantschakar zu machen, denn sie wünschten sich brennend, ohne jede Hilfe etwas ganz Großes zu entdecken, so daß alle Welt staunen würde. Am nächsten Tage standen Armjon, Grikor und Kamo bereits in aller Frühe auf dem Gipfel des Tschantschakar. Immer noch schwirrte eine Unmenge von Bienen vor den ausgeräumten Höhlen. Die Jungen hatten die Strickleiter mitgenommen und kletterten, wie beim erstenmal, vorsichtig zur Felsenplattform herunter. Dieses Mal wollten sie alles noch viel gründlicher durchsuchen. Während sie zu der Höhle gingen, in der das Skelett sie erschreckt hatte, blieb Kamo plötzlich stehen und blickte auf ein Loch, das wie der Zugang zu einem Dachsbau aussah. Sie leuchteten mit der Taschenlampe hinein und sahen, daß es ein enger Gang war. Kamo schlüpfte als erster hinein. »Folgt mir, Freunde«, rief er. »Seht euch aber vor. Es ist eng hier drinnen.« Kaum waren sie in dem Loch verschwunden, als Grikor einen Schmerzensschrei ausstieß: »Au, dieser verfluchte Stein! Ist er denn blind? Sieht er denn nicht, daß jemand kommt?« »Was ist los? Hast du dir den Kopf gestoßen?« »Ja und wie. Der Stein war härter als mein Kopf.« Kamo und Armjon mußten lachen. Wenn einer von ihnen sich weh getan hatte, war ein Scherz das beste Heilmittel. Der Junge biß die Zähne zusammen, er hatte zwar eine tüchtige Beule an der Stirn, und es war ihm eigentlich gar nicht nach Scherzen zumute, aber sein Humor siegte, und er lachte fröhlich mit. Nachdem sie in dem engen Gang einige Meter gekrochen waren, kamen die Jungen zu einer kleinen Höhle. In den Felsen gehauene Stufen führten von dort aufwärts in eine größere Höhle, die fast rund war und eine kuppelartige Decke hatte. Phantastische Figuren bedeckten die Wände und gaben ihr ein märchenhaftes Aussehen. Die Knaben bestaunten diese wunderbaren, von der Natur geformten Gebilde. »Wahrscheinlich ist es Kalk, mit verschiedenen Mineralsalzen vermischt, die sich im Wasser aufgelöst haben. Der Kalk mag an den Wänden heruntergeflossen sein und ist im Laufe der Zeiten versteinert«, meinte Armjon. »So können sich diese komischen Tropfsteinfiguren nur gebildet haben.« Plötzlich schrie Grikor auf. Wie zur Bildsäule erstarrt, wies er stumm in eine Ecke. Entsetzen packte die Kinder. Dort kauerten, Schulter an Schulter, zwei menschliche Skelette, von denen das eine einen mit funkelnden Edelsteinen besetzten Helm auf dem Kopfe trug. Darunter gähnten die leeren Augenhöhlen; und durch die gefletschten Zähne sah es aus, als grinse der Totenschädel. Kamo faßte sich als erster. »Ihr braucht euch nicht zu fürchten«, sagte er, »es sind menschliche Skelette. Nun haben wir vielleicht auch den Besitzer des Siegelrings gefunden.« Kamo zeigte auf das Skelett mit dem edelsteingeschmückten Helm. »Und das andere kann die Frau des Feldherrn gewesen sein.« Behutsam berührte Kamo das kostbare Geschmeide am Halse des zweiten Gerippes, dessen Knochenbau zweifellos zierlicher war. Die Edelsteine strahlten in dem Halbdunkel der Höhle hell auf. Als Kamo dann das männliche Skelett genauer betrachtete, entdeckte er an der Seite einen kleinen edelsteingeschmückten Dolch SogIeich vermuteten die Jungen, daß der Feldherr aus Verzweiflung über seine hoffnungslose Lage sicher Selbstmord begangen habe. »Ja, das weiß ich aus dem Geschichtsunterricht«, rief Armjon. »Artak hatte sich das Leben genommen. Sicher, weil er dem Feinde nicht lebend in die Hände fallen wollte. Artak muß ein sehr tapferer Feldherr gewesen sein. Er hat den Aufstand der Bauern im Sewangebiet geführt.« Die Jungen versuchten nun, sich im Geiste die Tragödie vor-zustellen, die sich vor langer Zeit in dieser Höhle abgespielt haben mußte. Kamo meinte, die Höhle sähe mit ihrem merkwürdigen Wandschmuck und den Tropfsteingebilden wie ein alter Tempel aus, in dem Kronleuchter von der Decke herabhingen. Armjon, der gleich überall herumstöberte, rief plötzlich begeistert aus: »Ich habe Artaks Schwert gefunden. Seht mal, es ist mit Edelsteinen besetzt und so schwer, daß man es kaum aufheben kann. Wenn Artak mit einem solchen Schwert gekämpft hat, muß er sehr groß und stark gewesen sein.« »Das war er auch«, antwortete Kamo. »Das kannst du sogar an dem Skelett sehen; ein Riese muß er gewesen sein ... Was hast du, Grikor? Du siehst ja ganz bleich aus.« Grikor hatte wieder etwas entdeckt, das ihm die Sprache verschlagen hatte. Stumm deutete er auf einen Haufen Skelette, die nicht weit von den beiden zuerst entdeckten in einem Winkel lagen; neben ihnen häuften sich Schilde, Köcher mit Pfeilen, Speere, Helme aus Kupfer und Harnische aus Bronze. »Wißt ihr, was das bedeutet«, rief Armjon. »Hier liegt der Rest der Krieger, die unter Artak gekämpft haben. Sie haben mit ihrem Leben unsere Heimat verteidigt. Ich glaube«, fuhr Armjon fort, »es ist besser, wenn Aram Michailowitsch diese Altertümer selber holt, oder noch besser, es kommt jemand aus Jerewan. Wir wissen nicht, wie man mit solchen Dingen umgehen muß. Nur dies hier wollen wir mitnehmen.« Und Armjon gab Grikor Artaks Helm und das Halsgeschmeide zum Tragen. »Nimm du das Schwert, Kamo, es ist schwer, und du hast die meisten Kräfte. Ich werde noch den Dolch nehmen.« Kamo und Grikor stimmten Armjon zu, und die Kinder krochen durch den engen Gang wieder ins Freie und kletterten an der Strickleiter zum Gipfel des Tschantschakar empor. In der Ferne heulte der ,Wassermann'. Kamo drohte ärgerlich: »Auch dich werden wir eines Tages kriegen!« Professor Sewjan kommt nach Litschk In der Mittelschule des Dorfes Litschk ging es heute außergewöhnlich lebhaft zu. Die Tür zum Physikzimmer stand weit offen. Die Schüler schafften die Unterrichtsmittel in aller Eile in das danebenliegende chemische Laboratorium. Das große Zimmer mußte ausgeräumt werden, um die reiche Sammlung der von den jungen Naturforschern entdeckten Altertümer auf-zunehmen. Aram Michailowitsch war diesmal nicht nur Lehrer für Naturkunde, sondern mußte auch als Archäologe seinen Mann stehen. Kamo, Armjon, Asmik und Grikor halfen ihm. Behutsam wurden die in den Höhlen des Tschantschakar aufgefundenen Gegenstände in den freien Raum getragen und an die von Aram Michailowitsch bezeichneten Plätze gelegt. Asmik bewunderte den Halsschmuck der Frau des Feldherrn Artak mehr als alles andere, während Kamo über das Schwert des Feldherrn immer wieder in Begeisterung geriet. Als der Lehrer einmal hinausging, konnte Kamo der Versuchung, sich den Helm des Feldherrn auf den Kopf zu setzen, nicht widerstehen. Er nahm den Schild in die linke Hand, und mit der rechten hob er das Schwert in die Höhe. Es war so schwer, daß er sich dabei gewaltig anstrengen mußte und ganz rot im Gesicht wurde. Feierlich deklamierte er die Worte des armenischen Feldherrn Georg Marspetuni, der im zehnten Jahrhundert gelebt hatte: »Ich schwöre euch, bei der Liebe zu meiner Heimat, daß ich nicht eher in den Schoß meiner Familie und unter das Dach meines Hauses zurückkehren werde, bis ich auch den letzten Feind von unserem Heimatboden vertrieben habe. . .« Die Schulkinder drängten sich an der Tür zusammen und klatschten laut Beifall. »Das glaube ich dir«, rief Asmik. »Du würdest sicher auch in den Krieg gehen und unsere Feinde vertreiben.« Da tauchte der Lehrer in der Tür auf. Schnell setzte Kamo den Helm ab, legte das Schwert beiseite und tat ganz harmlos. Verlegen rückte er an einem Krug; aber Aram Michailowitsch schüttelte nur nachsichtig lächelnd den Kopf. »Wir wollen unser Schulmuseum als eröffnet betrachten«, rief er. »Kommt herein, Kinder! « Drei Tage darauf traf eine Gruppe Gelehrter aus Jerewan im Dorfe Litschk ein. Professor Sewjan war mit ihnen gekommen. Als er die Funde erblickte, geriet er in wahre Begeisterung und rief freudig: »Was ihr da gefunden habt, ist so wertvoll, daß es sich gar nicht abschätzen läßt.« Später, in der allgemeinen Kolchosversammlung, sprach Professor Sewjan von der außerordentlichen Bedeutung, die die aufgefundenen Gegenstände für die Geschichtsforschung hätten. Er sagte aber auch, daß die kühnen jungen Naturforscher des Dorfes Litschk eine Anerkennung verdient hätten, und dankte ihnen im Namen der Armenischen Akademie der Wissenschaften. »In einiger Zeit«, fügte der Professor dann noch hinzu, »werden Kamo, Armjon, Asmik, Grikor und Großvater Assatur von der Regierung wertvolle Geschenke erhalten.« Nicht alle Zuhörer waren mit den Worten des Professors einverstanden. Artusch zum Beispiel konnte seinen Neid und seinen Haß kaum verbergen. Aber Grikor, der neben seiner Mutter saß, freute sich um so mehr; seine großen, klaren Kinderaugen glänzten vor Freude und Begeisterung. Die Kinder waren so sehr an Erfolge gewöhnt, daß der erste Mißerfolg sie ganz aus der Fassung brachte. Mehrere kostbare Wildvögel waren aus der Geflügelfarm verschwunden. Ein Geier konnte sie nicht geholt haben, denn das Gewehr des alten Jägers hielt diese Räuber vom Dorfe fern. Tschambar aber sorgte dafür, daß die Füchse nicht zu nahe herankamen. Asmiks Mutter beaufsichtigte tagsüber die Küken, des Nachts bewachte sie der Großvater. Aber trotzdem verschwanden die jungen Vögel. Es kam vor, daß zehn Stück am Tage fehlten, merkwürdigerweise holte der Dieb sie immer am Tage. Asmik lief sogar zum Kolchosvorsitzenden Bagrat; sie weinte und bat ihn, er sollte doch helfen, die Diebe zu fangen. Bagrat schrie wie gewöhnlich: »Das ist reine Anarchie!« und schwenkte verzweifelt die Arme. »Ihr könnt euch begraben lassen«, rief er. »Nicht mal auf ein paar Jungvögel könnt ihr aufpassen.« Die Jungen ließen jetzt die Umzäunung Tag und Nacht nicht aus den Augen. Sogar die alten Raben, die auf den Telegrafenstangen saßen, wurden mißtrauisch betrachtet. Eines Tages, als Großvater Assatur die Wache übernommen hatte, sah er, wie eines der jungen Entlein die Flügel auf komische Weise spreizte und sich mit merkwürdig schlaffen Bewegungen dem Zaun näherte. Was konnte das Entlein auf so komische Weise anziehen? Als der Großvater näher herangehen wollte, sah er, wie ein graues Gänslein auf ähnliche Weise geheimnisvoll mit schlaff en Flügeln über den Boden schleifte und plötzlich verschwand. »Was bedeutet das?« murmelte der Alte völlig verdutzt. »Ich will gleich mal nachsehen.« Er stand auf, ging zum Zaun und setzte sich auf eine der leeren Fischtonnen, von denen mehrere herumstanden. Der Verwalter der Konsumgenossenschaft hatte den Großvater gebeten, auf die Tonnen achtzugeben. In der Farm blieb alles ruhig. Die kleinen Vöglein spazierten friedlich im Hofe hin und her, und nur Asmik, die sich im Hintergrund des Stalls zu schaffen machte, tauchte zuweilen für einen Augenblick auf. Der Alte zog seine Pfeife aus der Tasche und klopfte sie an der Wand der Tonne aus. Nun geschah etwas ganz Unerwartetes. Die Tonne schwankte hin und her und knarrte; aus ihrem Inneren aber glaubte der Großvater eine flüsternde Stimme zu hören: »Ist die Luft rein? Kann man raus?« Und aus der danebenstehenden Tonne wurde geantwortet: »Ja, ja, komm nur heraus.« Großvater Assatur bückte sich, um den nur leicht angelehnten Deckel der auf der Seite liegenden Tonne beiseite zu schieben, als ihm unversehens eine Handvoll Erde ins Gesicht flog, so daß er nichts sehen konnte und sich erschrocken die Augen rieb. Inzwischen waren die Insassen aus den Tonnen herausgekrochen und stoben davon. Wenn Großvater Assatur, der völlig geblendet war, auch nichts sehen konnte, seine Stimme hatte doch keinen Schaden gelitten. Er brüllte aus Leibeskräften: »Diebe! Diebe! Haltet sie fest.« Von allen Seiten kamen Leute herbeigelaufen, und Großvater Assatur berichtete mit tränenden Augen, was er soeben erlebt hatte. So gründlich die Tonnen auch untersucht wurden, es war nicht mehr festzustellen, wer sich darin versteckt hatte. Als des Großvaters Augen nicht mehr tränten, rollte er die verdächtigen Tonnen fort zur Konsumgenossenschaft. Sein ganzer Zorn entlud sich auf den unschuldigen Konsumverwalter. »Lagere deine Tonnen, wo du willst«, schrie er, »aber nicht in der Geflügelfarm, wo sie Spitzbuben Unterschlupf bieten. Was nützt es uns, wenn wir Tag und Nacht die Farm bewachen!« Bis zum Herbst ereignete sich nach diesem Zwischenfall nichts Unliebsames mehr. Als aber die Herbststürme einsetzten und der erste Schnee fiel, gab es für Fuchs und Marder bald keine Beute mehr auf den Feldern. Das hungernde Raubgesindel wurde von dem Honigduft, vor allem aber von den fetten Bissen in der Geflügelfarm angelockt. Jetzt kam den Kindern Großvater Assaturs langjährige Erfahrung als Jäger zugute. Auf den Spuren eines Fuchses Ein neues Schuljahr begann. Asmik besuchte jetzt die siebente Klasse, Grikor die achte, Kamo und Armjon waren Schüler der neunten Klasse geworden. Die Freundschaft zwischen den Kindern bestand fort und festigte sich von Tag zu Tag. Asmik lief nach wie vor, gleich nach Schulschluß, zur Geflügelfarm, zu ihren geliebten gefiederten Schützlingen, die in-zwischen mächtig herangewachsen waren. Sie half ihrer Mutter bei der Aufzucht. Am Teich, außerhalb des Dorfes, waren im Laufe des Sommers nach Plänen, die in Jerewan entworfen worden waren. und mit Hilfe der Kolchosverwaltung neue geräumige Geflügelställe gebaut worden. Der Kolchosvorsitzende Bagrat hatte die Farm nicht nur offiziell anerkannt, er geizte nun auch nicht mehr mit Mitteln, sie so gut wie irgend möglich auszustatten. »Wenn wir schon eine solche Versuchsfarm haben«, sagte er, »dann soll es auch eine Farm sein, die nach etwas aussieht und in der Gutes geleistet wird — ohne Anarchie natürlich.« Nachdem die neuen Geflügelställe fertig waren, erklärte sich Onkel Bagrat auch bereit, ein Häuschen für die Verwalterin und den Wächter bauen zu lassen. Das Stallgebäude war in mehrere Räume aufgeteilt; in dem einen standen die Brutöfen, ein anderer, von ansehnlicher Größe, war als Auslauf für das Geflügel gedacht. Die Küken hatten einen besonderen Stall, und in dem Raum für das aus-gewachsene Geflügel waren Stangen angebracht worden. Körbe für brutende Glucken waren gar nicht mehr vorgesehen. Die Kinder hatten beschlossen, nur noch Brutöfen zu verwenden. Auch Gerste hatten sie genug geerntet, wie Asmik jedesmal beim Füttern befriedigt feststellen konnte. Das ist alles Armjons Werk! sagte sich Asmik und dachte voller Anerkennung und Rührung an ihren jungen Freund. Armjon kam häufig in die Farm. Er besah sich die Vögel, untersuchte sachkundig, ob ihre Flügel richtig gestutzt waren, und half Asmik manchmal auch bei ihren Schulaufgaben, besonders wenn Mathematik und Literaturgeschichte dran waren. Eines Nachts entstand in dem Stall, in dem die Wildgänse und Wildenten untergebracht waren, ein fürchterlicher Lärm. Die Hunde bellten wütend und kamen aus ihren Hütten gesprungen. Aus Großvater Assaturs Gewehr krachte ein Schuß. Es wurde bald bekannt, daß ein Fuchs in den Gänsestall eingebrochen war. Großvater Assatur schwor, er werde den Frechling schon erwischen und ihm das Räubern austreiben. »Ich will nicht Jäger Assatur heißen«, erklärte der Alte grimmig, »wenn Reineke dazu kommt, seine Beute in Ruhe zu verspeisen«, und er machte sich auf den Fuchs zu verfolgen. Kamo war zu Großmutter Nargis gelaufen, um ihr zu erzählen, was der Großvater vorhatte. Es wurde ein heißer Tag für die Kinder. Nachdem Kamo seine Schulaufgaben gemacht hatte, lief er zu Armjon und Asmik und bat sie, mit ihm zu Grikor zu kommen. »Ist was geschehen?« fragte Asmik besorgt. »Komm nur, du wirst es schon hören.« Grikor half dem Kolchoshirten grade beim Tränken der Kälber, die von der Weide heimgekehrt waren. Als er Asmik, Armjon und Kamo sah, rief er ihnen zu: »Was wollt ihr denn hier?« »Wann bist du fertig, Grikor?« »Mit eurer Hilfe in fünf Minuten«, gab Grikor schlagfertig zurück. »Nun, warum nicht — gib einen Eimer her! « »Nein, nein, wir sind ja schon fertig. Was wollt ihr denn?« »Wir wollen auf den Dali-Dagh«, sagte Kamo. »Was gibt's dort? Was zu essen?« »Wenn sich Großvater Assatur und Tschambar aufgemacht haben, dann wird sich wohl auch etwas Eßbares finden lassen.« Nun war Grikor gleich Feuer und Flamme. »Warum überlegt ihr denn noch lange? Wir wollen schnell machen, sonst ißt Großvater Assatur alles alleine auf!« erklärte Grikor und stürmte zum Stall hinaus. »Warte, Grikor, nicht so hitzig. Großvater ist hinter einem Fuchs her und nicht auf einen Braten aus.« Grikors Eifer erlahmte sichtlich. Er blieb zögernd stehen. Doch dann funkelten seine schwarzen Augen pfiffig. »Was ist denn an einem Fuchsbraten auszusetzen?« meinte er. »Wovon lebt der Fuchs? Von Geflügel und Hasen. Warum sollte sein Fleisch schlechter schmecken als anderes?« »Aber Füchse fressen auch Mäuse«, sagte Asmik und schüttelte sich. »Ist denn eine Maus etwas Ekliges? Sie knabbert doch auch nur Körner, Mehl, Brot, Speck und Zucker.« Asmik entrüstete sich. »Sag ihm doch, er soll nicht so dummes Zeug reden, Kamo«, rief sie. Grikor verteidigte sich: »Was mußt du gleich die Nase rümpfen? Ein Fuchsbraten schmeckt sicher fein!« sagte er. Unter solchen Späßen und lautem Gelächter stiegen die Kinder den verschneiten Hügel hinauf, auf dem Großvaters und Tschambars frische Fußspuren noch deutlich zu sehen waren. Eine leuchtendweiße Schneedecke überzog alles, und die Sonne strahlte so grell, daß die Kinder kaum etwas sehen konnten. Es sah aus, als wären Myriaden von Diamanten über die Berge geschüttet worden. Der erste Schnee in den Bergen! Sonnenhelle löste das trübe Grau des Herbstes, das die ganze Natur in ein düsteres Halbdunkel gehüllt hatte, ab. Über ihnen wölbte sich ein weiter stahlblauer Himmel. Ringsum atmete die Natur tiefsten Frieden. Die Gipfel der schneebedeckten Berge hoben sich leuchtend vom Blau des Himmels ab. Die Sonne wärmte, und an den Südhängen taute der Schnee und floß in zahllosen kleinen Rinnsalen zu Tal. Die Kinder hatten an einem Abhang Rast gemacht. Sie blickten auf die herrliche, in Sonnenlicht getauchte Gebirgslandschaft, und die wärmenden Sonnenstrahlen spielten auf den rosig-frischen Gesichtern. Armjon unterbrach das andächtige Schweigen und rief entzückt: »Was für ein herrlicher Tag. Auch im Winter ist es bei uns wunderschön! « Kamo trieb zur Eile: »Vorwärts, wir haben lange genug geruht!« Sie gelangten zuerst in eine Schlucht und stiegen dann wieder bergan. Die Spuren des Großvaters und, des Hundes im Neuschnee wiesen ihnen den Weg, der bald durch tiefe Schluchten, bald wieder bergauf ging. Auch der Weg, den der Fuchs genommen hatte, war nicht zu verfehlen. Überall lagen abgenagte Gänseknochen und ausgerupfte Federn verstreut. Asmik betrachtete diese traurigen Reste ihres Schützlings bekümmert. Es wurde ihr schwer ums Herz. Hatte sie ihre Küken so mühevoll aufgezogen, damit der Fuchs sie holte und sich daran gütlich tat? Kamo versuchte sie zu trösten. »Gräme dich nicht, Asmik. Großväterchen wird schon dafür sorgen, daß er seine Strafe bekommt.« Die Kinder kletterten tiefer in die Berge hinein, bis sie nach einer Wegbiegung plötzlich den alten Jäger vor sich sahen. Er hatte das Gewehr über die Schulter gehängt und sich überdies noch mit seinem riesigen Dolch bewaffnet. Tschambar empfing die Kinder mit freudigem Gebell. Er stürzte ihnen entgegen und riß sie fast um. Asmik streichelte den Hund und steckte ihm ein Stück Zucker ins Maul. »Das habe ich eigens für dich mitgebracht, Tschambaruschka. « »Gib mir auch eins«, bettelte Kamo, »oder bin ich dir weniger lieb als der Hund?« »Du bist mir sogar lieber«, erwiderte Asmik, »aber hast du vergessen, daß der brave Tschambar dir das Leben gerettet hat? « Kamo errötete. Grikor platzte in das Gespräch hinein mit dem Rufe: »Großväterchen, ist der Braten schon fertig?« Der Alte, der die Kinder eben erst bemerkt hatte, rief ihnen fröhlich zu: »Es ist gut, daß ihr kommt, ich will euch die Schliche dieses Schlaubergers einmal zeigen.« Er hatte sich auf einen Stein gesetzt und zündete sich gerade gemächlich ein Pfeifchen an. »Mich hat der schlaue Geselle schon ganz außer Atem gebracht«, fuhr der Großvater fort. »Aufgestöbert habe ich ihn unten, hinter einem Stein. Aber kaum legte ich das Gewehr an, da trabte er davon, nahm Deckung und flüchtete zu der kahlen Stelle da oben, die der Sturm vom Schnee reingefegt hat. Mir flimmerte es derart vor den Augen, daß ich nichts sehen konnte Nun sagt einmal«, unterbrach der Großvater seinen Bericht »weshalb hat der Fuchs sich wohl eine schneefreie Stelle ausgesucht?« Armjon antwortete zuerst. »Ich habe gelesen«, rief er, »daß sich die Tiere der Farbe ihrer Umgebung anzupassen suchen. Im weißen Schnee hätte der Fuchs eine zu gute Zielscheibe für dich abgegeben. In dürren Gras oder auf Stein ist er natürlich schlechter zu er kennen. Das hat Darwin geschrieben.« Großvater Assatur war erstaunt: »Wie konnte Darwin das wissen?« fragte er; »er war doch kein Jäger? Nun aber hört, was der Fuchs dann tat. Er setzte in großen Sprüngen über den Hügel, ich, nicht faul, hinterher. Plötzlich höre ich es hinter mir rauschen. Steine prasseln von der Anhöhe herab. Der Fuchs ist mit einemmal hinter mir. Wie hat er das gemacht?« »Ganz einfach, Großväterchen. Der Fuchs hat, um dich zu täuschen, einen Bogen gemacht und tauchte so plötzlich hinter deinem Rücken auf«, meinte Grikor; »daß die Steine herunter-prasselten, war ein Mißgeschick, sonst hättest du seine Spur verloren oder wärst immer im Kreise gelaufen.« »Bravo, Grikor, man sieht gleich, daß du ein Landkind bist und mit offenen Augen durchs Leben gehst. Hört nur weiter. Als ich seine Spur wiedergefunden hatte, schlich ich ihm nach. Plötzlich ist die Spur weg. Wie weggeblasen. Wo konnte der Bursche nur geblieben sein? Flügel hat er nicht, und im Schnee muß seine Spur ja zu finden sein. Nun sagt mir, könnt ihr das Rätsel lösen?« Die Kinder schwiegen. Das war tatsächlich ein Rätsel. Der Großvater aber fuhr fort: »Hierzu gehört viel Erfahrung und ein scharfes Auge. Paßt mal auf, was der Schlauberger jetzt für Kunststückchen gemacht hat! Ich gucke mir also die Spuren im Schnee genauer an und entdecke, daß er direkt auf mich zugekommen sein muß. Um mich zu täuschen, ist er in seine eigenen Fußstapfen getreten und dann plötzlich seitwärts ausgerissen.« Die Kinder waren höchst erstaunt über die Schlauheit des Fuchses. »Er weiß, der Räuber«, fuhr der Großvater fort, »wenn er nachts um das Dorf herumstreicht, dann ist am nächsten Tage der Jäger Assatur hinter ihm her. Er weiß, daß ich darauf brenne, ihn zu fangen und ihm das Fell abzuziehen. Da macht er aus lauter Todesangst solche Mätzchen. Aber mich kann er nicht anführen, wie schlau er es auch anstellt — dem Jäger Assatur entkommt er nicht.« Der Großvater nahm seine dicke Schaffellmütze vom Kopf und wischte sich umständlich den Schweiß von der Stirn. Dann setzte er die Mütze wieder auf. Beim Anblick des runden kahlen Kopfes des alten Jägers mußte sich Grikor das Lachen verbeißen. »Großvaters Kopf glänzt in der Sonne wie eine reife Wassermelone«, flüsterte er Kamo zu. »In finsteren Nächten brauchst du keine Laterne zu nehmen. Laß den Großvater vorangehen. Sein kahler Schädel leuchtet dir wie der Mond.« Asmik, die das Gespräch mit angehört hatte, mußte das Lachen gewaltsam unterdrücken, doch Kamo runzelte ärgerlich die Stirn und sagte: »Halte deinen Mund, Grikor, und spotte nicht über den alten Mann. « Der Großvater war aufmerksam geworden und wollte wissen, weshalb die Kinder stritten. »Ich habe Kamo gefragt, weshalb du im Sommer und im Winter eine Pelzmütze trägst.« »Haben unsere Väter das nicht auch getan? Und die waren bestimmt keine Narren. Im Sommer schützt das Schaffell gegen die Hitze und im Winter gegen die Kälte.« »Und weshalb ist dein Kopf so kahl, Großvater?« fragte Grikor. »Wenn auf einem Berge weder Halm noch Gras wachsen, sind in seinem Inneren bestimmt kostbare Erze verborgen«, lächelte verschmitzt der Alte. »Das ist die richtige Antwort für deine lose Zunge«, meinte Asmik und schnitt ihm eine Grimasse. Nun erhob sich der Jäger und machte sich wieder an die Verfolgung des Fuchses. Bald hatten sie die Spur des Räubers im Schnee wiedergefunden, doch urplötzlich war sie an einem der steilen Abhänge verschwunden. Weggeflogen konnte der Fuchs nicht sein. Wo war er aber geblieben? Ratlos blickten sich die Kinder um. Der Großvater aber rief: »Er hat sich einen neuen Streich ausgedacht. Seht nur, da unten.« Die Kinder beugten sich vor und sahen, daß der Schnee eingedrückt war, als habe sich ein Tier darin gerollt. Die Stelle lag etwa zehn Meter tiefer als die von der sie hinabsahen. »Der Fuchs ist also zehn Meter in die Tiefe gesprungen. Das fällt ihm nicht schwer. Warte nur, wir klettern hinunter und werden deine Spur bald wieder haben.« Großvater hatte recht, zu guter Letzt langten die Kinder und der alte Jäger schließlich bei Meister Reinekes Bau an. Tschambar machte sich gleich daran, in den Bau hineinzukriechen, doch der Zugang war zu eng. Der Hund blieb stecken und mußte von den Kindern und dem Großvater mit vereinten Kräften an den Hinterbeinen herausgezogen werden. Nachdem Tschambar die Witterung des Fuchses genommen hatte, war er nicht mehr zu beruhigen; er ließ seine lange rote Zunge zum Maul heraushängen, kratzte und grub mit den Pfoten und bellte dabei wütend. »Nun versucht mal, ohne Spaten, Spitzhacke und Schaufel bis zur Höhle zu gelangen«, sagte der Jäger. —»Wenn man die Höhle ausräuchert, dann entkommt er uns durch seinen Notausgang.« »Wo hat er denn den Notausgang?« fragte Kamo. »Da drüben wird er sein«, sagte der Großvater und wies auf einen zweiten, etwa zwanzig Meter entfernten Zugang zum Bau. »Das ist ein alter, sehr schlauer Fuchs und kein Anfänger.« Nun besprachen die Kinder und der Großvater, wie dem Schlaumeier beizukommen sei. Kamo hatte Papier in der Tasche. Das wurde in den Bau gestopft und angezündet, während der Jäger, das Gewehr im Anschlag, an dem zweiten Ausgang Aufstellung nahm. Als dem Fuchs der Rauch lästig wurde, kam er vorsichtig aus dem Bau heraus. Da krachte auch schon der Schuß des Großvaters, und das prächtige Tier rollte in den Schnee. »Da hast du deinen Lohn, du Gänsedieb«, rief Großvater Assatur. Tschambar bellte wie toll. Die Kinder kamen herbeigelaufen und hoben den erlegten Fuchs auf. Es war ein herrliches Tier mit einem schönen dicken Pelz und buschigem Schwanz. Asmik hüpfte aufgeregt um den toten Räuber herum und schrie immerzu: »Jetzt kannst du uns keine Gänse mehr stehlen. Jetzt ist es aus damit!« »Ja, einen der schlimmsten Feinde unserer Geflügelfarm haben wir zur Strecke gebracht«, erklärte Kamo und lachte befriedigt. Tschambar, der inzwischen einen Hasen aufgespürt hatte, jagte laut kläffend hinter ihm her. »Den wird er wohl nicht einholen — der Schnee ist gefroren«, meinte der Großvater. »Wäre der Schnee weniger hart, dann könnte er ihn vielleicht fangen.« »Aber Tschambar ist doch so groß, und der Hase so klein. Warum kann Tschambar ein so kleines Tier nicht einholen?« wollte Asmik wissen. »Nun, weil der eine um sein Leben läuft und der andere nur zum Vergnügen«, antwortete Großvater Assatur und bog von dem Fußpfad in eine Schlucht ab. »Dort ist eine schöne Quelle. Wir wollen uns ein wenig ausruhen, etwas essen und dann nach Hause gehen«, schlug er den Kindern vor. In der Schlucht ließen sie sich an der Quelle nieder. Den Fuchs warfen sie neben sich in den Schnee. Großvater Assatur zog einen Brotlaib und kaltes Lammfleisch aus seinem Beutel, und alle ließen es sich gut schmecken. Von Tschambar war noch immer nichts zu sehen; irgendwo jagte er hinter dem Hasen her. Als alles aufgegessen war, beugte sich der Großvater zur Quelle nieder und trank Wasser aus der hohlen Hand. Dann räusperte er sich befriedigt und streckte die Hand aus, um den Fuchs aufzunehmen, aber — o weh — der Fuchs war nicht mehr da »Jungens, mein Gewehr!« schrie der Großvater. Der Fuchs war wie vom Erdboden verschwunden... Wahrscheinlich hatte sich der Tunichtgut nur totgestellt, und während die Kinder und der Großvater sich erfrischten, war er über die Hügel davongeschlichen und machte sich jetzt aus einem sicheren Versteck über den alten Jäger lustig. Die Kinder konnten sich vor Stauren über soviel Schlauheit gar nicht fassen. »Uns einen solchen Streich zu spielen, so ein Teufelskerl«, schimpfte der Alte, den nichts härter treffen konnte als der Verlust einer Beute, die er schon sicher zu haben glaubte. Großvater Assatur war sehr niedergeschlagen. Die Sonne war bereits untergegangen. Vom See her wehte ein eisiger Wind, und die Kinder zitterten vor Kälte. Es schien aussichtslos, den Fuchs heute weiter zu verfolgen. »Kommt nach Hause, Kinder«, sagte der Großvater. »Heute ist nichts mehr zu machen. Aber ich will lieber meinen Bart einbüßen als endgültig auf den Balg dieses Räubers verzichten.« »Wie konnte er nur davonlaufen, Großväterchen?« fragte Armjon. »Du hattest ihn doch getötet.« »Das ist es ja«, meinte der alte Jäger kleinlaut. »Er war eben nicht tot, sondern wohl nur leicht verwundet, und muß betäubt gewesen sein. Als ich dann auf den unseligen Einfall kam, an der Quelle Rast zu machen, ist er wieder zu sich gekommen und hat sich davongeschlichen. Na, warte nur, Freundchen, mit dir rechne ich noch ab! « Ein Leckermaul, dem der Honig schmeckt Alles schien von nun an einen reibungslosen Verlauf zu Æ nehmen. Nur ein bemerkenswerter Zwischenfall ereignete sich noch in diesem Winter. Großvater Assatur wollte eines Morgens nachsehen, ob in dem Schuppen, in dem die Bienenstöcke standen, die Temperatur nicht gefallen sei. — Der Frost hatte sich verschärft. Vom See her wehte ein eisiger Wind; er fegte über die Ebene, und über den kahlen Abhängen des Tschantschakar tobte ein Schneesturm. Der Alte verstopfte alle Ritzen in der Stallwand sorgfältig mit Stroh und sah sich auch von außen noch einmal alle vier Wände an, ob er nicht irgendwo ein Spältchen übersehen hatte. Plötzlich bemerkte er im Schnee Spuren, die sich in einer dünnen Kette bis zum Stall hinzogen. Sie sahen aus wie die Abdrücke von Katzenpfoten. In den Stall zurückgekehrt, machte sich der Großvater daran, die Bienenkörbe auf das genaueste zu untersuchen. Während er noch damit beschäftigt war, knarrte die Tür, und Grikor kam herein. »Was willst du denn hier?« fragte der Großvater barsch. Grikor tat, als sei er ganz bestürzt. »Ist es die Möglichkeit? Wo bin ich nur hingeraten? Da sieht man wieder, was der Honig für eine Anziehungskraft hat! Man wird von dem süßen Zeug förmlich mitgerissen und bleibt dran kleben. « »Hör auf mit dem Unsinn«, rief der Großvater etwas ungehalten. »Anstatt zu schwatzen, wollen wir lieber nachsehen, was für ein nichtsnutziger Honigdieb sich an die Bienenstöcke herangeschlichen hat.« Der Großvater hatte nämlich entdeckt, daß an einem der Bienenstöcke das Flugloch gewaltsam erweitert und der Honig samt den Waben aufgefressen worden war. Großvater Assatur, der den Bienenstock betrübt von allen Seiten gemustert hatte, vermutete, in der Nacht müsse sich ein Marder eingeschlichen und den Schaden angerichtet haben. »Wir werden ihn lehren, Honig zu stehlen«, polterte der Alte. »Hole deine Kameraden, wir wollen uns auf die Lauer legen und ihn fangen, und dann werden wir dem frechen Räuber das Fell abziehen.« Kamo und Armjon waren schnell zur Stelle. Sie besahen den beschädigten Bienenkorb, neben dem Wachs und tote Bienen am Boden lagen. »Wie kommt es nur, daß er die Hunde nicht gefürchtet hat?« fragte Kamo. »Bei dem Schneesturm haben sich die Hunde in ihre Hütten verkrochen, und das faule Gesindel hat sich nicht rausgewagt. Gerade solche Nächte sucht sich der Marder für seine Raubzüge aus. Wie dumm von mir«, fuhr der Großvater fort, »daß ich nicht daran gedacht habe, für solches Diebsgesindel Schlingen zu legen. Allerdings ist das gefährlich, weil es hier überall so viele Hunde und Katzen gibt. Geh nach Hause, Kamo, und hole meine Flinte. Bringe mir auch Bagrats Flinte mit, die bei uns steht. Du kannst auch eine Schaufel und eine Spitzhacke mitbringen. « Einige Stunden darauf stieg der Großvater den Weg zum Dali-Dagh empor. Kamo und Armjon gingen dicht hinter ihm, und Grikor folgte als letzter. Allen voran lief, vom Jagdeifer gepackt, Tschambar; die Nase am Boden, verfolgte er die Spur des Marders. Es hatte bereits in den frühen Morgenstunden aufgehört zu schneien, und die Spuren des kleinen Raubtieres waren für die scharfen Augen des alten, erfahrenen Jägers deutlich sichtbar. Als sie bei der Tschantschakarschlucht anlangten, setzte sich Grikor auf einen Stein. »Daß so ein kleines Tier so weit läuft, um etwas zu erbeuten«, meinte er. »Und wie schnell es läuft«, stellte der Großvater schnaufend fest. »Der Mensch kann in drei Tagen keine so lange Strecke zurücklegen wie ein Marder in einer einzigen Nacht. Und wißt ihr auch, was ihn vorwärts treibt - die Gier nach Honig. Du weißt doch, Grikor, mit welcher Kraft dich der Honigduft zu den Schwarzen Felsen gezogen hat! Du wärst damals beinahe in den Abgrund gestürzt. Nun, der Marder liebt den Honig genauso wie du; sobald er das süße Zeug wittert, achtet er auf keine Gefahr mehr. In der Nacht kennt er ohnedies keine Furcht; erst wenn es hell wird, versucht er, wie die meisten Tiere der Wildnis, sich zu verstecken, damit ihn kein Feind entdeckt. Diesmal ist er anscheinend nicht so weit gelaufen. Er muß sich hier in irgendeinem Erdloch verborgen halten. Hat sich wohl zu vollgefressen, um weit zu laufen.« Der Großvater schien recht zu haben, denn unter einem vorspringenden Felsen endete die Marderspur plötzlich. Die Kinder waren sehr aufgeregt; es war ihre erste Jagd auf einen Marder. Der Großvater triumphierte: »Jetzt entkommt er mir nicht mehr«, rief er und zog aus seinen unergründlichen Jackentaschen einen Packen alter Zeitungen hervor. »Was willst du damit machen?« fragte Grikor. »Warte nur ab. Erst werden wir den Burschen in seinem Unterschlupf ausräuchern; dann werde ich mit der Spitzhacke das Versteck freilegen und den Kerl herausholen.« Der Großvater knüllte mehrere Zeitungen zusammen, steckte sie in ein Erdloch unter dem Felsen, zündete sie an und blies den Rauch nach innen. »Wir müssen die Ritzen verstopfen«, rief der Alte, »der ganze Rauch dringt ja durch die Felsspalten ins Freie. Los, faßt alle mit zu!« Die Jungen halfen dem Großvater, und es dauerte gar nicht lange, da hörten sie drinnen ein Krächzen und Keuchen. Der Marder, der zu ersticken drohte, machte einen verzweifelten Versuch, auszubrechen. Er sprang mit einem gewaltigen Satz ins Freie, prallte gegen den Arm des Großvaters und flüchtete eiligst. »Tschambar, halt ihn, Tschambar! « schrie der Großvater und schwenkte aufgeregt die Arme. »Denk nicht, daß du mir entkommst«, schrie er, »ich ziehe dir doch noch das Fell über die Ohren!« ' Tschambar hatte den Marder entwischen lassen. Das verängstigte Tier kam bis zu einer hohen Eiche, auf die es geschwind hinaufkletterte. Gegen einen dicken Ast gepreßt, blieb es regungslos hocken. Der Großvater war über diesen Mißerfolg sehr ärgerlich und fluchte und zankte mit den Jungen, daß sie das Tierchen hatten entwischen lassen. Zu allem Überfluß heulte auch noch der ,Wassermann' vom Gilli-See her, als wollte er den alten Jäger verspotten. »Das hat mir gerade noch gefehlt«, brummte der Großvater böse. »Nur gut«, meinte er dann, »daß mir Bagrat sein Militärgewehr geliehen hat. Mit Schrot kann man den Burschen nicht herunterholen. Ich muß es mit einer Kugel versuchen, muß ihn aber in den Kopf treffen, damit das wertvolle Fell nicht beschädigt wird.« Der Alte legte an und zielte. Dann ließ er das Gewehr betrübt wieder sinken. »Ich bin zu alt, meine Hände zittern. Versuche du es, Grikor.« Und er reichte dem Jungen das Gewehr. Als Grikor danach greifen wollte, zog es der Großvater jedoch schnell zurück, lachte schelmisch und rief: »Hast du im Ernst geglaubt, daß ich dazu nicht mehr tauge, daß du Grünschnabel es besser kannst?« Grikor hatte es, als ihm der Großvater das Gewehr reichte, die Sprache verschlagen; Armjon und Kamo aber hatten gleich begriffen, daß sich der Alte nur einen Spaß mit ihrem Freund machen wollte. Der Schuß krachte, und der Marder fiel, von Ast zu Ast rutschend, so geräuschlos auf den Schnee, als hätte der Wind ein graubraunes Büschel Watte herabgeweht. Kamo lief auf das Tierchen zu und hob es auf. Er staunte: die Kugel hatte dem Marder zwei Vorderzähne ausgeschlagen. Das Fellchen — weich, mit samtenem Flaum bedeckt — war völlig unbeschädigt. »Da könnt ihr sehen, was ein Schuß ist!« brüstete sich der Großvater und strich selbstgefällig über das an seinem Archaluk befestigte Abzeichen eines ,Woroschilow-Schützen’. »Umsonst hat man mich im Kriege gewiß nicht damit ausgezeichnet? Jeder im Bezirk weiß, was für ein Kunstschütze der Jäger Assatur ist!« Der erlegte Marder war sehr hübsch anzusehen. Es war ein Steinmarder mit kastanienbraunem, auf dem Bäuchlein etwas heller schimmerndem Fell und mit einem großen weißen Fleck am Halse, der Schwanz war buschig. Doch wenig später schon hatte das Fell an Glanz verloren. »Das ist immer so«, erklärte der Großvater, »solange sie leben, ist das Fell schön glänzend, sowie aber das Tier erkaltet, verliert es an Glanz.« Es wurde beschlossen, Tschambar diesen guten Bissen zu gönnen. Großvater holte sein Messer aus der Tasche, zog dem Marder das Fell aus, ohne es zu beschädigen, und stopfte es flink und geschickt mit dürren Blättern so voll, daß es aussah wie ein lebendes Tier. Auf dem Heimweg fragte Kamo: »Großväterchen, was wirst du mit dem Fell machen?« »Ich denke, Asmik soll auch nicht zu kurz kommen?« schlug der Großvater vor. Die Jungen waren mit seinem Vorschlag einverstanden. Sie hatten alle drei, als sie das hübsche Fell sahen, an Asmik gedacht. Im Dorf angelangt, blieben sie vor Asmiks Haus stehen. Der Großvater brachte ihr das Marderfell und sagte: »Nimm das, mein Töchterchen. Lege es an deinem Hochzeitstage an, und denke dann ein wenig an den alten Großvater.« Asmik wurde verlegen, freute sich aber sehr über das schöne weiche Fell. Sie drückte es an ihr Gesicht und sagte immer wieder: »Wie schön es ist und wie herrlich weich!« Kamo war richtig ein bißchen eifersüchtig auf den Großvater, denn er wünschte sich selber, Asmik so ein Fellchen schenken zu können. Wie gern hätte er ihr eine Freude gemacht, und wie gern wollte er, daß sie ihn so liebevoll ansehe wie jetzt den Großvater. Der Himmel ist verschlossen Mit Schneeglöckchen und Veilchen, mit Schwärmen von Vögeln und warmen Sonnenstrahlen kam der neue Frühling, breitete sich in der Aras-Ebene aus und stieg bis zu den Gipfeln des Dali-Dagh empor. Die Natur erwachte aus ihrem Winterschlaf, warf die weiße Hülle ab und legte ihre farbenprächtigen Frühlingskleider an. Im Ufergebüsch des Gilli-Sees regten sich die Vögel, und es begann zu lärmen und zu zwitschern in allen Tonarten. Zu Beginn des Frühlings brachten die Kinder in ihrer Versuchsfarm die Brutöfen in Ordnung und beschafften Akkumulatoren. Während des Winters hatte sich alles so verändert, daß es gar nicht wiederzuerkennen war. Aus dem ersten primitiven Stall war eine richtige große Geflügelfarm geworden. Die Vögel waren in verschiedenen Ställen und Käfigen unter-gebracht, und auch die Futterrationen waren unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um junge Vögel, um Enten oder Wasserhühner handelte. An einem sonnigen Tage machte Asmik die Tore weit auf, und alle ihre Schützlinge, ganz gleich welcher Art, eilten unter lautem Geschnatter und Gegacker dem Teiche zu. Alle sahen sie durchweg gut genährt und gesund aus. Asmik war außer sich vor Freude, als sie sich mit ihrem krakeelenden Völkchen auf den Weg zum Wasser machte. »Seht nur, wie die sich rausgemacht haben«, rief sie glückselig ihren Freunden zu. »Ja, deine Vögel sehen gesund und munter aus«, bestätigte Grikor. »Aber auch du hast dich herausgemacht, Asmik, du bist tüchtig gewachsen, weißt du das?« Lachend zauste Asmik den dichten Haarschopf des Freundes. »Laß los«, schrie Grikor, »du reißt mir ja alle Haare aus! « Grikor hatte recht. Asmik war im Laufe des vergangenen Jahres viel größer geworden. Auch die Jungen waren in die Höhe geschossen. Kamo war ein richtiger junger Mann geworden; auf seiner Oberlippe war schon der Hauch eines dunklen Bärtchens zu sehen. Seine Stimme klang ein wenig brüchig. Armjon, noch schüchterner als bisher, war schlank und groß geworden. Nur Grikor schien sich nicht viel verändert zu haben. Sein Gesicht hatte den kindlich-naiven Ausdruck behalten, und in seinen schwarzen Augen tanzte immer noch der Schalk. Die wilden Vögel der Versuchsfarm fingen an, Eier zu legen. Es waren etwa hundertundzwanzig Hennen. Nun brauchten die Kinder nicht mehr mühselig im Schilf nach Eiern zu suchen. Eines Tages kam Asmik glückstrahlend aus dem Stall, in dem die Wasserhühner untergebracht waren; sie hielt ein längliches gesprenkeltes Ei in der Hand: »Guckt mal«, rief sie, »das erste Ei von unseren Wasserhühnern. Ist es nicht hübsch?« »Zeig mal«, rief Grikor, »ich will mit den Zähnen probieren, wie hart es ist. Erinnerst du dich, wie hart die Eierschalen des Wasserhuhns sind?« Asmik erschrak. »Nein, du bekommst es nicht. Du wirst es zerbrechen«, und sie drückte das Ei zärtlich an ihre Wange. »Wir wollen es wiegen«, schlug Armjon vor. Grikor holte eine kleine Apothekerwaage, die in einer Ecke hing. »Es wiegt ebensoviel wie ein gewöhnliches Hühnerei«, sagte Armjon, als er das Ei gewogen hatte. »Siebenunddreißig Gramm. — In ein oder zwei Jahren, wenn die Vögel aus-gewachsen sind, werden sie größere Eier legen. Jetzt kommt es darauf an, eine Kreuzung zwischen dem wilden Geflügel und unserem Hausgeflügel zu versuchen. Was meinst du dazu, Asmik?« »Wir haben doch keine zahmen Gänse oder Enten, höchstens Hühner, und ob das geht?« »Wir könnten ja einen Teil unseres wilden Geflügels gegen zahmes eintauschen«, schlug Kamo vor, »und warum soll es nicht gehen?« Als die Kinder dann zum Kolchosvorsitzenden Bagrat kamen und ihn baten, ihnen einige wilde Vögel gegen zahmes Geflügel einzutauschen, war er sofort einverstanden. Der Vorsitzende hatte zu seinen jungen Naturforschern Vertrauen gefaßt. Auf Bagrats Anordnung hin durften sie in der Kolchosfarm zehn Vögel abholen — fünf Gänse und fünf Enten. »Und unsere Vögel will Onkel Bagrat nicht haben?« fragte Kamo. »Der Vorsitzende hat nichts davon gesagt«, erwiderte der Verwalter. Nun wurden die zahmen Vögel zu ihren wilden Artgenossen in den Stall gesetzt. Nachdem auch die Gänse und Enten an-gefangen hatten zu legen, waren die Kinder davon überzeugt, daß die Kreuzung zwischen dem zahmen und dem wilden Geflügel gelungen war. Aber das Experiment brachte neben den neuen Hoffnungen auch neue Sorgen mit sich. Gewiß, Futter hatten sie genug; die Gerste auf Armjons Feld war gut aufgegangen und grünte bereits. Doch je näher der Sommer herankam, desto größer wurde die Angst vor der bevorstehenden Dürre. Böse Vorahnungen erfüllten die jungen Freunde. Seit seinem Bestehen hatte das Dorf Litschk schon manche Gefahren überstanden. Vor heranrückenden Feinden waren früher die Bewohner in die Berge geflüchtet. Doch wohin sollte man vor der Dürre flüchten? Die Acker des Dorfes lagen fast ausnahmslos auf steinigem, der prallen Sonne ausgesetztem Gelände und zum Teil sogar an den wasserarmen Berghängen. Die Kolchoswirtschaft pflügte im Sommer und speicherte da-durch während der Wintermonate Feuchtigkeit auf. Im Herbst wurden gegen Trockenheit unempfindliche Getreidearten aus-gesät. Hierdurch hatten sich die Ernten im Gebiet des Sewan erheblich verbessert. Doch die Dürre blieb nach wie vor der ärgste Feind dieses an Wäldern und an Feuchtigkeit armen Gebietes. »Das ist eben unser Unglück«, sagte Armjon zu Asmik und wies auf die kahlen Berghänge. »Wir sind von allen Seiten von Bergen eingekesselt. Vom Schwarzen Meer her ziehen Wolken heran. Doch diese Berge hindern sie, ihren Regen bei uns ab-zuladen.« »Und unser ,Meer'?« fragte Asmik. »Unser Sewan ist nicht groß genug, um die Wolkenbildung zu beeinflussen... Das weiß ich aus der Naturkunde. Im Frühjahr schießen die jungen Triebe aus dem Erdreich. Sie wachsen zwei Handbreit und müssen dann aus Wassermangel verwelken. « Auch die Bienen fanden während der Dürre nicht genug Nahrung, denn auf den Feldern gab es weder Gras noch Blumen. Am meisten aber litten die Wasservögel unter der Trockenheit. Sie schlichen ermattet umher, magerten ab und verkamen. Asmik führte ihre Schützlinge einige Male bis zum Gilli-See. Das klägliche Aussehen der Vögel und ihr schmutziges, struppiges Gefieder machten das Mädchen ganz traurig. »Hast du gesehen, wie viele Risse im ausgedörrten Boden unseres Teiches sind?« fragte sie Grikor. »Der arme Teich, auch er will trinken«, antwortete Grikor. Eines Tages bat Armjon den Kolchosvorsitzenden um einen Wagen. Er wollte Wasser aus dem See holen. Bagrat, der die jungen Naturfreunde mit der Zeit liebgewonnen hatte, willigte sofort ein. Sein Lieblingswort ,Anarchie' war schon lange nicht mehr im Zusammenhang mit den Kindern gefallen. Von der Konsumgenossenschaft entliehen die Jungen ein paar leere Bierfässer und fuhren damit zum Gilli-See. Als sie die Fässer gefüllt hatten, machten sie auf dem Rückwege bei den Bienen Station, um auch ihnen Wasser zu bringen. »Zehn Millionen Bienen brauchen weniger Wasser als ein einziges Kalb«, sagte lachend Großvater Assatur. »Die Bienen sind es gewöhnt, aus dem Bach zu trinken. Sie werden von euren Bierfässern nichts wissen wollen. Aber die Bäche sind jetzt oft versiegt. Könnt ihr für sie nicht neue machen?« »Wir wollen es versuchen. Aber das Wasser wird trübe und abgestanden sein. Wird es ihnen denn schmecken? Wir hatten es vor allem für den Klee geholt.« Behutsam wurde eines der Fässer vom Wagen gehoben und auf den Boden gestellt. Nun bekam der welk gewordene Klee-streifen längs des Zaunes, an dem die Bienenkörbe standen, tüchtig zu trinken. Die Bienen, die das Wasser witterten, schwirrten herbei und machten sich über den Klee her. »Das ist gut«, sagte Armjon, »die Bienen können die Wassertröpfchen von den Kleeblättchen abtrinken, im Bach würden sie vielleicht ersaufen.« Plötzlich rannte Grikor Hals über Kopf nach Hause; ihm war ein Gedanke gekommen. Dort stand in einer Zimmerecke seit Jahr und Tag ein alter Samowar mit einem verbogenen Hahn. Grikor ergriff ihn und eilte wieder hinaus. »Junge«, rief seine Mutter, »wohin willst du mit dem Samowar? « »Den Bienen zu trinken geben.« Und schon war er wieder verschwunden. Stolz langte er mit dem Samowar in der Imkerei an und rief Armjon zu: »Schnell, fülle ihn mit Wasser.. . So.. . Dann drehen wir den Hahn ein ganz klein wenig auf... Siehst du, was für ein dünnes Bächlein da herausfließt... Das muß jeden Tag gemacht werden. Das ist das Richtige für die Bienen.« Die Jungen brachten die übrigen Fässer zur Geflügelfarm und füllten alle vorhandenen Tröge und Wannen. Das war ein lustiges Geschnatter. Die Enten und Gänse waren so ungestüm, daß viel Wasser verschüttet wurde, und manche bekamen dafür gar nichts, denn die Stärkeren drängten wie immer die Schwachen zur Seite. »Grikor, lauf schnell und bitte den Gruppenführer um zwei weitere Wagen!« schlug Kamo vor. »Vielleicht können wir uch noch unserer Gerste Wasser geben.« Hätte man nicht diese Unmengen von Wasser immer vor Augen gehabt, wäre die Zeit der Dürre sicher leichter zu ertragen gewesen... Aber so dehnte sich unten im Tal das unübersehbare Becken des Sewan aus. Der geheimnisvolle ,Wassermann' im Gilli-See ließ von Zeit zu Zeit sein unheimliches Gebrüll erschallen. »Wir haben Gott vergessen, Leute, nun straft er uns dafür!« flehte die alte Sona und schwenkte verzweifelt die Arme. »Rede keinen Unsinn!« fuhr sie der Großvater an. »Seid ihr früher nicht dreimal im Jahr zum Gottesdienst gelaufen? Habt ihr nicht Opfer gebracht und gefastet? Nun, und hat es damals keine Dürre gegeben? Hast du vergessen, wie im Japanischen Krieg der Himmel verschlossen war, wie das Volk damals unter Durst gelitten hat?« »Solche alten Männer wie du haben uns nun ins Unglück gebracht«, greinte die alte Sona. »Hast dich mit Kindern eingelassen und bist selber kindisch geworden... « Die alte Sona schlug vor, ,das Wasser zu pflügen', das war ein alter Brauch, den die abergläubischen Bauern gepflegt hatten, weil sie glaubten, damit Regen herbeizurufen. Von Sona angeführt, liefen die Frauen zum Gilli-See, spannten sich selber wie Pferde vor den Pflug und begannen das Wasser umzupflügen, dabei verursachten sie einen gewaltigen Lärm. Am Abend verhöhnte der Kolchosvorsitzende Bagrat in der Versammlung die abergläubischen Frauen. »Euer ,Pflügen' wird euch nichts anderes einbringen als Spott und Hohn«, sagte er. »Besser wäre es, wenn wir alle zusammen zum Gilli-See zögen und so viel Wasser heranholten, wie jeder tragen kann.« »Was soll das? Sind wir in den Kolchos eingetreten, um Wasser zu schleppen?« kreischte die alte Sona. »Der Kolchos ist kein mit Honig gefüllter Krug, in den du wie ein Marder hineinkriechen kannst, um dich satt zu fressen und dann schlafen zu gehen«, empörte sich Großvater Assatur. »Kommt zum Gilli-See, Leute. Das ist ein vortrefflicher Gedanke von Bagrat.« Um Bagrats Vorschlag in die Tat umzusetzen, machte Aram Michailowitsch die Parteiorganisation des Dorfes mobil, Kamo den Jugendverband, Armjon die Pioniere seiner Gruppe und Asmik ihre Freundinnen. »Sämtliche Fuhrwerke und Wagen sofort anspannen!« befahl der Kolchosvorsitzende. »Ihr habt zwanzig Minuten Zeit. Alle im Dorf vorhandenen Pferde, Esel, Maultiere zusammen-treiben! Alles heranschaffen, was sich an Fässern und Krügen finden läßt! Alle Kannen aus der Molkerei holen! « Jeder brachte, was er gerade hatte, der eine einen Eimer, der andere einen Burdjuk[6 - Burdjuk = schlauchartiger Behälter für Wein.], der dritte einen Krug oder selbst eine Teekanne. Kurz, alles, was sich mit Wasser füllen ließ. In den Herzen der Menschen war die Hoffnung erwacht, die Felder doch noch vor der Dürre retten zu können. Als alles zur Stelle war, schrie Bagrat über die Köpfe der Bauern hinweg: »Los! Auf zum Gilli!« Das ganze Dorf zog nach Wasser aus. Eine klare, ruhige Nacht brach an, und der Vollmond warf sein milchiges Licht über die von der Sonne versengten Felder. Eine Surna[7 - Surna = Musikinstrument.] ertönte. Eine Trommel fiel ein. Die Musik hielt die Menschen wach und munter. Scherzworte flogen hin und her. Gelächter erscholl. Es wurde ein Lied angestimmt. Das Plätschern des Wassers und das Klirren der Eimer, die Musik und der Gesang vertrieben die Stille über dem Gilli-See. Auch ein mit Fässern beladenes Lastauto, das zum Kolchos gehörte, fuhr zum See hinunter. Ratternd und knatternd folgten die Traktoren; sie zogen mit Fässern und Tonnen beladene Anhänger hinter sich her. Eine Anzahl Frauen und Kinder bildeten den Schluß des Zuges, alle trugen Gefäße, um Wasser zu schöpfen. Als sämtliche Behälter gefüllt waren, zog die Wasserkarawane singend zurück, die einen im Lastauto, die anderen mit den Gespannen. Wer zu Fuß ging, trieb Esel oder Maultiere vor sich her, an denen Krüge und Kannen festgebunden waren. Alle waren froh gestimmt und von dem einen Gedanken beseelt, die verdurstende Saat zu retten; es war ein buntes, lebendiges Bild. Als der Zug die Anhöhe erreicht hatte, auf der die Felder lagen, wurden die Gefäße ausgeleert. Das frische, kalte Wasser strömte mit lustigem Plätschern auf das durstende Land. Gierig sog die dürre Erde das Wasser ein, das leise glucksend versickerte, als wollte der Acker sagen: Ach, das tut gut, gebt mir noch mehr zu trinken! In dieser Nacht wurde die Reise zum Gilli-See noch einige Male wiederholt. Der alte Krug erzählt Wie kleine Kinder, die nach einer überstandenen Krankheit wiederaufleben, begannen sich die Felder allmählich zu erholen. Nur die Vögel in der Farm schlichen noch immer matt und lustlos umher. Ihre Federn hatten jeden Glanz verloren. Wenn man genau hinhörte, schien sogar das Summen der Bienen unlustig zu klingen, denn auf den Wiesen blühten auch nach dem Bewässern keine Blumen. In zwei der zu Bienenstöcken verwandten Krüge gingen sogar die Völker ein. Großvater Assatur nahm gerade den Honig und die restlichen Waben aus dem einen Krug heraus, stellte ihn in die Sonne und wandte sich dem zweiten zu. »Armjon, lauf bitte zum Lagerverwalter und sage ihm, er möchte kommen, um den Honig in Empfang zu nehmen«, rief er. Mit seinem langen Dolch löste der Großvater das Wachs aus dem Krug, mit dem die Waben an der Innenwand hafteten. Den Honig legte er auf ein sauberes Holzbrett. Plötzlich stieß er mit der Dolchspitze gegen etwas Hartes. Vorsichtig schälte er die Wabe heraus. Zwischen dem Wachs und dem Honig funkelte ein blanker Gegenstand. Verstohlen sah sich der Großvater um, ob ihn wohl jemand beobachtet habe. Ein Arbeiter kam aus dem Lager, nahm das Brett mit dem Honig in Empfang und fragte, indem er auf den zweiten Krug wies: »Und was soll mit dem Honig werden?« Verlegen stotterte der Großvater: »Den will ich auf die halbvollen Krüge verteilen.« Der Arbeiter dachte, der Großvater wolle seiner Frau ein wenig Honig mitnehmen, und entfernte sich ohne weitere Fra-gen. Armjon war noch nicht zurückgekommen. Allein geblieben, schälte der Alte noch einige Waben heraus und erstarrte: der Krug war zur Hälfte mit goldenen Ringen, Halsketten und Münzen gefüllt. Bei diesem Anblick verlor der alte Mann gänzlich die Fassung. Er schloß die Augen und mußte sich vor Schreck Halt suchend auf die Erde setzen. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, nahm er einen Sack und tat die gefundenen Kostbarkeiten hinein. Seine Hände zitterten so sehr, daß sie ihm kaum gehorchten. Die Münzen, die an den Wänden des Kruges klebten, ließen sich nur mit Mühe ablösen. Großvater Assatur beeilte sich. Er fürchtete, jemand werde ihn bei dieser Beschäftigung überraschen. Aber er wollte auch nicht eine einzige Münze in dem Kruge zurücklassen, um sich nicht dadurch zu verraten. Als er das irdene Gefäß bis auf den Grund geleert und gesäubert hatte, nahm er den Sack über die Schulter und ging damit nach Hause. Der Sack war schwer, und scheu und unsicher keuchte der Alte die Straße entlang. Dabei meinte er, das ganze Dorf sähe ihn neugierig fragend an. Endlich hatte er seine Wohnung erreicht. Er schlüpfte in den Stall und versteckte den Sack in einem Verschlag. Als es dämmerte, sagte er zu seiner Frau: »Du warst doch schon lange nicht mehr bei unserem Töch-terchen. Du solltest mal hingehen und nachsehen, wie es dort geht.« »Du hast recht«, pflichtete ihm die alte Nargis bei. »Ich will hingehen und mal nachsehen.« Seine Frau war kaum weg, da nahm der Großvater einen Krug Wasser, eine Schüssel und eine Laterne und ging in den Stall. Nachdem er die Tür sorgfältig von innen verbarrikadiert hatte, zog er den Sack mit seinen Schätzen aus dem Verschlag, goß Wasser in die Schüssel und wusch den Honig, der an den Kostbarkeiten klebte, fein säuberlich ab. Jetzt strahlten die Stücke einen solchen Glanz aus, daß es die Augen förmlich blendete. Die Edelsteine in den Armbändern und den Ringen glänzten in so vielen Farben, daß es dem alten Manne vorkam, als wäre es ein Schatz aus einem Märchenschloß. Ein Geräusch im Hof! Hastig löschte er das Licht in der Laterne aus und horchte. Nein, er hatte sich geirrt, es kam niemand. Vielleicht war Tschambar draußen vorbeigelaufen. Großvater Assatur konnte es noch immer nicht fassen. Solche Kostbarkeiten hatte er in seinem ganzen langen Leben noch nie zu Gesicht bekommen. Da er fürchtete, seine Frau würde bald wieder zurückkehren, tat er den Schmuck wieder in den Sack, hob in aller Eile in einer Stallecke ein Loch aus und grub den Schatz ein. Als er dann auf den Hof hinaustrat, blickte er sich ängstlich nach allen Seiten um. Nein, es war niemand zu sehen. Er machte die Stalltür zu, schob den Riegel vor und ging ins Haus zurück. Auf der Polsterbank sitzend, sog er gierig an seiner Pfeife. Seine Gedanken kreisten um den Fund. Einerseits freute er sich darüber, andererseits hatte er ein schlechtes Gewissen. Ängstlich horchte er auf jedes Geräusch. Würde jemand kommen und den Diebstahl aufdecken? Wieso denn Diebstahl? überlegte er. Wen habe ich denn bestohlen, und weshalb schlägt mein Gewissen? Da hörte er Schritte auf dem Hof. Nargis war zurückgekommen. Als sie ihren Mann sah, fragte sie ganz erschrocken: »Was ist denn mit dir? Du siehst ja ganz blaß aus und zitterst am ganzen Leibe. Bist du etwa krank?« »Ich fühle mich nicht ganz wohl«, log der Alte. »Mach mir das Lager zurecht. Ich will schlafen gehen.« Und er begann sich schnaufend auszuziehen. Von diesem Tage an machten die Kolchosarbeiter die Beobachtung, daß Großvater Assatur immer finsterer und reizbarer wurde und daß er neuerdings, ganz gegen seine Gewohnheit, den Leuten aus dem Wege ging. Selbst bei den Bienen ließ er sich nicht sehen. Meist saß er, das Gewehr zwischen den Knien, im Kolchos auf der Tenne. Eines Tages kam Grikor ganz entsetzt zu Kamo gelaufen und sagte: »Großväterchen Assatur muß den Verstand verloren haben. Komm bloß mal mit. « Behutsam schlichen die beiden Jungen zur Tenne. Hinter einer Heumiete verborgen, beobachteten sie den Alten. Er hatte die Arme ausgestreckt und hob die Hände abwechselnd bald in die Höhe, bald ließ er sie sinken, als halte er etwas darin, dessen Gewicht er zu ermitteln suchte. Dabei bewegten sich seine Lippen, als führe er ein Selbstgespräch. Bei dem leisesten Geräusch zuckte er zusammen und blickte sich ängstlich nach allen Seiten um. »Was ist nur mit ihm?« flüsterte Kamo. »Es kommt wohl vom Alter«, meinte Grikor. »Nein, das hat mit dem Alter nichts zu tun. Er ist doch sonst noch sehr rüstig. Es muß einen anderen Grund haben. . . « Kamo war recht besorgt, denn er hatte seinen Großvater sehr lieb. Grikor bemerkte, daß Tränen in den Augen des Freundes standen. Das war etwas ganz Ungewöhnliches. »Wollen wir ihn anrufen?« »Nein, lieber nicht. Komm, wir gehen wieder.« Und die Jungen entfernten sich ebenso leise, wie sie gekommen waren. Als Großvater Assatur einige Tage später Armjon kommen sah, winkte er ihn zu sich heran und flüsterte ihm geheimnisvoll ins Ohr: »Armjon, was tätest du, wenn du Gold gefunden hättest?« »Gold? Wenn ich Gold gefunden hätte, würde ich es dem geben, dem es gehört«, antwortete Armjon ohne zu zögern. »Hrn. .. aber wem gehört es denn?« fragte der Großvater. »Dem Staat, Großväterchen, dem Volk.« Der alte Mann schien erstaunt. »Die Menschen bringen sich des Goldes wegen gegenseitig um, und du sagst, es gehört dem Volk. « »Bei uns in der Sowjetunion bringt man sich des Goldes wegen nicht um«, widersprach Armjon. »Das war früher so, zu deiner, zu der alten Zeit, jetzt gibt es so was nicht mehr. Höchstens in Amerika werden wegen Dollars noch Menschen umgebracht. « »Wenn du Gold findest, dann gehört es dir«, entrüstete sich der Alte und war bemüht, die mahnende Stimme in seinem Inneren zu unterdrücken. »Weshalb soll man es einem anderen geben?« »Was tut das, ob ich Gold finde oder ein anderer, es bleibt doch Eigentum des Staates. Und der einzelne hat kein Recht, es zu behalten. Du redest doch sonst immer von der Gerechtigkeit und der Ehre, ein Sowjetmensch zu sein; und jetzt sprichst du so? Ich kann dich nicht verstehen. Was soll deine Fragerei überhaupt bedeuten?« Um seine Erregung zu verbergen, schrie der Großvater, der sehr verlegen geworden war, Armjon an: »Schwatz keinen Unsinn, du Grünschnabel. Willst du etwa dem Jäger Assatur Anstand und Ehrlichkeit beibringen?« ... Und wütend ging er nach Hause. Sein erster Weg war in den Stall. Er schloß die Tür hinter sich ab, riegelte von innen zu und grub den Sack aus. Lange saß er so - in tiefes Nachdenken versunken - da, und starrte mit leeren Augen den Schatz an... Ja, der Junge hat recht - die Ehre geht über alles! Ich habe nie etwas Unrechtes getan und werde es auch jetzt nicht tun. Kurz entschlossen warf er den Sack über die Schulter und wollte damit zur Kolchosverwaltung gehen, doch die Beine versagten ihm den Dienst. Er setzte den Sack ab, band ihn auf und machte sich daran, die Kostbarkeiten noch einmal zu betrachten. Wenn er früher als junger Jäger in den Bergen herumstreifte, hatte er immer davon geträumt, Gott müsse sich seiner Armut erbarmen und ihn einen Topf voll Gold finden lassen. Mehr als fünfzig Jahre hatte er diesen Traum in seinem Herzen gehegt. Wie oft war er während der Jagd auf der Suche nach Schätzen in die Berg-höhlen gekrochen; aber immer mußte er enttäuscht und mit leeren Händen nach Hause zurückkehren. Oft hatte er sich die Berichte der Alten, die von vergrabenen Schätzen erzählten, mit angehört und hatte auch des Nachts davon geträumt. Dabei hatte ihm im Traum meist jemand zugeraunt: ,Da drüben, wo das alte Dorf gestanden hat, liegt unter einem Hügel ein Schatz vergraben. Grabe ihn aus, er soll dir gehören.' Doch der tief eingewurzelte Aberglaube, die Angst vor der Rache der Geister hatte ihn abgehalten. ,Wer einen Schatz ausgräbt', hieß es, ,verschuldet den Tod seiner Angehörigen.' Zuweilen aber hatte die Gier nach Gold doch die Oberhand gewonnen, und in mondhellen Nächten hatte sich der Jäger Assatur häufig aufgemacht und hatte allem Aberglauben zum Trotz nach Schätzen gegraben. Doch seine Träume hatten ihn genarrt — Gold hatte er niemals gefunden. Enttäuscht hatte er es aufgegeben und sich dann meist darangemacht, die Fang-eisen für die Füchse aufzustellen. Der alte Mann dachte an seine Jugend zurück. Was für herrliche Träume hatte er gerade in der Zeit gehabt, als er Nargis heiratete. Im Herbst, wenn der erste Schnee gefallen war, hatte er oft zu seiner Frau gesagt: ,Glaube mir, Frau, jetzt werden wir es bald gut haben!' ,Ach, du Prahlhans', hatte sie erwidert, ,ich möchte den sehen, der durch die Jagd reich geworden ist!' Doch Assatur hatte sich ereifert: ,Wir können es uns ja ausrechnen! Für ein Marderfell wer-den drei Rubel bezahlt. In der Woche werde ich wenigstens zwei Marder schießen, jawohl, das werde ich. In drei Monaten also — und der Monat hat vier Wochen — werde ich vierundzwanzig Marder erlegt haben. Das macht bereits zweiundsiebzig Rubel. Ist dir das nicht genug? Sogar eine Kuh werden wir uns kaufen können.' Den ganzen langen Winter hindurch streifte dann der junge Jäger in den Bergen umher. Oft war er todmüde. Füße und Hände erfroren, doch er hatte niemals Glück. Das meiste, was er erlegen konnte, waren vier oder fünf Marder. Bären- und Fuchsfelle brachten nur wenig ein, und das Fleisch des erlegten Rotwilds wurde nach Jägerbrauch mit den Nachbarn geteilt. So war Jäger Assatur sein ganzes Leben lang ein armer Schlucker geblieben. Erst unter der Sowjetmacht verdiente er genug für seinen und seiner Frau Unterhalt. Aber die Angst vor den Lebenssorgen, die sich im Laufe von mehr als fünfzig Hungerjahren in ihm festgefressen hatte, wollte auch jetzt noch nicht weichen. Diese Gier nach persönlichem Besitz, diese Angst vor Not und Elend, die sich in einem verborgenen Winkel seines Herzens erhalten hatten, veranlaßten jetzt den alten Mann, den Sack mit den Kostbarkeiten wieder von der Schulter zu nehmen und ihn erneut in einer finsteren Stallecke zu vergraben. Wenn ich sterbe, hinterlasse ich diesen Schatz meinen Enkelkindern, dachte er, und versuchte damit sein Gewissen zu entlasten. Großvater Assatur hatte in dem irdenen Gefäß ein ganzes Vermögen gefunden. Einen nicht minder wertvollen Fund aber machte Armjon in einem anderen leeren Tonkrug. Als er sich eines Tages diesen Krug genauer betrachtete, fiel ihm auf, daß an der Innenseite merkwürdige Zeichen ein-geritzt waren. Armjon schleppte den schweren Krug ins Licht und sah sich die Zeichen genau an. Nein, es bestand kein Zweifel, auf der Innenwand des bauchigen Tonkruges waren mit einem spitzen Gegenstand kreuz und quer Buchstaben des altarmenischen Alphabets eingeritzt, von denen viele noch mit Wachs und Honig verklebt waren. Armjon lief und holte sich kochend heißes Wasser und säuberte damit gründlich das Innere des Kruges. Dann nahm er ein Blatt Papier und einen Bleistift und zeichnete die Buchstaben, so genau er konnte, nach. Zu entziffern vermochte er sie nicht, denn es handelte sich um altarmenische Schriftzeichen, die heute nicht mehr verwendet werden. Nur eines konnte Armjon lesen - und wieder war es der Name des Feldherrn Artak. Der Knabe lief zu Aram Michailowitsch. Er schwenkte das Blatt und schrie: »Hier bringe ich Ihnen einen Brief des Feldherrn Artak.« »Was du nicht sagst? Hat er ihn in einen Briefkasten geworfen?« »Nein, aber in einen Tonkrug.« Sehr aufmerksam studierte der Lehrer die von Armjon nach-gezeichnete Inschrift. Auch er konnte nicht alles entziffern. »Es sind altarmenische Schriftzeichen«, bestätigte er, »aber die Buchstaben sind merkwürdig ungleichmäßig -man wird nicht recht klug daraus.« Aram Michailowitsch stand auf und nahm ein Wörterbuch der altarmenischen Kirchensprache aus dem Bücherschrank. Nun verglich er Wort für Wort und Satz für Satz. Zuerst schien es, als seien einige Stellen absolut nicht zu entziffern, und der Lehrer zog ärgerlich die Stirn kraus. Doch allmählich hellten sich seine Züge auf, und ein zufriedenes Lächeln spielte auf seinem Gesicht: »Felsen«, murmelte er. »Die Felsen spalten ich und verschlingen die große Quelle... und dann ... Felder Felder. . .« »Hurra, ich hab's«, schrie er plötzlich vergnügt. »Ich weiß jetzt, was die Inschrift besagt. Hör zu, Armjon.« Und Aram Michailowitsch las in feierlichem Tone vor: »Ich, Artak, Feldherr im Sewan-Gebiet, bin unter einem unglücklichen Stern geboren. Es donnert in den Bergen, die Erde bebt, das Meer überflutet die Ufer, die Felsen spalten sich und verschlingen die große Quelle... Unsere Felder und Weiden wurden zu einer Wüste. Fremdländische Eroberer kamen und vernichteten mein hungerndes Volk. Ströme von Blut ergossen sich über dieses Land. Hier, in den Höhlen des Tschantschakar, haben wir Zuflucht gesucht. Der Feind hat uns umzingelt. Wir vertrauen uns der Gnade des Himmels an.« Nachdenklich blickte Aram Michailowitsch auf das Blatt mit den Schriftzeichen. »Hier im Sewan-Gebiet gab es also einmal eine große Quelle.« Armjon war aufgesprungen. »Ja, es hat Wasser hier gegeben«, fuhr der Lehrer fort, »aber zu unserem Unglück ist es verschwunden.« »Wo mag nur die große Quelle gewesen sein?« fragte Armjon. »Das wissen wir eben nicht«, sagte Aram Michailowitsch. »Komrn, laß uns zu Großvater Assatur gehen und diese Sache mit ihm besprechen.« Unterwegs trafen sie Kamo. Aufgeregt rief Armjon ihm zu: »Kamo, eine große Neuigkeit, du wirst staunen. Komm mit zum Großvater, da wirst da alles hören.« Der Alte erschrak, als er die Besucher erblickte. Er war ganz blaß geworden. »Was ist geschehen?« stotterte er mit zitternden Lippen. »Du sollst uns das Geheimnis der Tonkrüge erklären, Großvater.« »Der Tonkrüge?« Der Alte zitterte so, daß er sich nicht auf den Beinen halten konnte. Schwerfällig sank er auf die Polsterbank. »Ich. . . ich. . . Was habe ich damit zu tun?« stammelte er. »Was ist dir denn, Großväterchen? Armjon hat in einem der Tonkrüge eine alte Inschrift entdeckt, in der es heißt, daß es in alter Zeit in dieser Gegend viel Wasser gegeben hat. Weißt du was davon? Hast du auf deinen Streifzügen vielleicht mal Spuren alter Wasserwege gefunden?« »Ach, das wollt ihr wissen«, sagte der Alte und atmete erleichtert auf. »Nein, ich habe so was noch nie gesehen. Wenn auch nur eine Spur von Wasser da wäre, hätten wir es doch längst herangeholt. Wie oft ist unsere Ernte von der Dürre vernichtet worden. . .« »Weißt du, Großväterchen«, erklärte der Lehrer, »in alten Zeiten war es oft üblich, daß da, wo die Flußläufe ihren Ausgang nahmen, Steinbilder aufgestellt wurden, die den Wassergott darstellten. Solche Steinbilder hast du wohl nie gesehen?« »Nein«, überlegte der Großvater, »auf solche Steinbilder kann ich mich nicht besinnen... Doch halt, unter dem Schwarzen Felsen auf dem Dali-Dagh steht ein Drache, aber sein Schwanz ist abgebrochen.« »Ein Drache? Das könnte so ein Standbild sein«, rief der Lehrer voller Erregung. »Mach dich fertig, Großvater, wir müssen gleich dort hingehen und uns den Drachen ansehen.« Auf geheimnisvollen Wegen Kamo beeilte sich, zu Asmik zu kommen. Bei der Farm traf er Seto, der gerade am Zaun stand und Asmik zuschrie: »Mit einer Kükenmutter aus Eisen müssen eure Küken ja krepieren! Da habt ihr was Rechtes gemacht. Beim Bart des Großvaters Assatur sage ich euch...« Als er aber Kamo kommen sah, brach er mitten im Satz ab und ergriff die Flucht. »Kümmere dich nicht um ihn«, sagte Kamo. »Lauf lieber schnell zu Grikor und sag ihm, daß wir auf den Dali-Dagh wollen.« »Auf den Dali-Dagh?« jubelte Asmik. Sie war sofort bereit und lief zu Grikor. Doch dessen Mutter wollte nichts davon hören. »Wegen jeder Kleinigkeit holt ihr ihn — zu Hause kommt er zu gar nichts mehr«, meinte sie ärgerlich. »Mütterchen, wenn das ein anderer sagen würde als du — du weißt doch, daß ich bei jeder Expedition dabeisein muß«, versicherte Grikor ernsthaft. »Nun, geh schon«, lachte die Mutter. »Aus dir wird ja doch nichts Gescheites.« Zärtlich strich sie ihm über den Kopf. »Wart's nur ab, Mütterchen, dazu gehört Zeit — fünfzig Jahre vielleicht«, rief Grikor im Davonlaufen. »Streitest du dich manchmal mit deiner Mutter?« wollte Asmik wissen. »Streiten? Natürlich — sehr oft sogar, so wie eben. Wenn wir aber genug gestritten haben, müssen wir immer lachen.« »Bei Seto zu Hause ist das anders. Da gibt es jeden Tag Zank und Streit. Man hört bis zu uns, wie seine Mutter mit ihm schimpft.« Asmik und Grikor mußten sich sputen, um Aram Michailowitsch, Kamo, Armjon und Großväterchen Assatur, die voran-gegangen waren, einzuholen. Kamo trug eine Spitzhacke, der Großvater sein unvermeidliches Gewehr, und Armjon hatte seinen Fotoapparat mitgenommen. Der Großvater schritt allen voran. Unterwegs war er aufgelebt und heiterer geworden. Tschambar, der wieder mit seinem Herrn zufrieden war, trottete einmütig neben ihm her und dachte sicher: Der Großvater hat das Gewehr mit, also geht es auf die Jagd. Grikor aber zottelte, wie ein hinter der Herde zurückgebliebenes Lämmchen, hinterdrein. Je höher sie stiegen, desto schöner und weiter wurde der Ausblick auf den blauen Sewan. Nur die Abhänge des Dali-Dagh boten einen traurigen Anblick, denn die Dürre hatte hier jegliche Vegetation vernichtet. Die Büsche, die hier und dort im Geröll wuchsen, waren gelb geworden. Das junge Gras war verdorrt. Ein freudloses Grau überzog die Abhänge, an denen stellenweise zwischen dürrem Gestrüpp roter Sandboden hervorsah. Die Landschaft wirkte hier schon ganz herbstlich. Ringsum war alles kahl und öde. Man sah auch keine Tiere. Entweder waren sie verdurstet oder in andere Gegenden geflüchtet. Die Hitze wurde immer drückender, und der Weg war steinig und staubig. Unsere Freunde gelangten bald zu einem etwas breiteren, abschüssigen Pfad, der von den Schwarzen Felsen, am Abhang des Dali-Dagh entlang, zu den Kolchosfeldern des Dorfes Litschk hinabführte. Plötzlich blieb Aram Michailowitsch stehen. Nachdenklich blickte er sich um. »Was bedeutet das? Sollte es wirklich hier sein?« murmelte er. »Was gibt es denn?« »Wer von euch ist schon einmal jenseits des Gebirges gewesen? Sind die Abhänge des Dali-Dagh drüben ebenso steinig und kahl wie hier?« »Nein, wo denken Sie hin. Wenn Sie wüßten, wie viele wilde Pflaumen, gelbe und rote, ich dort schon gefuttert habe«, rief Grikor. »Und Apfelbäume gibt's da und Birnbäume und ganze Wälder, es ist kaum durchzukommen. Auf den Bergwiesen ist das Gras ganz hoch, und die Wiesen sind grün und saftig. Ich habe schon oft mit Onkel Wano die Kälber dort hingetrieben - die haben sich richtig vollgefressen.« Asmik mußte lachen. Grikor kam ihr spaßig vor, selbst wenn er etwas Ernsthaftes sagte. »Warum lachst du?« fragte Grikor beleidigt. »Stimmt es nicht, was ich sage, Großväterchen?« »Es stimmt. Auf der anderen Seite der Berge sind Wälder. Nur bei uns sind die Abhänge so kahl«, bestätigte der Alte. »Und so ist es mit fast allen Bergen Armeniens«, erklärte der Lehrer, »auf der Südseite sind sie kahl und steinig, auf der Nordseite mit Wäldern und Wiesen bedeckt. Dagegen haben in den nördlichen Gebieten unserer Union, zum Beispiel in Sibirien, alle Berghänge — die südlichen ebenso wie die nördlichen — kräftigen, fruchtbaren Boden. Bei uns hingegen sind die Abhänge nur an der Nordseite mit Erdreich bedeckt... Weshalb, meint ihr, ist das so? Nun, deswegen«, fuhr der Lehrer als Antwort auf seine eigene Frage fort, »weil bei uns, namentlich an den Südhängen, die Stoffe, aus denen sich das Erdreich zusammensetzt, von der Sonnenglut ausgebrannt und ausgelaugt werden. Seht mal da hinauf — da ist nichts zu sehen als Steine und rötlicher Sand, dem die Sonne nichts anhaben kann. « »Wie ist denn der Sand da hingekommen?« wollte Kamo wissen. »Das rötliche Gestein besteht aus Sand und Lehm. Es sind Ablagerungen, die sich einstmals auf dem Meeresgrund gebildet haben. Im Laufe der Jahrtausende zerfällt das Gestein und verwandelt sich wieder in Sand und Lehm, die vom Regen in den See gespült werden. Unter dem Wasserdruck bilden sich dann in langen Jahren wieder Steine daraus... Da die Vegetation an den südlichen Hängen sehr spärlich ist, kann sich das Erdreich nicht darauf halten; es wird restlos vom Regen weg-gespült. Auf den nördlichen Hängen hingegen, die eine reiche und üppige Vegetation haben, verdichtet sich die Erdschicht mit jedem Jahr.« Großvater Assatur verstand nicht viel von diesen Erklärungen. Zwar hatte er das alles von Kindheit an beobachtet, doch er hätte es niemals für möglich gehalten, daß die Berge sozusagen an der einen Seite abgetragen wurden, während sie an der anderen Seite anwuchsen. »Daher kommt es wohl«, meinte er, »daß unsere Berge solche klobigen Rücken haben wie Bucklige?« »Das Bild ist ganz richtig, Großvater. Ihr Rücken erscheint gewölbt, während ihre Brust flach und eingefallen ist.« »Aber«, mischte sich Armjon in das Gespräch, »weshalb sind denn die Abhänge unterhalb dieses Pfades nicht so steinig und ausgedörrt?« »Ist dir das auch aufgefallen?« fragte Aram Michailowitsch und blickte seinen Schüler überrascht an. »Diese Frage beschäftigt mich auch. Seht doch nur, wie scharf dieser Pfad den Berg-rücken in zwei Teile zerschneidet.« Kamo sah sich die Abhänge zu beiden Seiten des Weges neugierig an — der Unterschied war deutlich zu erkennen. Während über ihnen die Hänge steinig und ohne jeden Pflanzenwuchs waren, wurden die darunterliegenden von Gras über-wuchert — freilich war es dürr und von der Sonne versengt. »Das muß doch einen Grund haben«, sagte der Lehrer nachdenklich. »Kamo, nimm die Spitzhacke und mache unterhalb des Pfades ein recht tiefes Loch.« Kamo tat es. Es zeigte sich, daß das Erdreich hier eine vier bis fünf Finger dicke Schicht bildete, ehe der felsige Grund bloßgelegt war. »Hier ist die Erdschicht im Laufe der Zeit stärker geworden«, meinte der Lehrer. »Was mag das bedeuten?« »Kann man daraus vielleicht schließen, daß hier früher mehr Pflanzen und Sträucher gewachsen sind?« überlegte Armjon. »Du magst recht haben«, erwiderte der Lehrer. »Der Humus ist mit lehmhaltiger Erde vermischt, daher kommt es auch, daß der Boden hier eine dunklere Färbung hat als weiter oben... Nimm deine Hacke, Kamo, wir wollen weiter oben den gleichen Versuch machen...« »Seht ihr den Unterschied?« Er verglich die Proben. Weiter oben war das Erdreich rötlich, weiter unten rötlichgrau, mit einem Stich ins Schwarze. — Aram Michailowitsch schüttelte nachdenklich den Kopf. »Unterhalb des Pfades ist die Erde mit einem Gewirr von Wurzeln durchsetzt, das sie zusammenhält, es fragt sich nur, wie dieses Wurzelgewirr entstehen konnte.« »Das war doch nur möglich, wenn es hier einmal Wasser gegeben hat.« »Wasser! ... Großvater, wie weit ist es denn noch zu deinem Drachen?... Und wie kommt es eigentlich, daß der Weg hier so glatt ist?« »Vielleicht hat das Vieh ihn ausgetreten, wenn es zur Weide getrieben wurde.« »Das ist nicht gut möglich, es gibt doch hier gar keine Weideplätze. Nein, das muß einen anderen Grund haben«, sagte Grikor. Sie waren etwa hundert Schritt weitergegangen, als Armjon stehenblieb und dem Lehrer zurief: »Haben Sie bemerkt, daß das Gefälle des Weges überall das gleiche ist? Ich weiß woran Sie denken, Aram Michailowitsch. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß Ihre Annahme richtig ist.« Das geheimnisvolle Gespräch zwischen dem Lehrer und Armjon ließ die anderen aufhorchen. Besonders der Großvater war neugierig. »Erkläre uns doch, was du meinst, Armjon, damit auch wir es verstehen«, drängte er. »Nein, das ist noch zu früh«, erwiderte der Lehrer. »Erst wenn wir dort oben an dem Bergkamm sind, wird sich heraus-stellen, ob Armjon und ich recht haben.« Schweigend gingen sie weiter. Als sie nicht mehr weit von dem Kamm entfernt waren, blieb Aram Michailowitsch stehen; er sagte zu dem Großvater: »Wenn wir da oben bestätigt finden, was Armjon und ich erwarten, kann dein Drache auch nicht mehr weit sein.« »Woher wißt ihr das?« fragte der Alte ganz verdutzt. »Du hast recht. . .« Der Lehrer schmunzelte. »Wir wissen Bescheid... Nicht wahr, Armjon?« Kamo fühlte sich durch diese geheimnisvollen Andeutungen zurückgesetzt. Es kränkte ihn, daß Asmik den klugen Armjon so unverhohlen bewunderte. Doch kaum hatte er dies zu Ende gedacht, fragte er sich: Ist es vielleicht Neid von mir? Und er schämte sich. Endlich hatten sie den Kamm erreicht. Aram Michailowitsch und Armjon blickten sich an und lächelten. Der Felsenpfad war hier so glatt, als sei er poliert. »Seht euch das mal genau an. Nur Wasser kann die Steine so abgeschliffen haben, Wasser, das über diesen vermeintlichen Weg zum Dorfe Litschk hinabgeflossen ist«, sagte der Lehrer, indem er auf die blanken Steine zeigte. »Hier wird ein Wasser-fall gewesen sein.. . Kamo, grabe dort nach, vielleicht findest du Steine, die so aussehen wie Kieselsteine in den Flüssen.« Kamo nahm die Spitzhacke und lief zu der Stelle, an der sich der Wasserfall befunden haben mußte. Tschambar folgte ihm auf den Fersen. Der Hund war tief enttäuscht, weil der alte Jäger sein Gewehr auf der Schulter behielt und weil von einer Jagd nichts zu merken war. Kamo kam bald wieder zurück. Er hatte die ganze Mütze voll kleinerer und größerer Kieselsteine, die Armjon und der Lehrer genau untersuchten. »Seht ihr, diese Steine haben keine scharfen Kanten - sie sind vom fließenden Wasser glattgeschliffen.« »Ja, das stimmt«, meinte der Großvater, »das sind Steine, die im Wasser gelegen haben.« »Unsere Annahme trifft also zu, Armjon. Nicht Herden haben diesen Weg ausgetreten, und niemand hat ihn angelegt, es ist ein uraltes, ausgetrocknetes Flußbett.« »Ein Flußbett?« rief Asmik erstaunt aus. Auch Kamo sah ungläubig drein, und der Großvater rief: »Ein Fluß — woher denn? Man kann den ganzen Dali-Dagh umwühlen und wird keine einzige Quelle finden.« »Das werden wir jetzt feststellen, Großvater. Wo ist nun dein Drache? Führe uns hin zu ihm. « Bei dem Wassergott Obgleich die Hitze immer unerträglicher wurde und die Sonne unbarmherzig auf sie herabbrannte, schritten die Freunde unverdrossen weiter. Die Ungeduld, das Geheimnis des Wasserlaufs zu lösen, trieb sie vorwärts. Keiner klagte über Müdigkeit. Als sie den nächsten Abhang erstiegen hatten, lag das majestätische Bergmassiv des Tschantschakar und der Schwarzen Felsen vor ihnen. Der Himmel war klar und wolkenlos. Das makellose Blau spiegelte sich im Sewan und gab dem See eine durchsichtig-blaue Färbung. Wie in einem Spiegel waren die hohen Bergkuppen des Tschantschakar auf der blanken Wasserfläche zu sehen. Die Wanderer gelangten in die Schlucht unter-halb der Schwarzen Felsen. Der Großvater führte sie zu einem länglichen Steingebilde, das, halb im Geröll vergraben, einem Krokodil mit aufgesperrtem Rachen glich. Das war der Drache, von dem der Alte gesprochen hatte. »Hier ist er«, sagte der Großvater und wies auf den Stein. Aram Michailowitsch rief begeistert: »Wir haben den Ausgangspunkt des Wasserlaufs gefunden! « Etwas ruhiger geworden, fuhr der Lehrer fort: »Vor zweieinhalb Jahrtausenden haben sich die damaligen Bewohner unseres Landes einen Wassergott so vorgestellt. Sie pflegten solche Götter an den Quellen der Flußläufe oder an künstlichen Sammelbecken und Kanälen aufzustellen. Hier müssen wir also nach Wasser graben.« Die ersten Versuche verliefen ergebnislos, und die kleine Gruppe kehrte am Abend ermattet und etwas enttäuscht ins Dorf zurück; doch schon am frühen Morgen des nächsten Tages fanden sie sich wieder an der Stelle ein, an der der Drache stand, und setzten die begonnene Arbeit fort. Sie gruben um die Wette; jeder war bemüht, den anderen zu überflügeln. Grikor kam am schnellsten voran, und er wurde auch bald da-für belohnt: beim Graben stieß er plötzlich auf einen großen flachen Stein. »Hier ist eine Steinplatte«, rief er. »He, ihr Gelehrten, kommt mal her!« Die Kameraden eilten herbei. Mit vereinten Kräften legten sie eine zersprungene Steinplatte frei, auf der sie beim genauen Betrachten eine Inschrift entdeckten. Aram Michailowitsch war beim Anblick dieser Inschrift vor Freude kaum zu halten. Trotz eifrigen Bemühens konnte er jedoch nur zwei Worte entziffern: ,Sardur' und ,Pili'. »Sardur? War das nicht ein urartischer Herrscher?« fragte Kamo erstaunt. »Sehr richtig!« erwiderte der Lehrer. »Sardur hat mehrere Jahrhunderte vor der Gründung des armenischen Reiches das damalige Urartu beherrscht. Er war ein großer Bauherr und überzog das Land mit einem Netz von Kanälen. Urartu war ein kriegerischer Feudalstaat; die Kanäle wurden von gefangenen Kriegern erbaut, die Sardur von seinen Eroberungszügen mitgebracht hatte. Er machte sie zu seinen Sklaven. Unzählige von ihnen sind beim Bau dieser Kanäle ums Leben gekommen. Am Ausgangspunkt der Kanäle finden sich heute noch Steinbilder der Wassergötter. Unsere Gelehrten haben erst vor kurzem an den Abhängen des Achmagan sechs Standbilder dieser Art gefunden, was darauf hindeutet, daß es dort Kanäle zur Bewässerung des wasserarmen Kotaik-Gebietes gegeben haben muß. « »Und was heißt Pili?« »Pili ist die urartische Bezeichnung für Kanal.« »Ihr meint also, daß es hier früher einen Kanal gegeben hat?« fragte Kamo. »Du hast aber eine lange Leitung«, scherzte Grikor lachend. Und auch Asmik prustete los. Kamo wurde vor Ärger ganz rot. Weshalb hatte er auch eine so dumme Frage stellen müssen. »Gewiß«, bestätigte der Lehrer, »es scheint sicher, daß hier ein Kanal gewesen ist.« Der Großvater hatte stumm zugehört. Was für eine unheimliche Macht war doch die Wissenschaft! Da sieht ein gelehrter Mensch so einen unförmigen Steinblock mit merkwürdigen Kratzern bedeckt und erkennt daran, was ein Herrscher, der vor mehr als zweitausend Jahren lebte, getrieben hat. So alt der Jäger Assatur auch geworden war, und soviel er in seinem langen Leben auch gesehen hatte, das war ihm doch zuviel! Die Erfolge der Wissenschaft überwältigten ihn. »Ja«, sagte der Lehrer nachdenklich, »ohne die Hilfe der Akademie der Wissenschaften werden wir nicht auskommen. Wir müssen über unsere Entdeckungen sogleich nach Jerewan berichten. Kommt, wir wollen schnell nach Hause.« Sie nahmen ihre Geräte auf und kehrten auf dem kürzesten Wege ins Dorf zurück. Aram Michailowitsch setzte sich noch am gleichen Tage telefonisch mit den zuständigen Stellen in Jerewan in Verbindung. Ganz aufgeregt rief er in den Apparat: »Wir warten schon seit langem auf einen Geologen der Akademie der Wissenschaften. Er soll uns behilflich sein, noch einige wichtige Fragen zu klären. Wir haben heute das Bett eines Flußlaufs, vielleicht eines Kanals, der anscheinend aus der Herrscherzeit Sardurs stammt, entdeckt,...« Diese Nachricht schlug in der Akademie der Wissenschaften wie eine Bombe ein. Zwei Stunden später schon landete auf dem flachen Felde, am Ufer des Sewan, ein Flugzeug, und das Kolchosauto wurde hingesandt, um Professor Sewjan und einige Archäologen ins Dorf zu bringen. Der Professor umarmte Aram Michailowitsch. »Guten Tag, guten Tag«, rief er. »Sie müssen ja etwas ganz Außergewöhnliches entdeckt haben, daß man mich alten Mann noch einmal hierherschickt.« »Haben wir auch. Wir haben am Ausgangspunkt eines alten Kanal- oder Flußbetts eine Steinplatte mit einer chalybischen Inschrift gefunden. Leider ist die Platte zerschlagen, und einige Schriftzeichen fehlen, so daß ich die Inschrift nicht vollständig zusammenbringe. Vielleicht wird es Ihnen gelingen.« Der Professor lachte vergnügt. »Jeder solcher Funde trägt dazu bei, mich zu verjüngen. Im Augenblick bin ich so energiegeladen wie dieser junge Herkules hier«, sagte der Professor, indem er Kamo freundlich auf die Schulter klopfte. »Nun, wir wollen keine Zeit verlieren. Führen Sie uns zu der Platte. Sie haben das Wort ,Pili' entziffert? Sie haben recht, das bedeutet Kanal. Vielleicht gelingt es uns tatsächlich, einen Kanal, den der urartische Zar Sardur anlegte, heute wieder für unsere Kolchosfelder nutzbar zu machen. Was würden Sie dazu sagen?« wandte sich der Professor mit einem freundlichen Lächeln an den Kolchosvorsitzenden. Bagrat, dem die Dürre schwere Sorgen machte, zog ärgerlich die Stirn kraus, und seine Antwort klang nicht gerade liebenswürdig. »Schaffen Sie uns Wasser her, ob es von einem Zaren oder vom Teufel stammt, ist uns gleich. Sagen Sie uns, wo es Wasser gibt und wie es unseren Feldern zugute kommen kann. Das ist es, was wir brauchen. Ihr Gelehrten müßt es wissen. Wenn die Wissenschaft dem Kolchos in solcher Not nicht helfen kann, wer soll uns dann helfen?« Der Professor schien ein wenig beleidigt, doch er erwiderte nichts. »Nun, wir wollen sehen, was sich machen läßt«, wandte er sich an Aram Michailowitsch. Die Expedition setzte sich in Marsch. Großvater Assatur er-öffnete den Zug. Tschambar hielt sich dicht an seinen Fersen. Professor Sewjan, seine Mitarbeiter, der Kolchosvorsitzende und der Lehrer folgten. Den Abschluß bildeten die jungen Naturforscher. Als der alte Professor den Stein erblickte, lag ein ernster, besorgter Ausdruck auf seinem klugen, gütigen Gesicht. Er kniete nieder und prüfte die Inschrift so andächtig, daß alle unwillkürlich verstummten. Lautlos bewegte der Professor die Lippen. Man sah ihm an, daß er angestrengt an einer schwierigen Aufgabe arbeitete. Endlich hob der alte Mann den Kopf. Er lächelte befriedigt. »Ich habe die Inschrift entziffert«, sagte er, »und werde sie Ihnen vorlesen.« Zuerst las er die Worte in der urartischen Sprache und übersetzte sie dann in das Armenisch der Gegenwart: »Ich, Sardur, Zar des Landes Nairi (das ist die frühere Bezeichnung für Armenien), habe diesen Kanal geschaffen. Fluch demjenigen, der ihn zerstört. ..« Die Umstehenden schwiegen. Nach geraumer Weile flüsterte Asmik: »Das war sicher ein sehr grausamer Mann!« »Ja, die Zaren behandelten das einfache Volk grausam«, sagte der Professor. »Ihr alle habt von der Ararat-Ebene gehört. Blühende Gärten und üppige Felder bedecken sie heute, so weit das Auge reicht. In alten Zeiten aber war dort eine Wüste, in der es kein Wasser gab. Es wuchsen nur Disteln. Wasser bedeutet Leben. Die Sonne des Südens versengt alles erbarmungslos. Ist Wasser vorhanden, dann füllen sich die Früchte in der Sonnenglut mit süßen Säften. Überall und zu allen Zeiten ist das Wasser der Quell des Lebens, der Quell allen Glücks. In früheren Zeiten haben die Reichen dem Volke das Wasser mißgönnt. Vor etwa tausend Jahren hat zum Beispiel eine Fürstin im Sjunikiki-Gebiet einen Kanal angelegt, der das Wasser aus dem Fluß Basar-Tschai nach Daralagös leitete und die Felder bewässerte. Sie hat den Bauern unter Androhung der Todesstrafe verboten, Wasser aus dem Kanal zu entnehmen. Das alleinige Recht zur Benutzung des Kanals wurde einem Kloster zugesprochen. Die ,Heiligen Väter' stellten an dem Kanal einen Stein mit der Inschrift auf, daß jeder Bauer, der Wasser daraus nähme. Tod und Verdammnis zu erwarten habe. Im Jahre 1866 wandten sich die Armenier an die zaristische Regierung mit der Bitte, ihnen die Wiederherstellung des Etschmiadsinski-Kanals zu gestatten. Die Erlaubnis dazu wurde erst im Jahre 1913 erteilt, also ein halbes Jahr-hundert später... In der Nähe des Dorfes Karbi gibt es am Fuße der Berge ergiebige Quellen. Die Bewohner von Karbi und den benachbarten Dörfern haben die zaristischen Behörden vierzig Jahre hindurch, Jahr für Jahr, um die Erlaubnis gebeten, das Quellwasser ihren Gärten zuführen zu dürfen. Die Erlaubnis ist nie erteilt worden. Erst unter der Sowjetmacht wurde die Nutzbarmachung des Wassers für die Bauern in vierundvierzig Tagen verwirklicht. Das Quellwasser wurde durch entsprechende Anlagen gehoben und dann durch die Kanäle in die Ebene zu den Gärten geleitet... Nun möchten Sie wissen, ob es hier einen Kanal gegeben hat? Daran ist nicht zu zweifeln. Von wo aus der Kanal gespeist wurde und wie es zu seinem Versiegen kam, wissen wir nicht. Wenn wir der Inschrift glauben wollen, die Sie in einem Krug gefunden haben, so ist die Quelle nach einem Erdbeben versiegt. Das ist ein Rätsel, das nur die Geologen lösen können. Sie allein sind auch imstande, Ihnen zu Wasser zu verhelfen. Wir werden also Geologen nach hier entsenden, und zwar sofort.« Dann bat der Gelehrte noch, den Drachen und die Steinplatte mit der Inschrift auszugraben und nach Jerewan bringen zu lassen. - Sodann kehrte die Abordnung zu dem Flugzeug zu-rück, das sie nach Jerewan brachte. Nur Großvater Assatur schien mit dem Ergebnis nicht zufrieden zu sein: »Werden unsere Felder jetzt bald Wasser bekommen?« fragte er den Vorsitzenden. »Ich kenne mich in der Wissenschaft nicht aus. Da wird ein alter Tonkrug gefunden, und alle freuen sich. Es wird in der Zeitung darüber geschrieben. Aber werden wir dadurch Wasser erhalten?« Bagrat blickte finster drein. Er wußte zwar, daß Großvater Assatur nich recht hatte, doch auch ihn bedrückte es, daß nochmals Zeit verstreichen mußte. Bereits am nächsten Tage gab Bagrat ein Telegramm nach Jerewan auf und bat um schleunigste Entsendung von Spezialisten. Die Antwort ließ nicht auf sich warten. »Das Ministerium für Wasserbewirtschaftung hat beschlossen, dem Dorfe Litschk Soforthilfe zu bringen«, lautete die Antwort aus der Hauptstadt. Indessen durchstreiften die jungen Naturforscher das Gebiet der Schwarzen Felsen und überlegten ständig, wie man wohl die versiegte Quelle auffinden könne... Fünf Tage, nachdem der Professor Litschk besucht hatte, hielt vor dem Hause, in dem Aram Michailowitsch wohnte, ein Personenauto, dem zwei junge Männer entstiegen. Sie trugen derbe Arbeitsstiefel und Anzüge aus wetterfestem Stoff. Es waren die aus Jerewan entsandten Geologen. Der eine von ihnen, ein hagerer, sehniger Mann, machte einen sehr energischen Eindruck. Er hatte erst wenige Worte mit Aram Michailowitsch gesprochen, als er auch schon mit Feuereifer an die Ausführung der übertragenen Aufgabe ging. »Vor allem möchte ich Sie bitten«, sagte er, »mir solche Dorfbewohner zu nennen, die das Gebirge gut kennen, Jäger, Hirten und so weiter. . . « Aram Michailowitsch führte die Gäste sogleich zu dem Großvater Assatur. Auf dem Wege zu ihm begegnete ihnen Kamo. »Rufe deine Kameraden«, sagte der Lehrer, »und komm mit ihnen zum Großvater.« Kamo eilte davon. Aram Michailowitsch wandte sich an den jungen Geologen: »Aschot Stepanowitsch, ich fürchte, Sie werden meinen Schülern eine Enttäuschung bereiten.« »Inwiefern?« wunderte sich der Geologe. »Ist es denn an-gängig, daß bei geologischen Forschungen die Hilfe von Kindern in Frage kommt?« »Diese Kinder haben sich seit langem mit der Lösung schwieriger Probleme befaßt. Sie sind sehr aufgeweckt und sind sich der Bedeutung ihrer Aufgabe voll und ganz bewußt... Geben Sie der bisherigen Arbeit der Kinder eine Richtung, aber tun Sie es unauffällig. Der Kolchosvorsitzende und ich, wir wenden diese Taktik schon lange mit gutem Erfolg an.« »Ich habe Sie verstanden«, sagte der junge Mann. »Ich will es gern auf die gleiche Weise versuchen.« Indessen waren sie bei dem Hause des Großvaters angelangt. Fast gleichzeitig mit ihnen trafen auch die Kinder bei dem Jäger ein. Der Alte geriet durch den Besuch eines Fremden in große Verwirrung: Sollte man etwas von seinem Schatz erfahren haben? Als er aber den Zweck seines Kommens erfuhr, gewann er schnell Vertrauen zu dem jungen Geologen. »Mein verstorbener Gevatter Mukel — Friede seiner Asche — hat oft gesagt, die Alten hätten sich erzählt, daß es früher hier viel Wasser gegeben hat. . . Aber wann und wo das gewesen ist, das weiß niemand. Nur eine Legende hat sich erhalten, darin heißt es, die Menschen haben Wasser gehabt, aber ein böser Drache ist gekommen und hat ihnen das Wasser weggenommen. . .« »Eine Legende?« Der Geologe horchte auf. »Kennst du sie, Großväterchen? Erzähle sie uns doch ausführlicher.« »Wie soll ich sie nicht kennen«, sagte der Alte und strich sich selbstgefällig über seinen langen weißen Bart. Er setzte sich auf die Polsterbank und stopfte, bevor er mit seiner Erzählung begann, umständlich seine Pfeife. Die andern nahmen im Kreis um ihn Platz und warteten voller Spannung auf seine Erzählung. Die Legende vom Wasser »Es heißt«, begann der Großvater, »daß es in alten, uralten Zeiten ein Land gegeben hat, in dem der Wolf und das Schaf friedlich nebeneinander lebten. Von fernen Bergen strömte ein Fluß zu Tal. Das klare, kalte Wasser erfrischte Felder und Gärten, alles ringsum war mit üppigem Grün bedeckt. Es gab Früchte in Hülle und Fülle. In jenen fernen Zeiten, so erzählt man sich, gab es weder Reiche noch Arme; alle lebten in Wohlstand und genossen die Gaben ihres gesegneten Landes und der fruchtbaren Natur. Sie hatten Wasser im Überfluß. Die Menschen wußten nicht, was Not ist. Es war niemand da, der ihnen die Früchte ihrer ehrlichen Arbeit wegnahm. Und das Wasser, das von den Bergen herabfloß, bedeckte die steilen Abhänge mit frischem Grün für ihre Herden. Doch in einem Sommer bemerkten die Menschen plötzlich, wie das Wasser weniger wurde. Diejenigen, die stärker waren als die anderen, eigneten sich sofort mehr Wasser an. Ihre Ernte wurde besser, und sie wurden reicher und mächtiger als ihre Nachbarn, die nicht genug Wasser hatten. Von da an wurden die Reichen zu den Herren des Wassers und nahmen den Armen dieses kostbare Gut weg, das die Natur allen geschenkt hatte. Je weniger Wasser es gab, desto weniger blieb für die Armen übrig. Die Reichen aber bewässerten ihre Felder im Überfluß, und die Armen hatten das Nachsehen. Die Gärten und Felder der Armen verdorrten, ihre Ernte verdarb und ihr Vieh verdurstete. Da lehnten sich die Menschen auf und forderten ihren gerechten Anteil am Wasser. Die Reichen bewaffneten ihre Diener, ließen sie an den Quellen Wache stehen und befahlen ihnen, das Volk nicht heranzulassen. ,Euer Wasser', sagten sie den Menschen, ,geht auf dem Wege von den Bergen verloren. Wendet euch an den, der es euch raubt.’ Die Armen nahmen Spaten und Spitzhacken und stiegen auf die Berge. Nach langem mühseligem Klettern kamen sie zu den Quellen und sahen, daß es, wie stets, Wasser im Überfluß gab. Es sprudelte und schäumte durch die Schluchten. - Plötzlich verschwand es. Doch bald kam das Wasser wieder zum Vorschein, nicht mehr so ungestüm wie vorher, sondern in einem dünnen, kraftlosen Rinnsal. Da machten sich die Menschen daran, die Felsen aufzuspalten. Sie wollten ergründen, wohin das Wasser verschwand. Tag und Nacht arbeiteten sie schwer, denn es ist keine Kleinigkeit, Felsen von der Stelle zu rücken. Schließlich gelangten sie in eine Höhle. In einem mächtigen Strom floß das Wasser hinein und kam als dünner, kraftloser Strahl wieder heraus. Nun freuten sich die Menschen; sie hatten herausgefunden, wohin das Wasser verschwand. Es konnte doch nicht so schwer sein, festzustellen, warum es verschwand. Mit Pechfackeln durchleuchteten sie die Höhle, und siehe da, in einem Winkel hockte ein furchterregender Drache. In seinen aufgesperrten Rachen ergoß sich die mächtige Flut. Und nur noch die kümmerlichen Reste, die vorbeiflossen, gelangten in das Dorf. Der Drache aber schien vor den Augen der verängstigten Menschen ins Ungeheuerliche zu wachsen. Feuer sprühte aus seinen Nüstern, und er brüllte mit dröhnender Stimme: ,Fort mit euch, erbärmliches Menschenvolk, sonst verschlinge ich euch mit Haut und Haaren!' Die armen Menschen zitterten vor Angst und schlichen davon. Sie hörten, wie es hinter ihnen polterte, als der Drache den Zugang zu seiner Höhle mit gewaltigen Felsblöcken verschloß. Nachdem die Menschen in ihr Dorf zurückgekehrt waren, beschlossen sie, in den Bergen ein steinernes Standbild des Drachens zu errichten, dem sie alljährlich Opfer darbrachten und das sie anflehten, ihnen etwas mehr Wasser zu geben, damit sie nicht verdursteten und ihre Ernte nicht verdorrte.« Der Geologe hatte nachdenklich zugehört und sagte: »So lebten die Menschen in wasserarmen Gegenden von Generation zu Generation weiter, sie wurden von den Sagen verfolgt, daß böse Geister ihnen das kostbare Naß raubten. Nie gaben sie die Hoffnung auf, daß eine Zeit kommen würde, in der sie dem Drachen nicht mehr zu opfern brauchten. Diese Zeit ist gekommen, eine Zeit, in der die Felsen gesprengt wer-den, dem Ungeheuer der Kopf abgeschlagen und in der es Wasser in Hülle und Fülle für alle geben wird.« »Unser Flüßchen ist also sozusagen das, was der Drache uns übrigläßt?« fragte Grikor. »Kommt, wir wollen den Drachen suchen und ihm den Kragen umdrehen«, ereiferte sich Kamo. Er war noch so kindlich, daß ihn dieser Drache aus dem Märchen in Wut versetzte. Der Geologe sagte lächelnd: »Der Sinn dieser Legende ist tiefer. Der Kopf des Drachen wurde in unserem Lande bereits zerschmettert - das hat die Große Sozialistische Oktoberrevolution getan. Der Quell des Daseins, des Glücks unseres Volkes sprudelt mit überschäumen-der Lebenskraft. Aber die Legende sagt uns noch etwas anderes - sie sagt uns, daß es hier Wasser gegeben hat und daß es verschwunden ist. Das verschwundene Wasser müssen wir finden. . .« Zwei Tage darauf ließen die Geologen Kamo und seine Freunde zu sich kommen. Auch der Kolchosvorsitzende und Aram Michailowitsch fanden sich ein. Aschot Stepanowitsch sagte ihnen: »Ihr jungen Forscher habt bereits vieles erreicht, aber das Wasser zu. finden, ist euch immer noch nicht gelungen. Irgend-wo im Innern des Dali-Dagh ist Wasser vorhanden. Die Erinnerung an das Wasser ist uns nicht nur in den Steinen erhalten geblieben, sie lebt auch in den Herzen der Menschen. Die Legende, die uns Großvater Assatur neulich erzählt hat, wurde von Generation zu Generation überliefert. Diese Legende hat einen verborgenen Sinn. Wenn die Menschen Märchen und Legenden erdichten, so überliefern sie, im Grunde genommen, den nachfolgenden Generationen wahre Berichte über das, was gewesen ist... Sie schildern Tatsachen, wenn sie sie auch in eine phantastische Form kleiden... Unsere Aufgabe ist es nun, den Sinn der Legende zu ergründen. Daran wollen wir gemeinsam arbeiten! « Der grüne Flecken Zusammen mit den jungen Forschern erstiegen die Geologen während der nächsten Tage mehrmals die Höhenzüge des Dali-Dagh. Sie suchten alle Felsen ab, untersuchten jeden Spalt, jede Höhle, jede Schlucht... Nicht die geringste Spur von Wasser war zu finden. Sobald sie irgendwo verdorrtes Schilf erblickten, wuchs ihre Hoffnung, auf Wasser zu stoßen - Schilf konnte ja nicht auf trockenem Boden gewachsen sein!... Fielen ihnen an einer Stelle grüne Büsche in die Augen, so stürzten sie auf sie zu, untersuchten alles ringsum und gruben das Erdreich auf - konnten denn solche Büsche ohne Feuchtigkeit wachsen? Eines Tages, als sie, von den langen und erfolglosen Nachforschungen ermüdet, schon im Begriff waren, den Heimweg anzutreten, erblickte Armjon plötzlich an einem der Abhänge des Dali-Dagh einen grünen Flecken. Er war weit entfernt und lag bedeutend höher als die Bergspitzen der Schwarzen Felsen. Wie eine Oase mitten in der Wüste hob er sich vom eintönigen Grau des Gesteins ab. »Kinder, dort muß Wasser sein!« sagte der Geologe Aschot. »Ohne Wasser wäre ein so frisches Grün in dieser Höhe undenkbar.« »Wenn es dort Wasser gäbe, müßte es doch zu sehen sein«, meinte Kamo. »Der grüne Fetzen sieht von hier nicht viel größer als ein Taschentuch aus.« »Ich sage ja nicht, daß die Quelle genau dort sein muß. Aber der grüne Flecken, so klein er auch ist, bedeutet, daß in der Nähe irgendwo Wasser sein muß.« »Wenn es nach euch ginge, bekämen wir überhaupt kein Abendbrot«, murrte Grikor. »Du hättest wenigstens das Gewehr deines Großvaters mitnehmen sollen, Kamo - dann hätten wir uns einen Braten schießen können.« »Grikor, beherrsch dich doch nur ein bißchen. Wenn wir Wasser finden, sollst du eine Gans aus unserer Farm bekommen. Du darfst sie auch ganz allein aufessen.« »Abgemacht! Hand drauf!« Kamo reichte Grikor die Hand. »Dann mach dich bereit, die Gans zu schlachten. Da drüben ist bestimmt irgendwo Wasser. Der Geologe wird das bestätigen. Seht doch, wie frisch das Grün ist.« Und Grikor begann mit verschmitztem Lächeln bergan zu steigen. Die anderen folgten ihm. Der Aufstieg war nicht leicht, aber nach einer Stunde hatten sie doch die Stelle erreicht, die sie vorhin als kleinen grünen Flecken gesehen hatten. Es war wirklich nur ein winziges Stückchen Erde, aber es war mit üppigem, saftigem Grün bewachsen. Grikor kauerte nieder und preßte sein Ohr an die Erde. »Was machst du?« fragte Kamo. »Steh auf, wir wollen versuchen zu graben.« »Pscht!« Grikor legte den Finger an die Lippen. »Hörst du etwas?« »Ich höre die Wurzeln trinken, sie stöhnen dabei vor Behagen und sagen: ,A-ach, wie gut das schmeckt!'« Mit    Spitzhacke und    Spaten wurde    die Erde    aufgerissen. Kaum    zwei Handbreit    tief war das    Erdreich    schon ganz feucht. »Hältst du auch Wort mit der Gans, Kamo?« fragte Grikor übermütig: »Hier ist Wasser. Bekomme ich sie?« »Je nachdem, was es für Wasser ist. Wenn es sich um das Wasser handelt, das früher unsere Felder bewässerte, das dann verschwunden war und das wir jetzt wiedergefunden haben, dann bekommst du eine Gans, und nicht nur eine Gans, sondern noch viele andere Dinge. Wenn es aber nur ein schwacher Quell ist — was kann uns der bei dieser Enfernung nützen?« Nachdem sie eine anderthalb Meter tiefe Grube ausgeworfen hatten, sahen die Jungen, daß aus der Erde Wasser hervorsickerte. Es schien ein ganz kleiner Quell zu sein, nicht stark genug, um an die Oberfläche zu dringen. »Diese kleine Quelle ist sicher ein Zweig einer größeren im Innern des Berges«, erklärte der Geologe Aschot. »Sie muß hier irgendwo tief unter der Erde sein. Die Quelle hat offenbar nichts mit dem versiegten Quell des Zaren Sardur zu tun; sie reicht bestimmt nicht aus, um das Dorf mit Wasser zu versorgen.« Müde und enttäuscht standen die Kinder an der Grube und sahen zu, wie sie sich allmählich mit Wasser füllte... Die Geologen beschlossen, den gegenüberliegenden Gebirgs-kamm noch zu untersuchen. »Ihr aber«, sagte Aschot Stepanowitsch zu den jungen, »könnt von hier aus direkt ins Dorf zurückgehen.« Die Kinder waren so müde, daß sie sich dicht neben der Grube, im Schatten eines Felsvorsprungs, niederließen. Sie waren zu erschöpft, um zu sprechen. Nachdem sie etwa anderthalb Stunden gerastet hatten, stand Kamo auf. »Freunde, kommt, es wird Zeit«, rief er, »wir wollen noch mal aus unserer neuen Quelle trinken, uns waschen und dann nach Hause gehen.« Die anderen waren einverstanden. Sie kehrten zu der Grube zurück, die sich inzwischen gefüllt hatte. Das Wasser war klar und durchsichtig. Es trat jetzt über den Rand und schlängelte sich wie ein schmales Silberband abwärts. Das Bächlein gluckste leise, und die ausgedörrte Erde schien gierig zu trinken. Wären die Jungen imstande gewesen, das geheime Walten der Natur zu erkennen, so hätten sie wahrgenommen, wie sich die erschlafften Triebe vollsogen und langsam aufrichteten, wie das belebende Naß in die Wurzeln drang und in den Stengeln hochstieg. Hinter einem Stein äugte ein Rebhuhn hervor; es reckte den Hals und sah zum Wasser hinüber. »Nun haben wir, ohne es zu wissen, den Rebhühnern Wasser zum Trinken verschafft!« lachte Armjon. »Ja, und den Geiern, den Falken und Krähen«, fügte Grikor hinzu. Kamo schwieg. Als sie abends wieder im Dorf anlangten und dem Großvater Assatur von der neuen Quelle erzählten, freute sich der alte Jäger so, daß er sie alle nacheinander umarmte und abküßte. »Ihr wißt ja gar nicht, was ihr da vollbracht habt!« rief er. »Ihr habt die wilden Ziegen auf dem Dali-Dagh gerettet.« »Wieso?« fragte Kamo erstaunt. »Sie sterben doch nicht an Durst. Du hast doch selber gesagt, daß sie hundert Kilometer und mehr am Tage laufen können?« »Ja, das können sie! Sie laufen bis zum See und von dort auf die andere Seite des Gebirges, bis in den Kaukasus hinüber. Aber was soll der alte Jäger Assatur noch auf dieser Welt, wenn es an den Hängen des Dali-Dagh keine wilden Ziegen mehr gibt?« Armjon, der für alles Schöne besonders empfänglich war, hatte den Alten sofort begriffen. Grikor faßte die Worte des Großvaters auf seine Weise auf. »Natürlich«, sagte er, »der Großvater Assatur könnte ohne seinen Schaschlyk[8 - Schaschlyk = kaukasisches Nationalgericht aus Hammelfleisch.] nicht leben.« »Kommt es denn darauf an, du Dummkopf? Hast du schon mal beobachtet, wenn wilde Ziegen und Gemsen einen Berg-rücken entlangjagen? Das müßt ihr gesehen haben - dann werdet ihr mich verstehen. Nicht umsonst vergleichen die Aschugen in ihren Liedern die Gemsen mit Gazellen. . .«, sagte der Alte. »Ja, mein lieber Kamo, das habt ihr gut gemacht, ihr habt ein großes und nützliches Werk vollbracht! Man muß nur noch ein Stück Steinsalz hinbringen und neben den Brunnen legen.« »Steinsalz? Wozu das?« »Damit das Wild das Salz lecken kann.« Armjon hätte den Großvater am liebsten umarmt — wie für-sorglich war er doch. Bis jetzt hatten sie oft geglaubt, es gehe ihm nur darum, auf der Jagd recht viele Tiere zu erlegen. »Ja«, fuhr der Großvater fort. »Das Wild muß Salz haben. Früher habe ich immer dafür gesorgt, nur in diesem Jahr habe ich ihnen keines gebracht. Die Quellen sind alle versiegt. Sie werden das Salz lecken, dachte ich mir, und werden trinken wollen. Und zum Trinken wird nichts da sein. Dann wird sie der Durst quälen... Aber jetzt können wir ihnen Salz neben die Quelle legen. — Um Salz zu lecken, zieht das Wild bis weit fort an die Grenzen des Iran und der Türkei. Es bleibt nicht dort; früher oder später kehrt es in die Heimat zurück. Es gibt kein lebendes Geschöpf, das kein Heimweh hätte«, schloß der Alte seinen Bericht. »Gut, Großväterchen, ich hab' dich verstanden, wird gemacht, verlaß dich drauf«, versprach Kamo. »Ich weiß nur noch nicht, wo ich das Steinsalz hernehmen soll, aber ich werde bestimmt welches auftreiben. « »Wir haben zu Hause Steinsalz, ich werde dir ein Stück mitbringen«, erbot sich Grikor. »Dann ist's gut; ihr seid brave Kerle«, meinte der Großvater. Nach diesem Gespräch mit dem alten Mann begriffen die Kinder, daß die Jagd nicht nur darin besteht, Wild zu erlegen, sondern auch darin, daß man für die Tiere sorgt. Als Kamo am frühen Morgen des nächsten Tages mit einem dicken Klumpen Steinsalz bei der Quelle ankam, sah er, daß es ringsum von wilden Tauben wimmelte. Sie nahmen den Schnabel voll Wasser und schluckten. Kamo dachte an das Kindergedichtchen: Kein Tröpfchen trinkt das Huhn, ohne einen Blick zum Himmel zu tun. Die Tauben sind uns sicher dankbar, dachte Kamo und lächelte zufrieden. Das Leben an der ,Oase’ Einige Tage, nachdem Kamo das Salz zur Quelle gebracht hatte, sagte der Großvater zu den Jungen: »Kommt, wir wollen zum Brunnen gehen; ich werde euch etwas zeigen.« »Was, Großväterchen? Sag es uns doch jetzt schon!« »Kommt nur, kommt, ihr werdet schon sehen.« »Nehmen wir Asmik mit?« fragte Kamo. »Wenn sie mitkommen will! Sie ist heute schlecht gestimmt, der Kater hat einen Vogel geholt«, berichtete Armjon. »Der Kater?« empörte sich der Greis. »Weshalb habt ihr mir das nicht gesagt? Ich hätte ihm das Fell über die Ohren gezogen!« Unmutig schüttelte der Großvater den Kopf und umklammerte mit grimmigem Gesicht den Griff seines Dolches. »Asmik muß mitkommen, dann vergißt sie ihren Kummer«, meinte Kamo. Armjon ging zur Geflügelfarm. Unterwegs blieb er an dem von den Pionieren angelegten Teich stehen. Er war ausgetrocknet. Der rötliche Lehmboden hatte von der Hitze tiefe Risse bekommen. Oft waren die Spalten so breit, daß Armjon dachte, die jungen Vögel könnten darin zu Schaden kommen. Wann wird der sich wohl wieder mit Wasser füllen? Wann werden unsere Vögel wieder schwimmen können? fragte sich der Junge bekümmert. Er fand Asmik in der ,Kinderstube'. Sie war damit beschäftigt, die jungen Vögel hintereinander durch ein seltsames rundes Gerät zu treiben. Sie kamen naß wieder zum Vorschein und wurden dann von Asmik in den Geflügelhof getrieben. »Was machst du denn da?« fragte Armjon. »Badest du sie?« »Nein«, rief Asmik lachend. »Sie werden mit einer Flüssigkeit gegen Ungeziefer behandelt. Weil sie jetzt nicht schwimmen können und das Gefieder immer trocken bleibt, wimmeln sie von Flöhen.« Asmik sah ihre Lieblinge traurig an. »Du sollst mit uns ins Gebirge zu einer Quelle kommen, die wir gefunden haben.« »Eine Quelle?« Asmik war außer sich. »Wird das Wasser bis hierher zu uns kommen?« »Nein, dazu reicht es nicht, höchstens für das Wild in der Umgebung, meinen die Geologen.« Zusammen mit Großvater Assatur erreichten die Freunde gegen Mittag den Gebirgskamm. Sie verbargen sich hinter den wenigen niedrigen Distelsträuchern, die aus den Felsspalten herauswuchsen. Von diesem Versteck aus beobachteten sie, was am Brunnen geschah. Als Asmik sah, wie eine Rebhuhnmutter ihre Jungen zum Wasser führte, wollte sie vor Freude laut losjubeln und in die Hände klatschen; aber Kamo konnte es rechtzeitig verhindern. Es war köstlich. Die Rebhuhnmutter hüpfte von einem Stein zum anderen auf die Quelle zu; hinter ihr her kugelten wie winzige graue Federbällchen ihre Küchlein. Nachdem sie ihren Durst gestillt hatten, verschwanden sie zwischen den Steinen und dem spärlichen Gras ebenso schnell, wie sie gekommen waren. »Wie kann man es nur übers Herz bringen, solche süßen kleinen Dinger zu töten«, flüsterte Armjon. »Das macht ein richtiger Jäger auch nicht«, erklärte der Großvater mit Würde. »Seit sechzig Jahren jagt Assatur im Gebirge, er hat aber noch keine Mutter oder ihre Kinderchen getötet.« »Vergißt denn ein Jäger, wenn er das Wild sieht, nicht alles andere vor Jagdeifer, Großväterchen?« fragte Kamo. »Hast du wirklich nie aus Versehen eine Mutter oder ihr Junges getötet?« »Wenn ich die Wahrheit sagen soll - einmal ist das geschehen. Als ich noch sehr jung war, habe ich eine Mutter getötet, aber es hat mir dann sehr leid getan.. . Eine Gemse lief mir mit ihrem Jungtier über den Weg. Ich dachte, halt, die Gemse werde ich erlegen und das Böckchen mit nach Hause nehmen, um es großzuziehen. Das Tierchen mochte einen Tag alt gewesen sein. Ich hatte mich so wie wir hier versteckt gehalten, schoß und traf die arme Mutter. Sie stürzte mit einem Klagelaut. Das Böcklein sah die Mutter liegen. Es sprang zu ihr und saugte, trank unbekümmert bei der toten Mutter... Als ich das sah, krampfte sich mein Herz zusammen. Ich kehrte eilig heim, um nur dieses Böcklein und die sterbende Mutter nicht länger sehen zu müssen.« Die Augen des Alten waren, während er sprach, feucht geworden, und seine Stimme zitterte leicht. »Von dem Tage an habe ich nie wieder auf eine Mutter oder ihre Jungen geschossen«, schloß er seine Erzählung. »Aber jetzt wollen wir erst mal nachsehen, ob die Gemsen das Salz an der Quelle gefunden haben.« Vorsichtig näherten sie sich dem Brunnenloch. Der Großvater sah sich das Salz an, und die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. Er strahlte. »Sie haben es gefunden!« meinte er vergnügt. »Seht nur, wie sie am Salz geleckt haben — richtig poliert haben sie es.« Im Umkreis der Quelle zeichneten sich zahllose Hufspuren ab, und das große Stück Steinsalz war wirklich von allen Seiten so beleckt worden, daß es keine einzige scharfe Kante mehr aufwies. »Wie viele Gemsen mögen hier geleckt haben?« fragte Asmik. »Vielleicht ist die Schafherde vom Kolchos hier vorübergekommen. So viele Gemsen gibt es hier doch gar nicht«, zweifelte Kamo. Der Großvater lachte. »Hier, auf dem Dali-Dagh, habe ich schon einmal ein Rudel von zweihundert Stück gezählt. Die Gemsen und die wilden Ziegen kommen gewöhnlich bei Sonnenaufgang oder am Abend zur Tränke. Nur wenn keine Gefahr droht, getrauen sie sich auch am Tage heran. Wenn sie Wasser plätschern hören und Salz wittern, läßt es ihnen keine Ruhe.« »Riecht denn das Salz?« wunderte sich Grikor. »Das Wild spürt den Geruch. Tiere, die Gras fressen, werden krank und verlieren den Verstand, wenn sie kein Salz haben. Auch ist das Fleisch solcher Tiere, die kein Salz bekommen haben, ohne Geschmack. — Es klingt unwahrscheinlich, aber Gemsen und wilde Ziegen wittern von weither, wo Salz liegt.« »Die Wölfe aber werden eher Fleisch wittern als das Salz«, warf Grikor ein, als wüßte er über all die Dinge ganz genau Bescheid. »Bravo, Junge, du hast recht, jedes Tier wittert das, was es braucht«, bestätigte der Großvater, indem sie zu den Distelsträuchern zurückkehrten. Sie verbargen sich hinter dem niedrigen Gebüsch und warteten. »Es paßt gut!« sagte der Großvater. »Der Wind kommt von der Quelle her, das Wild wird uns nicht wittern. Und auch unsere Stimmen werden die Tiere nicht hören — der Wind trägt sie fort. Dennoch müssen wir sehr leise sprechen. Ja; Kinder, ihr seid Prachtkerle, habt einen feinen Brunnen angelegt! Möge auch euer Leben so lang sein wie ein Strom«, schloß der Alte, der gern in solchen Vergleichen sprach. Tief befriedigt blickte er auf den Wasserspiegel des im Sonnenschein glänzenden Brunnens. Ja, wirklich, hier inmitten der von der Dürre abgestorbenen Pflanzenwelt wirkte die lustig plätschernde Quelle wie das Leben selbst. Die schönsten Bewohner des Dali-Dagh Sie mußten lange warten. Unerträglich heiß brannte die Sonne auf die jungen Naturfreunde herab. Doch der Wunsch, die wilden Ziegen und die Gemsen zu sehen, ließ sie geduldig ausharren. Ringsum war alles still. Über ihren Köpfen brummten die Hummeln, und nur von Zeit zu Zeit erscholl, vom Wind herübergetragen, die Stimme des ruhelosen ,Wassermanns '. Endlich war ein leises Rascheln zu hören. Der Großvater legte den Finger auf die Lippen und horchte. Dann wies er mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung zum Kamm des gegenüberliegenden Berges und lächelte geheimnisvoll. Asmik riß vor Verwunderung die Augen weit auf und hätte wohl abermals einen Schrei des Entzückens ausgestoßen, wenn Kamo ihr nicht den Mund zugehalten hätte. Drüben, auf dem Kamm des Berges, hoben sich vom blauen Himmel die Umrisse eines Tieres ab. Es war ein großer Bock. Er stand, den Kopf majestätisch erhoben, auf einem Felsvorsprung; still und fest wie in Stein gehauen. Geraume Zeit blieb er stehen und sicherte. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß keine Gefahr drohte, stieg er langsam von seinem Postament herunter und war plötzlich ihren Blicken entschwunden. »Habt ihr ihn gesehen?« fragte der Großvater mit vor Aufregung belegter Stimme. »Das war ein Kundschafter. Jetzt ist er zum Rudel zurückgekehrt und wird berichten, daß nichts zu fürchten ist.« »Weshalb hast du ihn nicht erlegt?« wollte Grikor wissen. »Wie kannst du dir solch einen Braten entgehen lassen?« Der Großvater blickte Grikor zornig an. »Wie ruchlos müßte die Hand sein, die auf ein solches Tier schießt!« sagte er empört in seiner pathetischen Art. »Weshalb denn? Ist dieser Bock etwas Besonderes?« »Etwas Besonderes?... Läge hier an der Quelle ein Wolf oder ein Panther im Hinterhalt — wer würde als erstes Opfer fallen? Natürlich er! Und dennoch geht er, um auszukundschaften, ob für das Rudel keine Gefahr besteht, ob der Weg frei ist! ... Wie ruchlos müßte der sein, der auf ein solches Tier anlegt!« wiederholte der Alte ganz entrüstet. Wieder war das Rascheln im dürren Gras und das Klappern abbröckelnden Gesteins zu hören. Der alte Jäger verstummte und legte wieder warnend den Finger auf die Lippen. Auf dem Gebirgskamm, hinter dem der ,Kundschafter' verschwunden war, tauchte jetzt nach und nach das ganze Rudel auf. Die Tiere sprangen von einem Stein zum anderen und näherten sich in großen Sprüngen der Quelle. Es waren so viele, daß die Kinder meinten, der Zug nehme kein Ende. Immer neue tauchten über dem Gebirgskamm auf. Bald umringte das Wild die Quelle, und ein heißer Kampf entbrannte um den besten Platz am Wasser und um das Salz. Krachend stießen die Hörner der Böcke gegeneinander. In ihrer Gier nach Salz und in ihrem grausamen Durst versuchte ein jeder, den anderen beiseite zu drängen. Die Tiere hatten ein graues Fell mit einem etwas dunkleren Streifen, der vom Kopfe über den Rücken lief. Bei einigen Böcken führte außerdem ein dunkler Streifen quer über den Rücken und zog sich zur Brust hin. Beim Anblick der Tiere dachte Armjon: Eine Kreuzung dieser wilden Böcke mit unseren Haustieren müßte herrliche Exemplare ergeben. Gierig stillten die Tiere ihren Durst und leckten das Salz. Dazwischen hoben sie sichernd die Köpfe und blickten sich argwöhnisch nach allen Seiten um. Die in der Wildnis lebenden Tiere halten sich niemals lange am Wasser auf. Aus Instinkt und Erfahrung wissen sie, daß die Gefahr für sie nirgends größer ist als an einer Quelle. Hier liegen ihre Feinde, weil sie damit rechnen, daß die vom Durst gequälten Tiere früher oder später doch zur Tränke kommen werden. Sobald ihr Durst gelöscht war, kehrten sie unverzüglich auf dem Wege, auf dem sie gekommen waren, zurück. In großen Sätzen erklommen sie den gegenüberliegenden Bergrücken und verschwanden hinter dem Kamm. Noch lange Zeit, nachdem sich das Rudel entfernt hatte, war der Kopf des sichernden Kundschafters auf der Höhe des Bergrückens zu sehen. Er mußte auf seinem Platz ausharren, bis das ganze Rudel in Sicherheit war. Erst dann sprang der Bock vom Felsen herab und folgte den anderen nach. Die Kinder atmeten erleichtert auf. »Siehst du — und du wolltest, ich sollte schießen!« tadelte der Großvater Grikor nochmals. »Du brauchtest ja nicht gerade diesen Bock zu erlegen, konntest du nicht einen anderen aufs Korn nehmen? Es waren doch genug«, meinte Kamo. »Wenn Tiere an der Tränke sind, darf man sie nicht töten. Ein Sprichwort sagt, daß sogar die Schlange den nicht beißen wird, der gerade trinkt. So ist es, Kinder! Der Jäger vergießt zwar Blut, aber auch er hat ein Herz und ein Gewissen.« »Sag mal, Großväterchen, weshalb waren das lauter Böcke und kein einziges weibliches Tier und auch keine Jungen?« fragte Armjon dazwischen. Diese Frage hatte ihn schon die ganze Zeit beschäftigt. »Ja, ich habe mich auch gewundert, lauter Böcke!« mischte sich nun auch Asmik ein. »Warum ist das so, Großväterchen? « Der Alte lächelte und strich sich den langen weißen Bart. »Woher soll ich es wissen?« erwiderte er, indem er Grikor verschmitzt zuzwinkerte. Die Kinder standen vor einem Rätsel. Sie versanken für eine Weile in Nachdenken. Als erster brach Armjon das Schweigen: »Bilden die Böcke denn immer besondere Herden?« »Nein, nur vom Juni bis Anfang Dezember, nicht länger.« »Und dann?« »Dann sind die Böcke mit den weiblichen Tieren zusammen in einer Herde — ein Rudel nennt man das. Sie bleiben zusammen, bis die Jungen geboren werden. Aber sobald die Jungtiere etwas herangewachsen sind, nehmen die Mütter sie, und fliehen von den Vätern möglichst weit fort. Getrennt von den Böcken, leben die Ziegen dann mit ihren Jungen in den Bergen.« »Sie fliehen von den Vätern fort?« fragte Kamo erstaunt. »Nun ja, sie fliehen in großer Angst vor den Vätern, wie vor einem Wolf oder einem Jäger... « Die Kinder hörten erstaunt, was der Großvater ihnen berichtete, und die Verwunderung stand deutlich auf ihren Gesichtern. Wie war dieses Rätsel zu lösen? Weshalb fand diese Trennung der Tiere statt? »Pscht!« flüsterte plötzlich der Großvater und hob den Finger. Über dem Gebirgskamm, hinter dem die Böcke verschwunden waren, tauchte abermals ein Kopf auf. Die Hörner dieses Tieres kamen den Kindern besonders mächtig vor — fast doppelt so groß wie die des ersten Kundschafters. Diesmal jedoch war es ein weißer Bock, er war außergewöhnlich groß. Wuchtig stand er da, wie ein junger Stier. Er spähte herüber und verschwand wieder. Vom Jagdeifer gepackt, wurde der Großvater ganz unruhig. Seine Augen bekamen einen fieberhaften Glanz. »Habt ihr ihn gesehen? — Habt ihr ihn gesehen?« wiederholte er immer wieder. »Er ist ungefähr zwölf Jahre alt, und seine Hörner sind nahezu zwei Arschin[9 - Arschin = 0,71 m.] lang ...«, flüsterte er auf-geregt. »Ein altes Tier! So alte Böcke kommen selten vor. Wenn sie acht Jahre alt sind, geht es gewöhnlich sehr schnell mit ihnen. Sie werden klapprig und unsicher und sind dann meist ein Opfer der Wölfe.« »Woran erkennst du, daß er zwölf Jahre alt ist?« fragte Kamo. »An den Ringen um die Hörner. Jedes Jahr kommt ein neuer Ring hinzu. « »Und weshalb ist er so weiß?« »Er ist alt geworden — wie ich«, sagte der Greis und zeigte auf seinen weißen Bart. »Seid still, Kinder! Es kommt ein anderes Rudel zur Tränke.« Grikor, der sich einen Braten wünschte, bettelte: »Großvater, jetzt wirst du aber doch eins schießen?« Doch der Alte herrschte ihn an: »Nein! Ich sagte dir doch, daß ich so etwas nicht tue!« Lautes Getrappel drang zu den Kindern. Der weiße Leitbock kam zur Quelle, und ein großes Rudel folgte ihm. Ohne stehenzubleiben, ohne zu sichern näherten sich die Tiere der Wasserstelle. Ihr Fell war rötlichbraun; kaum daß es sich von den Felsen abhob. Das Rudel hatte seinen Durst gestillt und war gerade wieder hinter dem Gebirgskamm verschwunden; da raschelte es erneut im Gestrüpp, und nun tauchte eine Reihe schlanker, dünnbeiniger Tiere mit auffallend kleinen Köpfen und geschmeidigen Hälsen auf. Sie hatten spitze, kurze Hörner. In eleganten Sprüngen galoppierten sie zur Quelle. „Gazellen”, flüsterte Asmik aufgeregt. Ihr Herz klopfte so laut und so stürmisch, daß es ihre Freunde hören konnten. »Pst, das sind wilde Ziegen«, erklärte der Großvater kaum hörbar. Doch so leise sie auch gesprochen hatten, das Tier an der Spitze war wie versteinert stehengeblieben, hob den Kopf und stieß ein paar Warnlaute aus. Die Zicklein, die zum Wasser drängten, horchten auf und eilten zu ihren Müttern. Die übrigen Tiere waren ebenfalls stehengeblieben. Die Farbe ihres Fells verschmolz mit der ihrer Umgebung. Sie waren kaum noch von dem felsigen Hintergrund zu unterscheiden. Nachdem die Tiere sich überzeugt hatten, daß ihnen keine Gefahr drohte, wandten sie sich wieder der Quelle zu. Doch dann tauchte plötzlich über dem Bergkamm die Silhouette des weißen Leittieres auf. Die Ziege an der Quelle stieß wieder ihre Warnlaute aus, und in wilder Flucht raste das Rudel, von den Zicklein gefolgt, davon und war im Nu in der Schlucht verschwunden. »Habt ihr das gesehen?« sagte der Großvater. »Und wie sie davonstoben«, rief Armjon, dem das Dahinjagen des Rudels am besten gefallen hatte. Der Großvater fuhr fort: »Die Zicklein werden im Mai geboren, und im Juni, wenn sie etwas herangewachsen sind, trennen sich die Böcke von den Ziegen so plötzlich, als habe sie jemand mit einem Knüppel auseinandergetrieben... Die Böcke ziehen auf die oberen Hänge des Dali-Dagh, die Ziegen mit ihren Zicklein nach unten, zwischen die Felsen.« »Weshalb zwischen die Felsen?« fragte Kamo erstaunt. »Warum ziehen die Böcke zu den besseren Weideplätzen und die Ziegen zu den schlechteren? Und obendrein noch mit ihren Jungen! « »Die oberen Felsplateaus sind zu ungeschützt. Nirgends können sich die Tiere verbergen. Den Böcken macht das nicht viel aus. Sie können dem Wolf leichter entfliehen, ja, wenn es sein muß, können sie ihm auch entgegentreten und ihn bekämpfen. Aber wohin sollten die Zicklein fliehen? Darum verbergen sich die Ziegen mit ihren Jungen vor den Wölfen, den Füchsen und Adlern in den Felsenhöhlen.« »Zwischen den Felsen ist es aber heiß, und viel Grünes finden sie da auch nicht zum Fressen«, meinte Asmik. »Es bleibt ihnen aber nichts anderes übrig. Die Ziegen sind Mütter und, wie alle Mütter auf der Welt, bringen sie für ihre Kleinen Opfer und nehmen Entbehrungen auf sich«, schloß der Alte und erhob sich. »Ach, wollen wir doch noch hierbleiben und auf die Ziegen warten, die werden sicher zurückkommen«, bettelte Asmik. »Wiederkommen werden sie, Kindchen, aber nicht so bald, sie sind jetzt ängstlich geworden. Und ihr habt so lange in der heißen Sonne gesessen - ihr werdet Kopfschmerzen bekommen. - Ja, ein richtiges Paradies habt ihr dem Wild hergezaubert«, fügte der Alte hinzu, indem er ganz verzückt zur Quelle hin-überblickte. »Wenn es nur mehr solcher Quellen gäbe! Habt ihr gesehen, wie sie sich gegenseitig wegdrängten?« »Ich hab's«, rief Kamo, »wir werden gleich einen großen Brunnen graben.« »Womit denn? Ihr habt doch keine Spaten.« »Wir machen uns welche, wir nehmen deinen Dolch und schnitzen Schaufeln, damit können wir die Erde auswerfen. « Gesagt - getan. Aus den stärksten Ästen wurden Schaufeln angefertigt, und Kamo reichte sie den Kameraden: »Grabe du hier«, sagte er zu Grikor, indem er etwa einen Schritt unterhalb der Quelle einen Kreis zog. Etwas tiefer noch begann Armjon zu graben, und einen weiteren Schritt tiefer Kamo. Nachdem sie auf diese Weise drei neue Gruben ausgeworfen hatten, verbanden sie sie durch schmale Kanäle mit der Quelle. Nun sickerte das überflüssige Wasser nicht mehr ungenützt in den Boden, sondern füllte die neu ausgeworfenen Gruben. Der Großvater hatte sich in der Nähe auf einem Stein niedergelassen und beobachtete den Eifer der Kinder. »Zerbrecht das Steinsalz in kleinere Stücke«, riet er, »und verteilt es an den Wasserlöchern.« »Es bröckelt«, rief Kamo, »was machen wir mit den kleinen Stücken?« »Die wirfst du einfach ins Wasser«, rief der Großvater. »Dann sind die Ziegen gleich fertig gesalzen und können gebraten werden«, scherzte Grikor. Anstatt einer Antwort zeigte der Alte auf den Rand eines tiefer liegenden Felsvorsprungs; dort war eine Ziege mit spitzen kleinen Hörnern aufgetaucht. »Die Ärmste wartet darauf, daß wir endlich weggehen sollen. Der Durst quält sie... Kommt!« sagte der Großvater und schlug den Weg zum Dorf ein. »Ach, was haben wir heute alles erlebt«, rief Asmik, als sie daheim angelangt waren. »Eine richtige Expedition war es!« »Ja, wir haben heute wirklich viel gelernt«, bekräftigte Armjon und sah den Großvater dankbar an. Der Alte blieb mitten auf dem Wege stehen. Von seinem kahlen Schädel floß der Schweiß in Strömen über das runzlige Gesicht. Er wischte ihn mit seiner Pelzmütze ab. Armjon sagte, zu Kamo gewandt: »Wenn wir den Großvater nicht hätten! Was der alles weiß! Er braucht es nur herauszuholen wie aus einer Schatzgrube.« Großvater Assatur aber hatte nur das Wort Schatzgrube aufgefangen. Er erbleichte. »Was für eine Schatzgrube?« stotterte er. »Wir sprechen von dir, Großväterchen«, erwiderte Kamo. » Von mir? Was habe ich denn mit einer Schatzgrube zu tun?« stotterte der Alte. »Unerschöpflich ist sie, Großväterchen«, rief Kamo zärtlich. Der Alte wurde immer aufgeregter: Wissen es die Kinder?... Bin ich verloren? ... ging es ihm durch den Sinn. Und er würde sich zweifellos verraten haben, hätte Kamo nicht hinzugefügt: »Ist nicht das, was du alles über die Natur weißt, wie eine Schatzgrube?« »Ach so... diesen Schatz meinst du!« Der Großvater atmete erleichtert auf. »Ja, das ist natürlich ein großer Schatz...« Dann dachte er eine kleine Weile nach und fügte hinzu: »Mir aber kam, als ihr von einem ,Schatz' spracht, in den Sinn: Was würdet ihr wohl tun, wenn ihr einen ganzen Krug voller Gold fändet?« »Ich würde ein elektrisches Hebewerk bauen und das Wasser aus dem Sewan auf den Berg heben und von dort durch Kanäle auf unsere Kolchosfelder leiten... Wie würden dann unsere Saaten aufleben!« schwärmte Armjon. »Ich würde tausend Kälber und tausend Bienenstöcke kaufen und würde die Kolchosherde vergrößern und eine große Imkerei einrichten«, erklärte Grikor. Zur Verwunderung der Kinder zeigte der Großvater keinerlei Freude über ihre Antworten. Dennoch kamen sie in guter Stimmung zu Hause an. Nur eines bedrückte sie und dämpfte ihre Freude: sie hatten noch immer kein Wasser gefunden, und die Dürre hielt an... Der ,Faulpelz’ Seto Während er seine Ränke gegen die Geflügelfarm schmiedete, wurde Seto von geheimen Gewissensbissen gequält. Asmik, die bis jetzt alle Streiche Setos geduldig ertragen hatte, beschloß eines Tages, sich beim Kolchosvorsitzenden über ihn zu beklagen. »Onkel Bagrat, bringe du Seto zur Vernunft! Immerzu treibt er sich auf dem Geflügelhof herum; er verspottet und beschimpft mich...« Bagrat ließ Seto zu sich rufen. »Weißt du was?« sagte er und zog seine buschigen Augenbrauen böse zusammen. »Ich bin kein Lehrer und kenne mich in den Erziehungsmethoden nicht aus. Ich kenne nur eines — Disziplin! « Der Kolchosvorsitzende schlug dröhnend mit der Faust auf den Tisch. »Ich werde dir das Fell gerben, Freundchen. .. Was denkst du dir eigentlich? Das ist ja die reine Anarchie. Schreibe an den Staatsanwalt«, sagte Bagrat zu seinem Bürogehilfen, »daß Seto Martirosjan dem Kolchos Schaden zufügt. Ich werde diesem Burschen das Fell versohlen, daß ihm Hören und Sehen vergehen wird...« Als Asmik am Abend davon erfuhr, lief sie zum Vorsitzenden und bat ihn, die Sache nicht an den Staatsanwalt weiterzuleiten. »Wir haben uns was ausgedacht«, sagte sie. »Wir wollen es erst mal damit versuchen. Wenn das allerdings nichts nützt, dann... « »Gut, warten wir noch ab«, willigte Bagrat ein und strich Asmik über das Haar. Bereits am nächsten Tage beschloß der unverbesserliche Seto, Asmik einen neuen Streich zu spielen. Nun erst recht! dachte er bei sich. Sein jüngerer Bruder folgte ihm nur ungern; denn er war im Grunde genommen nicht so schlecht wie Seto. »Mir ist alles gleich«, stachelte Seto den kleineren auf, »wenn. ich doch ins Gefängnis soll, dann wollen wir uns wenigstens vorher noch mal gründlich austoben.« Aber Arto wollte nicht: »Nein, nein, wenn wir Großvater Assatur in den Weg laufen, geht es uns schlecht.« »Du bist ein richtiger Angsthase«, spottete Seto. In diesem Augenblick tauchten Kamo und Asmik am Ende der Straße auf. Seto wollte sich wegschleichen, wurde aber von Kamo angerufen: »Warte, Seto, wir wollen mit dir reden!« Seto blieb unschlüssig stehen. Er war sich so vieler Untaten bewußt, daß er eine Abrechnung mit Kamo und seinen Freun-n fürchtete und ihnen immer gern aus dem Wege ging. »Was willst du von mir?« fragte er daher mißtrauisch. »Hab keine Angst und komm her, ich will dir nur was sagen.« »Du kannst es mir auch von weitem sagen«, widersetzte sich Seto und blickte sich um, wohin er entschlüpfen könnte. »Du brauchst keine Angst zu haben«, wiederholte Kamo. Er wandte sich zu Asmik und flüsterte: »Komm, wir wollen ihm gut zureden.« Seto rührte sich nicht vom Fleck. Er kam nicht näher, lief aber auch nicht davon. Kamo trat auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte freundlich: »Paß auf, Seto, der Streit muß aufhören.« Seto, der auf die üblichen Vorwürfe gerechnet hatte, blickte finster und verstockt zu Boden. Er war von Kamos freundlichem Ton überrascht, konnte sein Mißtrauen aber noch nicht überwinden. »Weshalb willst du dich mit Mutwillen ins Verderben stürzen?« fuhr Kamo fort. »Das nützt doch jetzt alles nichts mehr«, erwiderte Seto mürrisch. »Onkel Bagrat hat an den Staatsanwalt geschrieben, und ich muß euretwegen vors Gericht.« Nun mischte sich Asmik ein: »Wenn Onkel Bagrat auch geschimpft hat, er hat doch ein gutes Herz. Und wenn du deine Streiche bereust, wird er dir sicher verzeihen.« »Ich kann doch nur Schlechtes tun«, erklärte Seto verstockt. »Ihr sagt ja selbst, daß ich heimtückisch und schlecht bin.« Kamo fragte: »Warum machst du denn solche dummen Streiche?« »Euch zum Trotz«, anwortete Seto verbissen. »Warum hast du nur solch einen Groll auf uns? Die Geschichte mit dem Buch damals hast du dir doch selber eingebrockt. « Kamo spielte auf einen Vorfall an, der zu dem Bruch zwischen den Kameraden geführt hatte. Er lag schon einige Zeit zurück, als die Kinder noch in der siebenten Schulklasse waren. Seto hatte damals neben Armjon gesessen, und beide galten als ausgezeichnete Schüler. Es war auch allgemein bekannt, daß beide fleißig von der Schulbibliothek Gebrauch machten. Seto hatte ihr eines Tages Fersmans ,Verständliche Mineralogie' entnommen, ein neues, dickes Werk in einem roten Einband. Nach einiger Zeit forderte Georg Akopowitsch, der die Bibliothek verwaltete, Seto auf, das Buch zurückzubringen, was er jedoch nicht tat. Erst nach wiederholter dringender Aufforderung brachte es Seto endlich mit. Als Seto in die Bibliothek kam, war Georg Akopowitsch gerade damit beschäftigt, den Schülern der ersten Klasse Bücher umzutauschen. Die Kinder drängten sich um den Tisch und machten einen gewaltigen Lärm. Georg Akopowitsch sagte zu Seto, er möge das Buch dalassen und ein andermal ein neues holen. Seto legte das Buch auf den Tisch, nahm es dann aber unbemerkt wieder an sich und verbarg es unter seiner Bluse. Am nächsten Tage wurde das Buch in der ganzen Schule gesucht. Alle Schüler wurden befragt, ausgenommen Seto, der an diesem Tage nicht zur Schule gekommen war. Hierauf schrieb Georg Akopowitsch einen Zettel an Seto und bat Asmik, ihn dem Jungen zu geben. Setos Mutter empfing das Mädchen unfreundlich. »Was willst du von Seto? Seto ist noch in der Schule. Ein Buch verlangt der Lehrer? Nimm sie alle mit! — Nur Ärger habe ich mit dem Bengel, er hilft mir nicht mehr im Hause, immer liest er, und er ist doch schon ein großer Junge.« Als Asmik zwischen den anderen Büchern die ,Verständliche Mineralogie' erblickte, nahm sie das Buch an sich und sagte: »Tante Sona, dies ist das Buch, das ich holen soll.« Auf diese Weise also war Seto in der Schule zu seinem schlechten Ruf gekommen. Seto blieb eine ganze Woche der Schule fern, so daß sich Georg Akopowitsch schließlich einschalten mußte. Er klärte Seto darüber auf, daß seine Handlungsweise zwar sehr verwerflich sei, daß er aber trotzdem in die Schule kommen müsse. Seto bekam einen Verweis — einmal als Schüler und zum anderen als Pionier, und zwar sowohl wegen des Buches als auch wegen seines Fernbleibens von der Schule. Von Stunde an war Seto wie verwandelt. Er hörte nicht mehr auf das, was der Lehrer sagte, sondern hatte während des Unterrichts andere Dinge im Kopf und rutschte dadurch langsam auf die letzte Bank. Erst zum Schluß des Unterrichts wurde er meist lebhaft und verschwand aus der Schule, sobald die Glocke ertönte. Nachdenklich stand Seto jetzt vor seinen Schulkameraden, die er so lange als seine ,Gegner' betrachtet hatte. Ihr freundliches Wesen hatte ihn nun doch entwaffnet. »Mach doch mit uns mit, Seto«, sagte Kamo in warmherzigem Ton. »Wir haben so viele Dinge vor, über die alle Welt noch einmal staunen wird! Wir wollen ja gut Freund mit dir sein, auch Asmik, der du so manchen Schabernack gespielt und die du so oft zum Weinen gebracht hast.« Asmik lächelte gutmütig und zeigte dabei ihre kleinen weißen Zähne. »Es ist wirklich schade um dich, Seto, du bist doch so ein guter Junge. . .«, rief Kamo. »Ja«, fiel Asmik ein, »und Seto ist mutig. Er klettert auf die steilsten Felsen und hat überhaupt keine Angst.« Offenbar hatte Asmik bei Seto eine empfindliche Stelle berührt; sie schmeichelte ihm. »Was habt ihr denn auf den Felsen zu suchen?« fragt er, diesmal schon in ganz friedfertigem Ton. »Du weißt doch, daß wir das Bett eines alten Kanals gefunden haben, und jetzt wollen wir rauskriegen, wo der her-stammt und wohin das Wasser verschwunden ist«, erklärte Armjon, der inzwischen hinzugekommen war. »Dabei müssen wir doch auf die Schwarzen Felsen steigen, so wie wir erst vor kurzem auf den Tschantschakar geklettert sind und dort die wilden Bienen entdeckt haben. Und dann müssen wir das Geheimnis des Gilli-Sees klären, auch das Geheimnis der ,Höllenpforte' müssen wir rausbekommen. Wir wollen wissen, wer im Innern des Berges so unheimlich stöhnt.« »Und du fehlst uns dabei, Seto«, fügte Kamo hinzu. »Laß uns doch endlich mit der Feindschaft Schluß machen.« Er streckte Seto die Hand hin. Das Fünkchen, das in Setos Herzen glomm, wurde plötzlich zur hellen Flamme. Es ging eine Wandlung mit ihm vor. Er fühlte, daß er ein anderer geworden war. Er drückte die Hand, die Kamo ihm entgegenhielt, und reichte dem Kameraden Pfeil und Bogen. »Nimm das«, sagte er, »der Krieg zwischen uns ist aus.« Arto, der sich abseits gehalten und den ganzen Vorgang beobachtet hatte, verzog das Gesicht zu einem breiten, gutmütigen Grinsen. Kräftig schüttelten sich die Jungen die Hände, und alle waren zufrieden, daß das Kriegsbeil endlich begraben war. »Wenn wir zusammenhalten, können wir noch mehr fertig-bringen«, sagte Kamo erleichtert. In diesem Augenblick kam Grikor aus der Vogelfarm herbeigelaufen. Er hatte die Brutöfen beaufsichtigt. »Die letzten Schalen sind geplatzt«, schrie er. »Küken in allen Farben marschieren auf — ganze Regimenter, kleine und große, gelbe und bunte, alles durcheinander... Das haben sie fein gemacht, unsere eisernen Glucken — sie überschwemmen alles mit Küken!« Und Grikor hüpfte vergnügt auf seinem gesunden Bein zur Farm zurück. Asmik, Armjon und Kamo liefen, von Seto und Arto gefolgt, zum Stall. Es war das erste Mal, daß Seto ohne schlechte Absichten die Geflügelfarm betrat. Aus dem Feind war ein Freund geworden. Diese zweite Brut in der Versuchsfarm versetzte die Kinder durch das gute Ergebnis in wahre Begeisterung. »Das sind unsere Küken«, riefen sie aus. »das ist unsere Farm.. .« Als Seto am nächsten Morgen erwachte, war er so fröhlich und unbeschwert wie lange nicht. Sonst war er beim Aufwachen oft so bedrückt und mißmutig gewesen. Nun war alles ganz anders. Was bedeutet das, was ist mit mir geschehen? Weshalb bin ich so froh gestimmt? dachte Seto. Da fiel ihm plötzlich der gestrige Tag ein. Ungestüm sprang er aus dem Bett. »Ich habe es verschlafen, Mütterchen, mach schnell!« trieb er die Mutter an. »Was hast du, willst du gar zum Mähen gehen?« wunderte sich die Mutter. »Warum nicht? Kann ich es nicht ebensogut wie Grikor mit seinem lahmen Bein? Schnell, Mütterchen, gib mir ein Stück Brot!« Er steckte das Brot in die Tasche, ergriff die Sense und eilte davon. Die mit Sensen und Sicheln ausgerüsteten Kolchosarbeiter verließen in Gruppen und Grüppchen fröhlich plaudernd und lachend das Dorf und stiegen ins Tal hinab zu den Luzerne- und Kleefeldern, die am Ufer des Gilli-Sees lagen. Ein leichter Morgenwind wiegte die Halme und Gräser, und ihr Rauschen erfüllte die Herzen der Schnitter mit dankbarer Freude. Diese Felder waren leichter zu bewässern als die oben an den Hängen gelegenen. Der Kolchosvorsitzende Bagrat holte mit seinem Schimmel die fröhliche Schar ein. Als Seto den Vorsitzenden sah, senkte er den Kopf und hätte sich am liebsten versteckt. Er traute sich nicht, ihm in die Augen zu sehen. Doch Bagrat zügelte sein Pferd und beugte sich zu dem Jungen herab. »Willst du mähen helfen, Seto?« fragte er freundlich. Ohne den Kopf zu heben, antwortete Seto: »Ja, Genosse Vorsitzender!« Bagrat nickte ihm lächelnd zu: »Was gewesen ist, soll vergessen sein. . . Asmik hat mir alles erzählt«, sagte er. Als er aber merkte, wie verlegen der Junge war, ritt er mit einem kurzen Gruß weiter. Er rief den Gruppenführer zu sich und sagte zu ihm: »Owsep, es sieht so aus, als wollte Seto seine Missetaten wiedergutmachen. Behandle ihn freundlich. Und sage es auch den Leuten in deiner Gruppe. Hast du mich verstanden? Tut so, als sei nichts gewesen. Damit helfen wir ihm am besten.« »Wenn wir seinen Ehrgeiz wecken, wird er gut arbeiten«, erwiderte Owsep mit gutmütigem Lächeln. »Ein kräftiger Bursche ist er ja!« Als drei Tage später in der Kolchosverwaltung die Auszeichnungen für die fleißigsten Mäher besprochen wurden, konnte Bagrat auch Seto für eine Prämie vorschlagen. Die Mitglieder der Verwaltung waren überrascht. »Er hat ja im ganzen nur wenige Tage mitgearbeitet, wofür soll er denn eine Prämie bekommen?« fragte einer von ihnen. Doch auch der Gruppenführer Owsep, der an der Sitzung teilnahm, setzte sich für Seto ein. »Man kann nur staunen, wie sich dieser Junge zu seinem Vorteil verändert hat«, sagte er. »Keiner aus meiner Gruppe hat so viel geschafft wie er; er kam morgens als erster aufs Feld und ging als letzter nach Hause. Während der Arbeit hat er keinen Unfug gemacht und war nur darauf aus, recht viel zu schaffen und dabei alles gut zu machen.« »Wenn er sich so bewährt hat, soll er auch ein Paar Schuhe bekommen«, entschied Bagrat. Am nächsten Tage wurden die Prämien an Owseps Gruppe verteilt. Seto traute seinen Ohren nicht, als er seinen Namen hörte. »Das muß ein Irrtum sein, Genosse Gruppenführer«, stammelte er verlegen. »Ich habe keine Prämie verdient.« »Es ist kein Irrtum, mein Junge! Die Verwaltung hat darüber beraten, und es ist beschlossen worden. Nimm deine Prämie und arbeite weiter so gut, wie du es in den ersten Tagen getan hast.« Seto getraute sich immer noch nicht, vorzutreten. »Geh, nimm die Schuhe«, flüsterte ihm seine Mutter zu. »Geh doch. Die andern, die eine Prämie bekommen haben, haben auch nicht besser gearbeitet als du.« Nun gab sich Seto einen Ruck und trat einen Schritt vor. Der Gruppenführer reichte ihm die Schuhe, und Seto wollte sich bedanken, aber seine Stimme versagte, ihn würgten die Tränen im Halse. Am Abend kamen Kamo und seine Freunde zu Seto, um ihm zu gratulieren. Seto war so aufgeregt, daß er kein Wort herausbringen konnte. Das Herz schlug ihm bis in den Hals. Die Freundlichkeit und das Wohlwollen, das ihm von allen Seiten entgegengebracht wurde, beschämte ihn. Die Belohnung Der Bezirkssekretär des Kommunistischen Jugendverbandes fragte eines Tages seinen Kollegen, den Kolchosvorsitzenden Bagrat: »Weshalb bekommen eigentlich eure jungen Naturforscher keine Prämien? Es gibt Prämien für die Melkerinnen und die Mäher; aber die Kinder, die eine Geflügelfarm gegründet und wertvolle Altertümer entdeckt haben, sollen leer ausgehen?« »Ehrlich gesagt«, erwiderte Bagrat, »ich weiß nicht einmal, ob man für so etwas Prämien verteilen kann. Wir geben denjenigen Prämien, die die festgesetzten Arbeitsnormen über-erfüllt haben. Aber gibt es denn irgendwelche Normen für die Errichtung einer Geflügelfarm oder für die Entdeckung altertümlicher Werte? Nein, solche Normen gibt es nicht. Und wie Sie wissen, ich bin ein Feind jeder Anarchie, bei mir gibt es nur eines - Disziplin.« Der Bezirkssekretär lächelte. Er kannte die Schwäche dieses sonst so tüchtigen Mannes. »Gewiß, Genosse Bagrat, in den Bestimmungen ist darüber nichts gesagt, aber das, was unsere Jungpioniere leisten, sind sehr wertvolle Beiträge für die Wissenschaft.« »Zugegeben, daß diese Leistungen wertvoll sind, aber ich weiß trotzdem nicht, ob. . .« »Da ihre Neuerungen die Normen des auf diesem Gebiete Üblichen übersteigen, verdienen sie auch eine Belohnung.« »Gut, ich werde mit der Parteiorganisation sprechen, viel-leicht findet sich ein Ausweg«, sagte Bagrat. In der nächsten Sitzung der Kolchosverwaltung war diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt worden. Man kam über-ein, die Jungpioniere Kamo, Armjon, Grikor und Asmik durch wertvolle Geschenke auszuzeichnen. »Wie wär's mit einem Radioapparat?« schlug Aram Mi-chailowitsch vor. »Es sind intelligente, wißbegierige Kinder. Sie werden die Übertragungen aus Moskau und aus anderen großen Städten hören, und das wird für sie von großem Nutzen sein. Alles, was sie hören, werden sie außerdem auch den an-deren Schülern und den Kolchosarbeitern mitteilen, und sie sind hell genug, um den anderen manches zu erklären. Auf solche Weise werden die Radioapparate dem ganzen Kolchos Nutzen bringen.« »Sie sind aber teuer«, wandte Bagrat ein. »Ja, teuer sind sie, aber die jungen Leute haben eine wertvolle Belohnung verdient.« »Und wie ist es mit dem Großvater Assatur?« »Ihm, dem alten Jäger, geht ein gutes Schießeisen über alles andere in der Welt«, warf der Gruppenführer Owsep scherzend ein. »Wir wollen ihm ein modernes Gewehr schenken. Sein jetziges stammt, wie er selber sagt, noch aus dem Kaukasischen Krieg.« Die Vorschläge wurden angenommen, und es wurde beschlossen, die Geschenke in Jerewan zu besorgen. Als Seto von den Beschlüssen der Kolchosverwaltung erfuhr, empfand er zum ersten Male keinerlei Neid darüber. Er wunderte sich selbst. Es kränkte ihn nicht im geringsten, daß seine bisberigen Widersacher auf so großartige Weise ausgezeichnet und belohnt werden sollten, und er dachte nur daran, wie er sich geärgert hätte, wenn das alles zehn Tage früher geschehen wäre. Während er noch über diese Dinge nachdachte, wurde er in die Kolchosverwaltung gerufen. »Seto, mach dich reisefertig«, sagte Bagrat zu ihm, »du sollst morgen nach Jerewan fahren.« »Wozu?« fragte Seto erstaunt. »Du wirst beauftragt, die Geschenke für deine Kameraden einzukaufen«, erklärte Bagrat und sah den Knaben dabei durchdringend an. Über Setos Gesicht glitt ein fröhliches, breites Lächeln. Seine schwarzen Augen funkelten. »Sie schenken mir solches Vertrauen?« fragte er. »Das tun wir«, erwiderte der Vorsitzende lächelnd. Seto war so aufgeregt, daß er ganz blaß wurde. Seine Lippen bten, und er konnte kein Wort hervorbringen. Der Molkereiverwalter Artjom, ein hochgewachsener Mensch mit ernstem Gesicht, sah Bagrat mißbilligend an. Das gab Seto, der den Blick aufgefangen hatte, einen Stich. Wahrscheinlich, dachte er, ist Artjom unzufrieden damit. Er hat sicher kein Vertrauen zu mir. Nun gut, ich werd' ihnen eben beweisen, daß ich ihr Vertrauen verdiene. Daher bezwang er sich und sagte: »Es ist gut, Onkel Bagrat, ich bin bereit. Nur möchte ich noch um die Erlaubnis bitten, die Sachen statt in Jerewan in Tbilissi kaufen zu dürfen.« »In Tbilissi?« wunderte sich Bagrat. »Warum in Tbilissi? Gibt es denn in Jerewan keine Radioapparate?« »Natürlich gibt es welche, Onkel Bagrat. Aber bis Tbilissi ist es nicht weiter als bis Jerewan, und in Tbilissi habe ich einen Onkel. Er wird mir bei meinen Einkäufen behilflich sein.« »Also schön, dein Onkel kann dir helfen. Gut, fahre nach Tbilissi. Morgen kannst du das Geld und die Ausweise abholen und losfahren«, sagte der Vorsitzende und gab Seto einen Zettel mit der Anweisung. Kaum hatte Seto die Tür hinter sich geschlossen, als er aus dem Zimmer die Stimme Artjoms hörte: »Willst du den Wolf zum Hirten machen?« Einen Augenblick blieb Seto wie angewurzelt stehen. Das Blut schoß ihm in den Kopf. Doch er bezwang sich. Er dachte an die Gänse, die er gestohlen hatte, dachte an seine übrigen Missetaten — und schluckte die Kränkung herunter. Er würde beweisen, daß man ihm getrost Geld anvertrauen konnte, und sogar große Summen... Natürlich hatten ihn Artjoms Worte verletzt. Sie fielen ihm immer wieder ein. Wenn er jedoch umgekehrt wäre, hätte er hören können, was der Vorsitzende von ihm sagte: »Wie kannst du Seto mit einem Wolf vergleichen? Wie kann jemand ein Wolf sein, der im Kolchos geboren und aufgewachsen, der bei uns zur Schule gegangen ist? Überleg dir mal, wer sein Vater war? Der Fischer Chetscho — der ertrunken ist, als er Fische für den Kolchos fangen wollte. .. Ich gebe zu, die Mutter hat keinen guten Charakter, sie hat an dem Jungen manches verdorben. Aber was haben wir beide zu seiner Erziehung beigetragen? Meinst du, wir haben keine Schuld, daß aus ihm beinahe ein Taugenichts und Faulenzer geworden wäre? ... Ich habe auch mit dem Lehrer gesprochen. Er findet es richtig, daß wir ihm diesen Vertrauensbeweis geben.« Zu Hause fiel Seto seiner Mutter um den Hals: »Mütterchen, die Kolchosverwaltung schickt mich nach Tbilissi und gibt mir viel Geld mit ... « »Nach Tbilissi? Warum denn das? Was sollst du da?« »Ich soll für Kamo, Armjon, Asmik, Grikor und den Großvater Assatur Geschenke einkaufen.« Zuerst ärgerte sich Sona: »Der Teufel soll sie alle holen«, fluchte sie, »ich muß mich von früh bis spät abrackern, und das Pack bekommt Geschenke.« Aber sie beruhigte sich bald und hielt es schließlich für ganz nützlich, daß ihr Sohn nach Tbilissi fahren sollte. »Na schön, fahre, du wirst den Onkel besuchen — er wird dich nicht mit leeren Händen zurückkommen lassen«, meinte sie. Sonas Bruder Arat, der vor der Revolution in großer Armut gelebt hatte, war nach Tbilissi gezogen und hatte dort als Arbeiter in der Holzindustrie Beschäftigung gefunden. Jetzt, unter der Sowjet-Regierung, ging es ihm gut. »Vielleicht wird er für seine Schwester ein Paar Schuhe und ein Kleid kaufen, wenn er schon sonst nichts für uns tut... Seine Frau ist zwar eine böse Sieben! Sie hat eine spitze Zunge, wie eine Natter... Und sie ist auch schuld, daß der Onkel sich nicht um uns kümmert. Die Krätze wünsche ich ihr an den Hals . . . « Seto wußte darauf nichts zu erwidern, aber seine Freude war nicht mehr so groß wie zuvor. Das hatte Sona mit ihren gehässigen Bemerkungen zuwege gebracht. Setos Geheimnis Eines Tages entdeckte Armjon durch einen Zufall das Geheimnis, weshalb Seto ein ,Faulpelz' war und was ihn so oft vom Schulunterricht abgelenkt hatte. Armjon war zu Seto gegangen, um ihn nach einem Buch zu fragen. In Setos Zimmer lagen die Fensterbretter, die Tische, die Schemel, die Regale, die Schränke, jedes Fleckchen voller Steine. Steine lagen haufenweise auf dem Fußboden, waren an den Wänden aufgestapelt, häuften sich in den Ecken: Steine in jeder Größe, in allen Farben und Formen... Armjon war in dem Augenblick zu Seto gekommen, als Sona gerade die übliche Flut der Verwünschungen über den verlorenen Sohn' ergoß. Es wurde ihm recht unbehaglich, als er sie schimpfen hörte. »Der Kuckuck soll dich holen mitsamt deinen Steinen. — Was willst du mit dem Zeug?« Sie wandte sich an den eben eingetretenen Armjon und fuhr fort: »Andere Leute gehen aufs Feld, arbeiten, verdienen, der Bengel aber denkt immer nur an seine Steine... Nicht genug Schuhzeug und Kleider kann ich heranschaffen... Immer klettert er in den Bergen rum. Und was bringt er mit? Nichts als Steine. Hol sie der Henker alle-samt! Keinen Schritt kann man mehr machen, so voll liegt das ganze Haus. . . « Auf dem Höhepunkt ihres Zornes angelangt, fing Sona damit an, die Steine einfach zum Fenster hinauszuwerfen. Seto hielt ihren Arm fest und sagte, indem er sie auf die Polsterbank drückte, ruhig, aber bestimmt: »Warum schimpfst du? Jetzt arbeite ich doch. Warum ärgerst du dich?« »Arbeiten tut er jetzt, das ist wahr«, gab die Mutter etwas milder gestimmt zu, »aber mit seinen Gedanken ist er doch immer bei den Steinen. . . Eine wahre Strafe ist das mit ihm... Seinem Bruder hat er auch schon den Kopf verdreht ... denkt aber nicht an die tausend Nöte, die wir haben!« So klagte Mutter Sona noch lange und laut über ihr ,bitteres Los' und über den ,Taugenichts von Sohn'. Schließlich wischte sie sich mit dem Schürzenzipfel die Tränen ab und ging hinaus. Die im Zimmer haufenweise umherliegenden Steine und das Gezeter der Mutter Setos hätten auf Armjon unter anderen Umständen wohl einen trostlosen Eindruck gemacht. Jetzt freute er sich und dachte: Und wir haben Seto für einen unverbesserlichen Faulpelz gehalten! Dabei hat er sich mit solchen ernsten Dingen abgegeben. Armjon wurde auf einmal alles klar. Bis dahin hatte niemand Seto verstanden; niemand hatte etwas von seinen Neigungen gewußt und hatte ihm daher auch nicht helfen können, seine Begabung in die richtigen Bahnen zu leiten. Setos frühere Streiche gewannen in Armjons Augen ein anderes Aussehen. Auch seine Unaufmerksamkeit beim Unterricht war ihm jetzt verständlich, und das Schuleschwänzen konnte er sich nun auch erklären. Seto streifte in den Bergen umher, um Steine zu suchen, darüber hatte er die Schule vergessen... Armjon nahm einen schweren, unförmigen Stein in die Hand. Er war mit kleinen Pünktchen besetzt, die wie Glühwürmchen leuchteten. »Ist das etwa Gold?« fragte Armjon. »Nein, das ist Kupfererz... Den hab' ich an den Schwarzen Felsen gefunden.« »Und der da, der so glänzt?« »Das ist schwarzer Schiefer. Aus dem wird man später Flaschen für das Narsanwasser[10 - Narsanwasser = kaukasisches Mineralwasser.] machen. Ich habe den Stein nämlich ganz in der Nähe der Narsanquellen gefunden.« »Und dieser rostige, bröcklige Stein? — Ist das nicht versteinerte Erde?« »Nein, das ist keine Erde«, sagte Seto, »das ist Eisen.« »Es sieht aber doch gar nicht aus wie Eisen.« »Das braucht es auch nicht. Aschot Stepanowitsch sagt, daß die rohen Erze gar keine Ähnlichkeit mit den Dingen haben, die daraus gemacht werden... Guck-mal hier den Klumpen Lehm an. Siehst du den glänzenden Streifen darauf? Als ob eine Raupe darübergekrochen wäre und ihre Spur hinterlassen hätte. Aus diesem Lehm wird Aluminium gemacht ... Und sieh mal, wie dunkel und stumpf dieser Stein aussieht. In Wirklichkeit ist es schneeweißer Marmor. So dunkel geworden ist er vom Regen und vom Frost, von der Sonne und von der Hitze...« Seto war ganz in seinem Element. Seine schwarzen Augen blitzten. Er ereiferte sich immer mehr und zeigte Armjon voller Stolz seine kostbaren Funde. »Du sagst, das hier sieht gar nicht wie Eisen aus? Du hast recht, man könnte es für einfache rostige Erde halten. Daran ist auch die Luft schuld. In einem Buch heißt es darüber: ,Wenn der in der Luft enthaltene Sauerstoff sich mit Eisen verbindet, entsteht Rost. Aber sobald man dieses Erz ins Feuer legt, sondert sich der Sauerstoff ab und wir erhalten reines Eisen...' Komm, ich will dir mal zeigen, was ich bei uns im Stall eingerichtet habe. . . « Seto brachte Armjon in einen alten Schuppen. In einer Ecke stand etwas, das aussah wie ein Schmelztiegel mit Blasebälgen. Daneben lagen auf dem Fußboden mehrere Stücke Steinkohle. Armjon war sprachlos vor Erstaunen. Seto fragte gar nicht erst, ob ihm das Spaß mache und ob er Zeit dafür habe, seine Erklärungen anzuhören und seine Steine zu betrachten. Er war selber so begeistert, daß er gleich mit dem Blasebalg Feuer schürte. Dann nahm er ein Stück Erz in eine Zange und wendete es in einem Tiegel über dem Feuer von einer Seite auf die andere. Schließlich zog er mit der Zange einen glühenden, funkensprühenden Klumpen aus dem Tiegel und hielt ihn Armjon triumphierend hin: »Hier hast du das Eisen, wie du es kennst. Weißt du aber auch, wieviel Eisen in unseren Bergen steckt? Und nicht nur Eisen. Was es sonst noch alles bei uns gibt! Warte mal...« Seto suchte in der Ecke des Stalls einen Stein heraus und zeigte ihn Armjon: »Weißt du, was das für ein Stein ist? Du würdest ihn wahrscheinlich wegwerfen. Aus solchen Steinen kann man Kupfer ausschmelzen. « »Woher weißt du denn das alles?« staunte Armjon. »Woher? Aus Büchern. Und auch der Lehrer hat uns in der Naturkunde viel davon erzählt. Ich höre ihm gerne zu! — Wir haben nicht nur Erze. Es gibt in unseren Bergen noch vieles andere, wovon wir nichts wissen.« Seto, der sich in diesen Dingen seiner Überlegenheit bewußt war, fuhr begeistert fort: »Hinter dem Tschantschakar gibt es eine kleine Schlucht — kennst du sie? Hast du gesehen, daß da an einer Stelle ein Loch in den Felsen geschlagen ist und daß davor Schlacke verstreut liegt?« »Ja, ich kenne die Stelle.« »Großvater Assatur sagt, daß unsere Vorfahren dort Erz geschmolzen haben. Sie haben es verstanden, so feste Legierungen zustande zu bringen, daß die Schwerter ihrer Feinde wie Holzsäbel an den Schilden, die aus solchen Erzen gemacht wurden, zerbrachen...« Seto schwieg. Nach einer Pause sagte er ein wenig verlegen: »Weißt du, für die Erze habe ich gar nicht mehr viel übrig. Ich habe hinter dem Tschantschakar Dinge gefunden, daß mir der Atem stockte: Basalt, Marmor — und was für Marmor! Schneeweißen mit rosa Äderchen, schwarzen mit gelber Maserung, als ob Blumen darüber ausgestreut wären, grünen Marmor... ganze Paläste kann man aus solchen Steinen bauen!« »Was bist du doch für ein gescheiter Kerl, Seto! Was du alles weißt!« Seto lächelte verlegen: »Was du glaubst! Es gibt noch so vieles, was ich nicht weiß... Die Steine da drüben zum Beispiel. Ich habe bis jetzt nicht raus-kriegen können, was damit los ist... Ich werde Aschot Stepanowitsch danach fragen... Warte, ich will dir aber noch was zeigen... « Seto kramte im Stallverschlag und fand ein kleines, einem Tabakbeutel ähnliches Säckchen, das er Armjon hinhielt: »Was meinst du wohl, was da drin ist?« Armjon öffnete das Säckchen. Es enthielt eine Art Sand von blaßgelber, ausgeblichener Farbe. »Es sieht aus wie Machorka, ist aber schwer wie Metall... Was kann das sein?« Setos Augen leuchteten. »Stell dir vor«, sagte er begeistert, »es ist Gold! Richtiges, reines Gold! Im Frühling hat es unser Flüßchen, zusammen mit dem Sand, aus den Bergen angeschwemmt. Aber in diesem Zustand glänzt es nicht. Wahrscheinlich ist daran auch die Luft schuld. Oder es ist noch etwas beigemischt — genau weiß ich es nicht.« »Diesen Sand mußt du an den Staat abliefern«, sagte Armjon. »Man muß das melden.« »Selbstverständlich liefere ich ihn ab. Ich habe es Aschot Stepanowitsch und seinem Kollegen schon gesagt. Ich glaube, in unseren Bergen sind noch viele Schätze verborgen. Die will ich suchen helfen.« Armjon schwieg. Setos Erzählungen hatten tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Seto selber aber stand nun, nachdem er Armjon sein Geheimnis verraten hatte, vor ihm wie ein Schüler, der von dem Lehrer Schelte erwartet. Endlich brach Armjon das Schweigen: »Weißt du, Seto, das freut mich alles so sehr: jetzt weiß ich, daß du gar nicht der bist, für den wir dich immer gehalten haben. Aber deswegen war es doch nicht recht, daß du die Schule geschwänzt und die vielen anderen Dummheiten gemacht hast... Der Weg, den du gehen mußt, steht doch fest — du wirst Geologe werden. Um aber ein richtiger Geologe zu werden, brauchst du Bildung. Du mußt viel lernen, viel, sehr viel sogar... Wir werden mit Aram Michailowitsch sprechen und auch mit den Geologen. Du wirst später nach Jerewan gehen und dort das Bergbauinstitut besuchen. Aschot Stepanowitsch wird dir sicher dabei helfen... Was bist du doch für ein feiner Kerl!« schloß Armjon und umarmte den Kameraden mit solcher Herzlichkeit, daß Seto ganz verlegen wurde. »Ja, du hast recht. Ich will lernen, viel lernen.« Nachts am Ufer des Gilli-Sees Kamo und Armjon lagen am Ufer des Gilli-Sees und lasen. Der eine war in das Buch ,Der wahre Mensch von Boris Polewoi vertieft, der andere in die Erzählungen von den Heldentaten der ,Tscheljuskin'. »Wir taugen auch zu rein gar nichts mehr«, rief Kamo plötzlich aus und sprang auf. »Wozu sind wir zu gebrauchen? So geht es doch nicht weiter! Wozu, frag' ich dich, Armjon!« Kamo war ein unternehmungslustiger Bursche geworden. Eine seltsame Unruhe hatte ihn ergriffen. Er spürte seine wachsenden Kräfte, machte immer kühnere Pläne und war überzeugt, daß es für ihn keine unüberwindlichen Schwierigkeiten gab. Armjon hingegen war während des letzten Jahres schweigsamer geworden, verschlossener, mehr in sich gekehrt. Er hatte eine rege Phantasie und gab sich gern Schwärmereien hin. Seine guten, klugen Augen leuchteten klar und ruhig. »Der Tatendrang allein genügt nicht«, sagte er, »man muß auch die nötigen Kenntnisse haben. Man muß Geologe sein, Struktur und Aufbau der Berge kennen. Mit der Kraft allein, mit der Gewalt ist nichts zu erreichen. .. « »Du predigst immer nur: Geduld, Geduld!« ereiferte sich Kamo. »Ich finde keine Ruhe, dich aber läßt das alles kalt. Wie kannst du so gelassen sprechen, während unsere Kolchosfelder geradezu verdursten?« »Mit Hast und Ungeduld wirst du hier nicht weit kommen. Man muß alles gut überlegen«, sagte Armjon altklug. »Komm, es ist Zeit, nach Hause zu gehen, es ist schon spät.« »Nein, ich bleibe heute hier. Es ist so schön hier draußen. Ich habe meiner Mutter gesagt, daß ich vielleicht nicht nach Hause komme.« »WilIst du denn hier übernachten?« »Die Luft ist so herrlich rein! Man müßte ein Narr sein, wenn man von hier wegginge, um im dumpfen Zimmer zu schlafen.« Kamo sammelte Schilfrohr, um sich daraus ein ,weiches ' Lager zu machen. »Dann bleibe ich auch hier,« sagte Armjon. »Ich werde die Sterne ansehen und hören, wie das Schilf rauscht.« Die Freunde streckten sich aus und vertieften sich wieder in ihre Bücher. Bald ging die Sonne unter. Der See wurde fast schwarz, und ein leichter Wellengang rollte, vom Abendwind aufgewirbelt, an den Strand. Aus der Ferne ertönte die Stimme des ,Wassermanns'. Jetzt, in der Dämmerung, klang sie noch geheimnisvoller und unheimlicher. »Du sagst: ,Reg dich nicht auf!' Wie aber soll man sich nicht aufregen, wenn wir nicht einmal rausbekommen können, woher dieses Brüllen kommt?« sagte Kamo und schlug ärgerlich sein Buch zu. Armjon antwortete nicht. Nachdenklich sah er zu den Gipfeln der Berge empor, die im Abendrot leuchteten. Der leichte Wind brachte das Schilf in Bewegung. Kleine Wellen schlugen mit sanftem Plätschern an das Ufer; Enten-schwärme kehrten von den Feldern heim und ließen sich mit leisem Aufklatschen auf das Wasser fallen. Am Himmel tauchte der Mond auf; er spiegelte sich sanft schaukelnd im See. Ein kühler Luftzug wehte vom Wasser her und erfrischte die von der Hitze erschöpfte Erde. Alles in der Natur versank in Schlaf. Nur die Frösche schliefen nicht; sie veranstalteten im Schilf ein immer lebhafteres Konzert. Allenfalls schlich noch ein Fischotter über das Ufer und hinterließ die Spur seiner nassen breiten Pfoten im Sande. Die Knaben unterhielten sich bis tief in die Nacht hinein; sie sprachen von den Hoffnungen und Wünschen, die ihre jungen Herzen bewegten. Endlich aber übermannte auch sie der Schlaf. Es war noch dunkel, als Armjon von dem schrillen Schrei eines Sumpfvogels erwachte und die Augen aufschlug. Der See lag in friedlichem Schlummer, aber auf den Spitzen der Berge zeigte sich bereits ein rötlicher Schimmer: der Morgen brach an und stieg langsam ins Tal hinab. Wie Wächter umringten die hohen Gipfel den See — gleichsam als warteten sie auf sein Erwachen. Nun war auch Kamo wach geworden. Er sprang auf und schwenkte die Arme, um die letzte Müdigkeit zu vertreiben und sich warm zu machen, und sog mit tiefen Atemzügen die frische Morgenluft ein. »Wollen wir jetzt gehen, Armjon?« Auf dem Wege durch die Kolchosfelder, am Gilli-See entlang, gingen die Jungen dem Dorfe zu. Früher war hier alles sumpfig gewesen. Das Kolchos hatte die Sümpfe trockengelegt und Weizen gesät. Dieses Stückchen Erde wurde von der Dürre wenig berührt. Das frische Saatgrün strömte einen würzigen Duft aus. Die Wachteln lockten mit zarten Lauten. Alles rings-um erschien Armjon wie ein schöner Traum. Am Eingang zum Dorf wurden die Jungen angerufen: »Halt! Wer da?« Undeutlich zeichnete sich eine Gestalt ab. »Wir sind es, Großväterchen - keine Fremden ... brauchst nicht zu schießen...« »Woher kommt ihr in solcher Frühe?« »Wir haben am Seeufer übernachtet, Großväterchen.« »Ach, wie schön ist es, am Ufer zu schlafen!« sagte der Alte. Er stopfte seine Pfeife und fuhr gemächlich fort: »In meinen jungen Jahren hab' ich das auch oft getan. Ich lag ausgestreckt da, sah zum Himmel, zu den Sternen empor; ich horchte auf die Stimmen der Erde. Horchte und dachte dabei: Nicht wir allein leben und atmen auf dieser Welt. Auch der See atmet. Wenn er sich freut, lacht er wie ein fröhliches Mädchen, bei Regen und Sturm aber wird er wütend, tobt und wirbelt Schaum auf.. . Und die Felsen, der Wind, das Schilf?... Sie alle haben ihre Sprache. Hast du gehört, Kamo, wie das Schilf klagt und stöhnt, wenn es im Herbst bei Unwetter vom Winde zerzaust wird? - Wie herrlich ist doch die Natur, und wie klein sind wir gegen ihre Kraft. . . « Die Knaben hörten schweigend zu: Der in die Natur verliebte Großvater schwelgte in Erinnerungen. »Ja, alles lebt«, fuhr er nachdenklich fort. »Sogar der Dali-Dagh. Gerät er nicht alle hundert Jahre einmal außer Rand und Band? Er zerrt wie ein Hund an der Kette. Er sprüht Feuer, er speit Asche und Lava aus!... Und die Bäume, die Blätter, die Gräser, die Blumen? Man spürt direkt, wie sie sich quälen, weil sie kein Wasser haben.« Der Greis verstummte und steckte seine Pfeife in den Mund. Er hatte sein ganzes Leben inmitten der Natur verbracht und liebte sie. Kamo hielt des Großvaters Schwärmereien für etwas übertrieben. Er konnte den alten Mann aber doch recht gut verstehen. Kamo hatte selber schon so vieles von der Natur gelernt, daß auch er sie liebte. In der Natur wußte der Großvater Bescheid, das mußte man ihm lassen! Er brauchte abends nur einen Blick zum Himmel zu werfen und konnte mit Sicherheit sagen, ob es am nächsten Tage regnen würde oder nicht. Erkannte die Lebensgewohnheiten der in der Wildnis lebenden Tiere besser als alle anderen im Dorfe. Nach den Sternen konnte er die Zeit feststellen. Nach dem Winde prophezeite er, wie die Ernte werden würde. Und noch vieles andere hatte der Großvater von der Natur gelernt. »Großväterchen, wo sollen wir nur Wasser für die Felder hernehmen?« fragte Kamo plötzlich. Die wehmütigen Erinnerungen des alten Mannes hatten auf ihn offenbar keinen tiefen Eindruck gemacht. Ihn beschäftigte ausschließlich der Wassermangel. »Woher? Und wenn ich dir sage woher, wirst du es dann herbeischaffen? « »Natürlich, Großväterchen, verlaß dich drauf.« »Kannst du zum Beispiel einen Tunnel durch den Dali-Dagh graben, der zehn Kilometer lang sein müßte?« »Einen Tunnel? Wozu denn das?« »Um Wasser vom Gipfel des Dali-Dagh bis ins Dorf zu leiten.« »Gibt es denn auf dem Gipfel des Dali-Dagh Wasser?« »Natürlich gibt es das. Oben liegt ein schöner See. Er ist aber nicht leicht zu erreichen, denn er liegt sehr hoch. Im Juli gibt es da oben noch Schnee. Und verteufelt kalt ist es da. Nur im Sommer klettern Hirsche und Wildböcke bis zum Gipfel hinauf. « »Hirsche und Wildböcke?« fragte Kamo und horchte auf. »Ja, warum wunderst du dich?« Kamo war nachdenklich geworden. »Großväterchen, weshalb hast du davon nie etwas gesagt? Woher weißt du, daß es auf dem Gipfel des Dali-Dagh einen See gibt?« fragte Armjon. »Wir müssen gleich zum Genossen Aschot gehen und ihm von dem See erzählen.« Die Jungen faßten den Großvater unter die Arme und führten ihn ins Dorf. Auf einen so frühen Besuch war der Geologe nicht gefaßt. Er setzte sich verschlafen im Bett auf: »Was ist los?« rief er. »Wir haben Wasser gefunden, es ist aber sehr weit weg von hier - auf dem Gipfel des Dali-Dagh«, erklärte Kamo. »Großvater, sage, was du darüber weißt.« »Was soll ich sagen, mein Junge?« erwiderte der Großvater und sah Aschot freundlich an. »Er ist sehr weit weg, dieser See. Meist liegt er sogar in den Wolken. Was es aber für Blumen da oben gibt, ist nicht zu beschreiben! Als mein Gevatter Mukel hier im Dorf Hirte war, hat er einmal seine Schafe bis auf den Gipfel des Dali-Dagh getrieben, bis zu dem See. ,Sollen sie von dem prächtigen Gras fressen, sollen sie von dem Lebenswasser trinken!' Unsere Väter haben nämlich das Wasser in diesem See ,Lebenswasser' genannt. ,Wer davon trinkt, lebt länger', sagten sie. Gevatter Mukel kam mit seinen Schafen auf dem Gipfel an. Die Schafe wollten nicht zusammenbleiben, sie liefen hierhin und dorthin und verteilten sich über die ganze Wiese. Da ärgerte sich Mukel. Er warf mit seinem Knüppel nach ihnen. Das war aber kein gewöhnlicher Knüppel; er hatte ihn aus dem Holz der Kornelkirsche geschnitzt. An dem einen Ende hatte er eine Spitze aus Eisen. Doch der Knüppel traf nicht, sondern fiel in den See. Gevatter Mukel war sehr traurig. Er vermißte seinen Knüppel sehr. Da kommt nach ein paar Tagen sein Nachbar Okap zu ihm und bringt ihm den Knüppel. ,Wo hast du den her?' fragte Mukel verwundert. Und was meint ihr, hat Okap geantwortet? Aus dem Gilli-See hatte er ihn gefischt.« Der Geologe war, während der Großvater erzählte, sehr nachdenklich geworden. »Das ist ein Märchen« , sagte er, »eine so lange Strecke konnte der Knüppel unter der Erde nicht zurücklegen. Er wäre bestimmt irgendwo hängengeblieben. Aber etwas steckt dahinter, das müssen wir rauskriegen. Was meint ihr, wollen wir alle zusammen auf den Berg steigen? Es wird ja schon hell. Vielleicht gelingt es uns, das Geheimnis deines steinernen Drachen doch noch zu ergründen«, sagte Aschot und begann sich rasch anzukleiden. »Ach«, sagte der Großvater, »wie oft hat uns die Dürre in den vergangenen Jahren geplagt, wie oft ist die Ernte auf den Feldern verdorrt, und die Menschen sind verhungert, oder sie sind in andere Gegenden gezogen. Immer haben wir vergeblich nach einem Ausweg gesucht!« »Nun, Großvater«, tröstete Aschot, »diesmal werden wir vielleicht doch etwas finden.« »Wir können es ja versuchen«, sagte der Großvater nicht sehr zuversichtlich. »Rauskommen wird nichts dabei. Aber ich werde euch da oben wilde Böcke zeigen, daß ihr staunen sollt. In den Büchern steht sicher viel zuwenig darüber. Das muß man mit eigenen Augen sehen.« Es wurde allmählich heller, und als sie endlich auch den Langschläfer Grikor aus dem Bett geholt hatten, ging bereits die Sonne auf. In der Geflügelfarm trafen sie auf Seto. Er half Asmik grade, die Vögel zu versorgen, und ließ sich ohne Widerspruch von ihr anstellen; er schleppte das Futter für die Küken heran, reinigte die Ställe und tat alles, worum Asmik ihn bat. »Seto, du bist doch der Sohn eines Fischers?« sagte Kamo. »Ja, das weißt du doch!« »Hör mal. Du kannst doch sicher schwimmen und tauchen?« »Mit mir kommen nicht mal die Fische mit.« »Weißt du was«, rief Kamo, »du läufst schnell nach Hause, holst dir was zu essen und ziehst deine Bastschuhe an. Wir wollen auf den Dali-Dagh, ganz hoch auf die Spitze. Dafür sind Bastschuhe besser als Lederschuhe.« »Ja, das weiß ich«, rief Seto und stürmte davon. »Auf mich müßt ihr ein bißchen warten, ich habe noch was Wichtiges vor«, rief Armjon. Er lief zu Onkel Bagrat und sprach lange mit ihm. Worüber, verriet er nicht. Aber das Ergebnis der Unterhaltung war eine Anweisung für den Rechnungsführer Mesrop, die er sehr ungnädig entgegennahm. »Wie soll ich das verbuchen?« knurrte Mesrop. »Ich muß als Rechnungsführer doch wissen, wozu die Produkte gebraucht werden. « Mesrop hatte recht, aber Armjon war überzeugt, daß er auch dann Einwände gemacht haben würde, wenn man ihm Genaueres gesagt hätte. Die Abneigung dieses Menschen gegen die jungen Naturforscher war allen ein Rätsel. »Der Vorsitzende läßt dir sagen, du bekämst noch Bescheid. Ich glaube aber, daß wir so viel Vertrauen verdienen, daß man uns fünfzehn Liter Petroleum gibt.« Armjon wiederholte da-mit nur das, was Onkel Bagrat ihm gesagt hatte. Im Lager erhielt Armjon fünfzehn Liter Petroleum und fünf leere Drei-Liter-Ballons. Nachdem er das Petroleum umgefüllt und die Ballons sorgfältig verschlossen hatte, kehrte er zu den Kameraden zurück. »Jeder von euch muß jetzt schnell von zu Hause einen Sack holen und dann zum Kolchoslager kommen«, rief Armjon. »Ich werde inzwischen schnell noch mal zu Aram Michailowitsch laufen. « Die Freunde sahen sich erstaunt an. »Was staunt ihr Bauklötze?« rief Grikor munter. »Ist doch klar! Onkel Bagrat will uns für den Weg Proviant mitgeben!« Und er stürmte freudestrahlend nach Hause, um den Sack zu holen. Seine Enttäuschung war groß, als anstatt des Proviants ein Ballon mit Petroleum in seinen Sack gesteckt wurde! »Was ist denn das für ein schlechter Scherz?« Grikor wollte auffahren, aber Armjon begütigte: »Nimm an, es ist ein Scherz!« sagte er lachend. »Jeder nimmt seinen Packen. Los, Freunde! Was zögert ihr? Wozu wir das brauchen, das sage ich euch vorläufig nicht, ihr werdet es schon sehen.« »Der Armjon ist nicht dumm, er weiß, was er tut«, half ihm der Großvater und nahm ebenfalls einen Ballon mit Petroleum und verstaute ihn in seinen Rucksack. »Ich möchte so schrecklich gern wissen, was Armjon vorhat«, bettelte Asmik, die ihre Neugierde kaum bezwingen konnte. Aber niemand konnte ihr etwas verraten. — So warfen denn alle die Säcke mit ihrem seltsamen Inhalt über die Schulter und machten sich, gefolgt von den beiden Geologen, auf den Weg. Im Krater des Vulkans Jühselig kletterte der Trupp über die verschiedenen jGebirgskämme, die auf dem Weg zum Gipfel des Dali-Dagh lagen. Es ging bergauf, bergab. Oft mußten tiefe Fels -spalten überquert werden. Die Felsenpfade waren schmal und unwegsam. Nur langsam kamen sie vorwärts. Dazu brannte die Sonne unbarmherzig herab, und von den Felswänden schlug ihnen glutheiße Luft entgegen. Asmik, die zuerst leichtfüßig wie ein Zicklein von einem Stein zum anderen gehüpft war, blieb jetzt häufig stehen, um Atem zu schöpfen. Auch Armjon war schon recht müde, versuchte aber, Asmik nichts davon zu zeigen. Auch wollte er nicht hinter Kamo zurückstehen, der unverdrossen weiterkletterte und offenbar gar nicht müde wurde. Grikor wäre von allen der beste Bergsteiger gewesen, hätte ihn nicht sein lahmes Bein gehindert. Aber auch so kam er mit den anderen gut mit und ermunterte die Freunde durch seine Späße. Der Großvater ging mit ruhigen Schritten allen voraus; er hastete nicht, blieb aber auch nicht zurück. Sein gleichmäßiges Vorwärtsschreiten war den Kindern ein Ansporn, und sie hätten sich geschämt, hinter dem Alten zurückzubleiben. Am frischesten zeigte sich Kamo. Manchmal nahm er, um die anderen mitzureißen, einen Anlauf und stürmte vorwärts wie ein junger Hirsch. Hatte er dann eine Höhe erreicht, so sah er sich stolz nach ihnen um. Sein Gesicht glühte, und seine Augen funkelten. Er war sehr aufgeregt, denn er hoffte, daß dieser Tag für alle von entscheidender Bedeutung sein werde. Seto war ebenso ausdauernd und unternehmungslustig wie Kamo. Er war richtig in seinem Element. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte den Steinen, ihrer Zusammensetzung und den verschiedenen Gesteinsschichten. Alle Augenblicke bückte er sich nach irgendeinem Stein oder brach ein Stück von einem Felsblock ab, um es in seinen Beutel zu stecken. Er sprach fast gar nicht mit den Freunden, sondern hielt sich ständig in der Nähe der beiden Geologen auf und hörte zu, was sie miteinander redeten. Die Freunde nahmen ihm das nicht weiter übel - sie kannten ja seine Leidenschaft. Aber schließlich blieb Seto zurück und trabte keuchend hinter den anderen her. Die Steine, mit denen er den Beutel und alle seine Taschen vollgestopft hatte, waren nun doch zu schwer geworden. Er schüttete seine ganzen Schätze kurzer-hand in einen verborgenen Winkel unter einem Felsen. Ich werd' sie auf dem Rückweg mitnehmen, dachte er und eilte in großen Sätzen den Freunden nach. Endlich waren sie am Ziel. Kamo war begeistert: »Hier ist's ja herrlich, ein richtiges Paradies!« Was sie hier sahen, war der krasseste Gegensatz zu den steinigen, von der Sonne ausgedörrten Abhängen auf der Südseite des Dali-Dagh. Zwischen smaragdgrünen, mit Frühlingsblumen besäten Bergwiesen lag ein wunderschöner See. Das Wasser war so klar und durchsichtig, daß man vom Ufer aus jeden Kiesel auf dem Grund sehen konnte. Hoch oben, auf dem Gipfel des Dali-Dagh, lag noch Schnee. Doch er taute, und mit munterem Plätschern stürzten sich die Schmelzbächlein herab in den See. Asmik jubelte: »Es ist wunderschön - guckt doch nur, da sind Ziegen.« Und richtig, am anderen Seeufer sprangen schlanke, langbeinige Tiere in Richtung der schneebedeckten Bergkuppe davon, blieben einen Augenblick stehen, sicherten und sprangen weiter, bis sie hinter den Felsen verschwunden waren. Nur der Leitbock, ein schönes großes Tier mit riesigen, spiralförmigen Hörnern, war auf der Höhe des Kamms stehengeblieben. Mit vorgestrecktem Hals beobachtete er jede Bewegung der Eindringlinge. »Das waren keine Ziegen«, sagte der Großvater, »das waren Wildschafe. Wir haben sie beim Trinken gestört.« »Ach«, rief Armjon, »Wildschafe sind das — Mufflons? Ich habe darüber mal gelesen.« »Wißt ihr auch, warum die Wildschafe ein weißes Hinterteil haben?« fragte der Alte. »Die meisten Tiere nehmen doch, damit man sie nicht sieht, die Farbe der Steine, der Erde oder überhaupt ihrer Umgebung an.« Die Jungen sahen einander fragend an. Auch Armjon wußte es nicht; in den Büchern stand nichts davon. »Dann will ich es euch sagen«, fuhr der Großvater selbstgefällig fort und strich über seinen langen weißen Bart. »Das hat die Natur so eingerichtet, damit das Lämmchen auch in der Dunkelheit seine Mutter finden kann und sich nicht verläuft«, sagte der Alte. »Du hattest doch aber mal einen Schafbock geschossen, und der hatte auch ein weißes Hinterteil? Weshalb denn das?« fragte Kamo. Wenn er geglaubt hatte, den Großvater durch diese Frage in Verlegenheit zu bringen, hatte er sich geirrt. »Was meinst du wohl, warum?« antwortete der alte Jäger und schmunzelte. Kamo wußte es nicht. »Das war der Leitbock«, sagte der Großvater. »Er führt die Tiere über Pfade, die nur er genau kennt. Wenn sie zum Beispiel vor dem Wolf flüchten müssen. Die ganze Herde folgt ihm nach, auch wenn es dunkel ist. Warum ist denn an den Lastautos hinten manchmal ein weißer Kreis angebracht? Doch nur, damit die Wagen in der Nacht nicht einer auf den andern auffahren... So ist es auch bei den Wildschafen.« Der Großvater sah siegesbewußt von einem zum anderen und fuhr fort: »Die Wildschafe haben die Gewohnheit, beim Laufen eine Kette zu bilden. Das weiße Hinterteil vom Leitbock ist dazu da, damit sie sich in der Nacht nicht verlieren. Wenn sie so in einer Kette hintereinander herlaufen, lassen sie den weißen Fleck nicht aus den Augen. Wenn er nicht da wäre, würde das Lämmchen die Mutter und die Herde den Leitbock verlieren, und der Wolf würde sich viel Schafe holen, und viele würden von den Felsen abstürzen. . .« Grikor, der dem Großvater gut zugehört hatte, lachte verschmitzt, zwinkerte den Freunden zu und ahmte den Großvater nach: »Was meint ihr denn? Los, raus mit der Sprache.« Aber der Alte hatte es nicht gemerkt. »Ja, so ist es, Kinder«, sagte er. »Man muß die Natur nur kennen. Sie hat alles klug eingerichtet.« Doch Armjon widersprach: »Das hat nicht die Natur eingerichtet, das haben sich die Tiere im Kampf ums Dasein erworben, im Laufe einer langen Zeit! « Es ärgerte Armjon, daß er nicht imstande war, Dinge, die er in Darwins Büchern gelesen hatte, so zu erklären, daß alle ihn verstanden. »Nicht die Natur?« brauste der Großvater auf. »Wer sagt das?« »Darwin hat das gesagt.« »Wie kann denn euer Darwin das wissen? Seit über sechzig Jahren laure ich wie ein Wolf den Wildschafen auf und weiß noch immer nicht alles über ihr Leben und ihre Gewohnheiten. Und nun soll dein Darwin mehr davon wissen als ich?« Der alte Jäger war nun wirklich aufgebracht. Die Kinder lachten gutmütig. Sie nahmen die Entrüstung des alten Mannes nicht sehr ernst. »Solltest lieber einen Bock für uns schießen, Großväterchen«, meinte Grikor. »Wie gut würde uns jetzt ein Braten schmecken. . . « »Das ist leicht gesagt, Junge! Siehst du denn nicht, daß sie einen Wächter aufgestellt haben? Versuch nur mal, an sie heranzukommen — wie der Wind wären sie auf und davon. Eh' du daran denkst, sind sie schon auf der andern Bergseite. Einen Wildbock abzuschießen ist nicht leicht, und nicht jeder Jäger kann es.« Der Alte setzte sich und griff nach seinem Tabaksbeutel. »Ja, wenn ich noch jung wäre«, fuhr er mit zitternder Stimme fort. »Doch das ist lange her. Wie viele Male hab' ich mich da drüben hinter den Felsen versteckt und hab' die Wildschafe beobachtet... Aber bildet euch nur nicht ein, daß ich auf sie geschossen habe, wenn sie an der Tränke waren...« »Wie konntest du sie aber schießen?« wollte Grikor wissen. »Ganz einfach! Ich habe mich bemerkbar gemacht. Wenn sie dann davonstoben, habe ich geschossen und meist auch getroffen, denn meiner Kugel zu entgehen ist nicht leicht«, brüstete sich der Alte. Der Geologe Aschot Stepanowitsch, der sich inzwischen die Umgebung angesehen hatte, kam jetzt zurück und erklärte: »Dieser See ist sicher der Krater eines Vulkans. Seht ihn euch an. Sieht er nicht aus wie ein Trichter? Nachdem der Vulkan erloschen war, versteinerte die Lava in dem Krater und bildete eine Schale. Als dann im Frühling die Schneemassen in den Bergen schmolzen, füllte sich diese Schale mit Schmelzwasser. Und das geschah Jahr für Jahr wieder. So ist dieser See entstanden, dessen Schönheit wohl die wenigsten Maler und Dichter wiedergeben könnten. Deine Vermutung trifft übrigens zu, Armjon.« »Woher wissen Sie, was ich vorhabe?« »Schon als du das Petroleum anschlepptest, wußten wir, worauf du hinauswolltest. Dein Plan ist gut. Wir haben aus der Form und der Beschaffenheit dieses Bergsees schon unsere Schlüsse gezogen. Es wird wohl so sein, wie du annimmst.« Asmik, die vor Neugierde bald platzte, rief schmollend: »Was sind das für Geheimnisse?« Die Jungen schwiegen und blickten ihren stillen, gelehrten Freund nur fragend an. Kamo schlug vor: »Kommt mal mit auf die Höhe — wir wollen sehen, was auf der anderen Bergseite los ist.« Sie ließen ihre Säcke am Ufer zurück und erklommen eine der kegelförmigen Bergkuppen, die den See einschlossen. Obwohl es schon Anfang Juli war, bedeckte junges, zartes Grün den Boden. Der Frühling, der aus dem Tal die Schluchten emporgestiegen war, hatte diese Höhen eben erst erreicht. »Schneeglöckchen! Seht nur, Schneeglöckchen sind hier in Mengen«, jubelte Asmik, als sie die weißen Blümchen sah. An manchen Stellen lag zwischen den Felsen, wo die Sonne nicht hinkam, noch hoher Schnee. Er begann erst jetzt zu schmelzen und floß in glitzernden Rinnsalen über das Gras in den See hinab. Asmik hatte als erste den Gipfel erreicht. Begeistert rief sie den Freunden zu: »Kommt! Es ist herrlich. Auf der anderen Seite sieht es ganz anders aus - es ist wie eine neue Welt! « Bald hatten auch die anderen die Kuppe erreicht und blieben, von dem herrlichen Anblick überwältigt, stehen. ,Der Kaukasus liegt mir zu Füßen...’ Wenn man vom Gipfel des Dali-Dagh auf die Gebirgslandschaft an der Nordseite hinabsieht, bietet sich einem ein herrliches Bild. Vor den Kindern breitete sich wirklich eine ganz neue, noch nie gesehene Welt aus. Hoher, dichter Wald bedeckte die Hänge. In langen Ketten zogen sich die Ausläufer des Kaukasus bis zum Kura-Tal hinab. Am Aras, dort, wo der Kaukasus an der iranischen Grenze zu Ende geht, näherten sich die Berge einander, ragten mit ihren steilen Gipfeln bis an die Wolken, teilten sich wieder und lösten sich in einem unentwirrbaren Labyrinth zerklüfteter, ineinandergreifender Bergketten in der blauen Ferne auf. Auch am Fuße der Berge dehnten sich unübersehbare Wälder, und nur die Gipfel ragten kahl und nackt aus dem grünen Meer heraus. Oberhalb der Wälder zog sich noch ein Gürtel smaragdgrüner Wiesen um die felsigen Bergkuppen. Die Luft war so klar und rein, daß man vom Gipfel des Dali-Dagh fast ganz Transkaukasien überblicken konnte. Eine üppig grünende Landschaft breitete sich vor den Blicken der jungen Naturfreunde aus, fruchtbare Täler, von silbern glänzenden Flüssen durchzogen! Eisenbahnzüge tauchten aus Felsentunneln auf; Städte und Siedlungen lagen eingebettet zwischen Gärten und Feldern. Und in der Ferne ragten andere Berggipfel empor, die mit ihren Schneehauben den türkischen Mullas mit ihren weißen Turbanen glichen. Im Norden bildete das Bergmassiv des großen Kaukasus eine gigantische Felsenmauer. Einzelne Gipfel verloren sich in den Wolken. Und im Osten hob sich eine dunkle Kette mit Wäldern bewachsener Berge vom Blau des Himmels ab und zog sich bis zum Kaspischen Meer hin. Im Süden bauten sich in langer Reihe die Bergketten des iranischen Kara Dagh auf, und im Südwesten waren die dunklen Umrisse der schon zur Türkei gehörenden Gebirge zu sehen. Im Westen ragten Georgiens Berge majestätisch zum Himmel empor - ewig grün, ewig jung und ewig heiter, gleich den Bewohnern ihrer Täler. Unmittelbar neben dem Bergmassiv des Dali-Dagh erhoben sich die in violette Schleier gehüllten Felsen des Kasach. Wie Silhouetten phantastischer Dome und Paläste mit spitzen Türmen zeichneten sich die scharfen Gebirgskämme von dem hellblauen Hintergrund des Himmels ab. Wohin der Blick auch fiel - überall ragten Berggipfel, Gebirgsketten und Kämme in den Himmel hinein. Zwischen ihnen zog sich ein Labyrinth von Schluchten und Gebirgspässen hin. Das ganze Land ringsum schien aus gewaltigen Höhen und bodenlosen Abgründen zu bestehen. Während die Kinder noch hinabblickten, bildeten sich in den Schluchten milchigweiße Nebelschwaden. Sie wuchsen und dehnten sich, stiegen höher und füllten bald die Schluchten mit einem wolkigen Brei. Hier und dort ragten felsige Bergkuppen wie Inseln aus einem Meer empor. Auf einer solchen Insel befanden sich auch die jungen Natur-forscher. Überwältigt von diesem Anblick, standen sie schweigend da. Wie hätten auch einfache Worte den Zauber der kaukasischen Gebirgswelt wiedergeben können? Große Dichter, wie Puschkin, Lermontow und Gorki, haben sie immer wieder besungen. Plötzlich kam Wind auf, und das Nebelmeer in den Schluchten geriet langsam in Bewegung. Die Umrisse der Berge zeigten sich. Der Nebel sank immer tiefer und lichtete sich immer mehr, bis er schließlich die Ufer der Kura erreicht hatte und allmählich ganz verschwand. Wieder lagen die grünen Berg-hänge, die Wälder, die Schluchten, die fruchtbaren Täler frei vor den Blicken der Kinder. »Was ist das für ein Berg?« fragte Armjon und zeigte auf eine silbern schimmernde Bergspitze fern im Osten. »Wie hoch mag er sein! Er überragt ja die Wolken. Sicher ist es der Elbrus. Wartet mal. Ich will gleich auf der Karte nachsehen.« »Vielleicht ist es der Kasbek«, meinte Kamo. »Elbrus und Kasbek liegen nicht weit auseinander.« Armjon hatte die Karte ausgebreitet und bemühte sich, die Namen der Berge festzustellen. »Nein, es muß doch der Elbrus sein«, sagte er. »Aber wo liegt der Dwal? Weißt du es nicht, Großväterchen?« fragte Armjon den Alten. »Das ist der kahle Berg da drüben, mit den roten Streifen. Sie sehen von hier wie Schnörkel aus. In Wirklichkeit ist es aber die Serpentine nach Stepanowa mit ihren vielen Windungen.« Der Alte hielt die Hand schützend über die Augen. Er betrachtete einen im Nordwesten aufragenden Berggipfel besonders aufmerksam. »Das ist der Weg nach Stepanowa, dem früheren Dschelal-Ogly?« fragte Armjon ganz aufgeregt. »Dann ist das ja der Weg, auf dem Puschkin vor hundertzwanzig Jahren entlang-gefahren ist.« »Davon habe ich mal was gelesen«, rief Asmik. »Ist das wirklich der Weg? Da hatte er doch den Wagen mit der Leiche Gribojedows getroffen?« »Ja, das ist der Weg. Auf dem Gipfel ist eine Quelle, bei der Puschkin angehalten und Wasser getrunken hat. Die So-wjSo-wjetregierung hat über der Quelle ein Denkmal errichten lassen. Der Bildhauer hat Puschkin zu Pferde dargestellt, wie er nach Arsrum reitet«, erklärte der Geologe Aschot den Kindern. Gedankenverloren blickte Armjon zu dem fernen Berge und zu dem Weg hinüber. Nach kurzem Nachsinnen zitierte er mit weicher Stimme: »Der Kaukasus liegt mir zu Füßen. Ich steh' In Gletschern am Absturz auf felsiger Rippe; Ein Aar, der sich aufschwang vom fernen Geklippe, Schwebt reglos, gleich mir, in der funkelnden Höh'!«[11 - Aus einem Gedicht Puschkins in der Übersetzung von F. Fiedler.] Stumm und ergriffen hörten ihm die Kameraden zu. Auch Setos Augen leuchteten. Andächtig blickte er hinunter in die ,andere Welt'. Die Kinder blieben noch lange auf dem Berggipfel stehen und bewunderten die Schönheiten der Natur, die sie rings umgaben. Schließlich trieb Kamo zur Eile: »Es ist schon spät, wir müssen gehen.« Sie kehrten zu ihren Säcken zurück und kletterten rasch zum See hinab. Die beiden Geologen waren auf dem Berggipfel sitzengeblieben. Sie machten Aufzeichnungen von der Lage und der Struktur der Berge. Von oben gesehen, wirkten die blumenübersäten Wiesen, die den Bergsee umgaben, wie farbenfrohe, orientalische Teppiche. Die Kinder hatten sich an das Ufer gesetzt und sahen zu den Enten hinüber, die ruhig auf dem See umherschwammen und die Menschen gar nicht beachteten. Armjon hielt sich ein wenig abseits. Er hatte sich über ein Blatt Papier gebeugt, nagte an seinem Bleistift und schien an-gestrengt nachzudenken. Asmik, die ihn beobachtete, machte den Freunden Zeichen und legte warnend den Finger auf die Lippen. Dennoch fragte Kamo unbekümmert: »Was schreibst du denn da? Lies mal vor, Armjon. Machst du ein Gedicht? Hier ist ja alles, was ein Dichter braucht: der See, die Blumen, der Wind, der von den Bergen weht. . . « Kamo lachte schalkhaft und sah zu Asmik hinüber... »Und Asmik ist auch in der Nähe.« Armjon wurde bei dieser harmlosen Neckerei glühend rot. Er wollte das Geschriebene verstecken, aber Grikor war schneller, er hüpfte auf seinem gesunden Bein herbei und riß ihm das Blatt aus der Hand. »Zier dich doch nicht, Armjon, wir wollen mal hören, was du kannst.« Dazu schnitt Grikor eine unbeschreiblich komische Grimasse, kniete vor Asmik nieder, legte die Hand aufs Herz und rief: »Du wohnst in meinem Herzen, schöne Fee, Die Surna soll von deiner Schönheit künden. Und lodernd schlägt die Flamme in die Höh', Die deine Blicke in mir zündet. Das Wasser aus dem See stillt diese Glut, Denn meine Lieb' verzehrt mein ganzes Herz! Ich stürz' mich in des Sewans klare Flut. Er kühlt, es zischt mein Leib wie glühend Erz.« Keiner hatte gesehen, daß er das Blatt verkehrt gehalten hatte. Grikor überreichte es Asmik mit einer tiefen Verbeugung, hüpfte auf einem Bein zum See und stürzte sich so, wie er war, ins Wasser. Die Freunde wollten sich ausschütten vor Lachen. Grikor kam wieder aus dem Wasser heraus und sagte, indem er seine nassen Kleider auswand: »Jetzt versteh' ich auch, warum Mutter die Glucken, wenn sie nicht brüten sollen, mit kaltem Wasser begießt! Die Glut in mir ist im Nu erloschen. . . « Kamo entriß Asmik das Blatt mit dem Gedicht und las nun mit Pathos vor, was wirklich da geschrieben stand: »Es plätschert der See! Vom Rand zum Rande Spielend sich Welle um Welle bricht... Mich deucht, daß aus dem Plätschern am Strande Ein Liedchen klingt, ein Herz zu mir spricht!« »Bravo, das ist sehr schön!« Suchend sahen sie sich nach Armjon um, der sich in seiner Verlegenheit irgendwo hinter den Felsen versteckt hatte. Das Rätsel des Bergsees Los, Freunde, jetzt wollen wir aber an die Arbeit gehen«, erinnerte Kamo seine Kameraden an ihr Vorhaben. »Wir dürfen uns doch nicht blamieren«, rief er, »wir sind mit Großvater Assatur und den beiden Geologen wie zu einer Expedition ausgezogen. Nun müssen wir auch rauskriegen, ob zwischen diesem Bergsee und dem Gilli-See eine Verbindung besteht. Die Geologen meinen, das Wasser sickert durch den Grund des Bergsees nach unten. Hab' ich das richtig verstanden, Aschot Stepanowitsch? « »Ja, sehr richtig. Der Grund dieses Bergsees hat sich aus Lava gebildet. Dieser ganze Berg ist vulkanischen Ursprungs. Das Gestein ist porös, und das Wasser kann leicht hindurchsickern.« »Wir haben rausbekommen«, fuhr Kamo fort, »daß sich im Gilli-See Quellen befinden müssen, die so wasserreich sind wie richtige Flüsse. Weiter wissen wir, daß früher hier an den Abhängen eine ,Große Quelle' gewesen ist. Die Inschrift in dem alten Krug spricht davon. Großvater hat uns erzählt, daß der Knüppel des Gevatters Mukel in diesen See gefallen und im Gilli-See wieder zum Vorschein gekommen ist. Es ist daher anzunehmen, daß das Wasser von hier nach unten einen Abfluß hat und unsere Kolchosfelder an den Berghängen bewässert. Wir wollen jetzt den Grund des Sees einmal gründlich untersuchen.« »Das sind ja Hirngespinste«, widersprach Grikor, dem ein kurzes Bad in dem kalten Bergwasser genügt hatte. »Überlegt doch mal, wo liegt dieser See, und wo ist der Gilli-See?« »Das sind gar keine Hirngespinste«, mischte sich Armjon ein. »Du mußt dir mal vorstellen, wieviel Wasser ununterbrochen in den Bergsee fließt. Von hier aus sehen wir einen, zwei, drei, vier Bergbäche. Dazu kommt noch das Regenwasser und das Schmelzwasser von dem vielen Schnee, der auf den Bergen taut.« »Ja«, rief Kamo, »und dabei steigt der Wasserspiegel nicht wesentlich. Das Becken könnte doch die Wassermassen gar nicht fassen.« »Vielleicht verdunstet es?« meinte Asmik. »Nein«, Aschot Stepanowitsch schüttelte den Kopf, »dazu ist es hier oben viel zu kalt. Das Wasser muß an irgendeiner Stelle absickern. Das steht fest. Sonst würde es den See bis an den Rand füllen, aus seinen Ufern treten und alles überschwemmen. Aus allen Seen Armeniens fließt das Wasser in größere oder kleinere Flüsse ab. Das trifft auch für unseren Sewan zu und ebenso für den See auf dem Alagös, den Aiger-Litsch-See, den Arpa-See, den Ganly-Göl-See auf dem Gipfel des Acha-achan sowie für den See auf dem Kapudjik. Wir haben alle diese Seen selber untersucht. und alle haben sie einen Abfluß. In der Natur gibt es eine gewisse Gesetzmäßigkeit. Wenn dieser See keinen Abfluß hat, dann ist die Gesetzmäßigkeit aus irgendeinem Grunde verletzt, und diesen Grund müssen wir herausfinden. Kamo hat recht. Wir wollen gleich damit anfangen. — Ich schwimme auch nicht schlecht. . . « Der Großvater hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt. Er beobachtete den Bergrücken, auf dem vorhin die Wildschafe gestanden hatten. Als alter Jäger wußte er, daß sie einen Kundschafter schicken würden, der das Treiben der verdächtigen zweibeinigen Eindringlinge verfolgen sollte. Es war für die Tiere eine sehr wichtige Frage, denn davon hing es ab, ob sie in diesem Teil des Gebirges bleiben könnten oder sich andere, entferntere Weideplätze suchen müßten. »Zieht eure Kleider aus«, sagte Aschot Stepanowitsch zu den Jungen. »Wir wollen inzwischen unsere Untersuchungen zu Ende bringen.« Beide Geologen kletterten auf eine gegenüberliegende Bergkuppe, auf der größere und kleinere Felsblöcke umherlagen. »Wir wollen unsere jungen Freunde selbständig handeln lassen und sie möglichst nur beraten«, sagte Aschot Stepanowitsch zu seinem Kollegen. »Kannst du dich noch auf das Gespräch besinnen, das wir am Tage unserer Ankunft mit Aram Michailowitsch hatten? Du merkst ja, daß ich schon immer versuche, mich abseits zu halten, um den jungen Menschen die Initiative zu überlassen. Sie haben das ganze Unternehmen erst in Gang gebracht. Sie sollen auch den Ruhm ernten. Wir werden uns nur in äußersten Fällen einschalten, wenn sie Fehler machen.« »Du hast recht. Sie sind auf dem richtigen Wege und werden schon selber merken, was getan werden muß. — Diese Steine stammen übrigens von einem Ausbruch des Vulkans. Gib mal den Hammer her, wir wollen sehen, was damit los ist.« Und die Geologen machten sich an ihre Arbeit. Unten am See hatte Kamo die Führung übernommen. Er trieb die Freunde an: »Nun zeig mal, daß du der Sohn eines Fischers bist, Seto! « Der Junge war oft noch sehr verlegen, besonders Asmik gegenüber... Er stammelte: »Ihr werdet sehen, daß ich auch was leisten kann...« Asmik verstand ihn gleich und lächelte ihm aufmunternd zu. Grikor konnte es nicht lassen, ihn zu necken: »Früher hast du dir Asmiks fette Enten geklaut. Jetzt hol dir welche aus dem See.« Seto sah schuldbewußt und verlegen zur Erde. Der Großvater hatte das Ende des lustigen Streits mit angehört und rief: »Du hast also damals in der Tonne gesessen!. . . « Kamo, der Angst hatte, Seto könnte mutlos werden, rief schnell dazwischen: »Das ist alles vergeben und vergessen. Den früheren Seto gibt es gar nicht mehr.« Aber Großvater Assatur war nicht so leicht zu beschwichtigen. »Was gewesen ist, ist gewesen — das stimmt«, rief er. »Aber Seto soll uns mal erzählen, wie er das damals mit den Enten gemacht hat. Ihr habt es nicht gesehen, aber ich hab' gesehen, wie das Entlein die Flügel spreizte, den Hals vorstreckte, den Schnabel aufsperrte und auf die Tonne zusegelte, als ob es von einer unsichtbaren Hand gezogen würde... Wie hast du das gemacht, Seto? Verrate uns das Geheimnis! Ich kenne doch die Wildvögel und alle ihre Gewohnheiten, so ein Hokuspokus ist mir mein Lebtag noch nicht vorgekommen... Was hast du eigentlich mit den Küken gemacht? Du hast sie ja dutzend-weise beiseite geschafft. Du kannst sie doch nicht alle auf-gegessen haben!« Seto wäre am liebsten in den Erdboden gesunken, so schämte er sich. Er war bis über die Ohren rot geworden und ließ den Kopf hängen. »Seto, du kannst uns das jetzt ruhig erzählen, es ist ja alles vorbei«, ermunterte ihn Kamo. Unter allgemeinem Gelächter berichtete Seto nun, immer noch zögernd: »Es war gar kein Hokuspokus, ich saß in der Tonne und hatte eine Rolle Zwirn in der Hand, daran zog ich die jungen Vögel zu mir heran. Von weitem kann man den Faden nicht sehen, und darum hatte es den Anschein, als würden sie von einer unsichtbaren Hand angezogen.« »Am Zwirn hast du gezogen? Wie sind sie denn aber an den Zwirn gekommen? « »Ganz einfach, man bindet einen Köder an den Faden und wirft ihn durch eine Zaunritze. Die kleine Gans oder Ente verschluckt ihn und damit das Ende des Fadens. Das andere Ende hält der, der in der Tonne sitzt, in der Hand. Wenn man dann den Faden anzieht, spreizt der Vogel eben die Flügel und segelt geradewegs auf die Tonne zu...« »Und was hast du dann mit den Tieren gemacht?« »Ich habe sie mit meinem Bruder zum Gilli-See gebracht und wieder ausgesetzt... Wir haben euch das doch zum Trotz getan«, sagte Seto und wurde noch verlegener. »Die Gänslein und Entlein freuten sich, sie hatten ihre Freiheit wieder. ..« »Und du hast keines aufgegessen?« staunte Grikor. »Kein einziges.. . Ehrenwort!« Die Kinder lachten vergnügt. »Und ihr habt immer was gegen meine Pfeife«, nahm der Alte wieder das Wort. »Wißt ihr auch, daß durch diese Pfeife alles herausgekommen ist?« »Wieso denn das?« fragte Asmik erstaunt. »Sehr einfach, hätte ich nicht mit der Pfeife gegen die Tonne geklopft, dann hätte sich Seto auch nicht gerührt.« »Das stimmt«, bestätigte Seto. »Arto und ich hatten verabredet: wer zuerst merkt, daß die Luft rein ist, der klopft gegen die Tonne.« Alle lachten laut und fröhlich, auch Seto lachte mit. »Wartet noch mit dem Ausziehen, Kinder«, sagte der Großvater, »ich werde euch noch was erzählen. Ein ganz ähnlicher Fall hat sich vor sieben oder acht Jahrhunderten auf der Insel, die im Sewan liegt, zugetragen. Mir hat es mein Großvater erzählt, und der wieder hatte es von seinem Großvater und so fort... In Armenien waren damals fremde Eroberer eingedrungen. Ich weiß nicht mehr, ob es Seldschuken oder Mongolen waren. Sie hatten das Land erobert und sich überall breit-gemacht; nur die Insel im Sewan konnten und konnten sie nicht nehmen. Wie sollten sie auch? Wenn die Fremdlinge versuchten, auf dem Wasser heranzukommen, wurden von der Felseninsel Steine auf sie geschleudert, und sie ertranken. Wie könnte man durch eine List die Insel an sich bringen? überlegten sie, und sie schmiedeten einen Plan. In jedem Volk findet sich unter vielen Tausenden auch ein Schurke, ein Verräter. So machten auch sie einen habgierigen armenischen Händler ausfindig. Sie versprachen ihm Berge von Gold, und dafür sollte er feindliche Krieger anstatt Waren in Fässern und Kisten auf die Insel bringen. So machten sie es denn auch. Die Fässer, in denen die Krieger mit ihren Waffen saßen, wurden auf Boote geladen und fuhren mit dem Händler zur Insel hinüber. Die Insel aber war schon ein ganzes Jahr lang von den Feinden belagert worden. Natürlich fehlte es den Menschen an allem: an Lebensmitteln, an Kleidung; und sie empfingen den Händler mit Freuden. Die Fässer und Kisten wurden ausgeladen, in das Kloster gebracht und im Keller aufgestapelt. Wer hätte ahnen können, daß sie keine Waren, sondern bewaffnete Krieger bargen?... Da gab es aber einen Burschen, der muß mit Seto Ähnlichkeit gehabt haben; der lernte seine Aufgaben nicht und trieb allerhand Unfug. Der Bischof sperrte ihn in den Keller ein. ,Bevor du die Aufgaben nicht wie am Schnürchen hersagen kannst, lasse ich dich nicht wieder raus', sagte er zu ihm. So saß dieser Bursche im Keller und versuchte zu lernen. Aber es wurde ihm zu langweilig. — Da fing er an, auf ein Faß zu hämmern wie auf eine Trommel. Plötzlich hörte er aus dem Faß eine Stimme: ,Gasan, wachty dy?' (,Ist es soweit, Gasan?') Der junge floh entsetzt aus dem Keller und lief schnurstracks zum Bischof. Die Männer auf der Insel stürzten sofort in den Keller und warfen die Fässer und Kisten ins Wasser, ohne sie aufzumachen. Der verräterische Händler aber wurde am Galgen aufgeknüpft ... Ja, so geht es ... Aus Langerweile hat er gegen das Faß getrommelt und dadurch die Insel gerettet. — Ich hab' meine Pfeife am Faß ausgeklopft und dadurch die Farm gerettet«, schloß der Großvater seine Erzählung und lächelte Seto freundlich zu. Asmik klatschte in die Hände. »Das war eine schöne Geschichte«, rief sie. »Es ist sicher nur ein Märchen«, meinte Armjon. »Wieso denn ein Märchen?« sagte der Großvater ärgerlich. »So ist es gewesen und nicht anders.« Unter Wasser... Jetzt ließen sich die jungen Naturforscher nicht länger halten. Seto stürzte sich als erster ins Wasser. Er konnte wirklich schwimmen wie ein Fisch. Das Wasser im See war so kalt, daß die Jungen, blaugefroren und zitternd, schon nach kurzer Zeit ans Ufer stiegen, um sich in der Sonne aufzuwärmen. Dann gingen sie erneut ins Wasser, und Seto versuchte, bis in die Mitte des Sees zu schwimmen. Als er zurückkam, rief er den Freunden aufgeregt zu: »In der Mitte bildet das Wasser Ringe! Könnt ihr es von hier sehen?« Die Jungen blickten angestrengt hinüber. Tatsächlich, in der Mitte brodelte das Wasser, und es bildeten sich Ringe. »Wir wollen die Geologen rufen und sie fragen, was das bedeuten kann«, riet Kamo. Er winkte, und die beiden Geologen kamen von dem Berggipfel herunter und traten dicht an das Ufer. Aschot Stepanowitsch flüsterte seinem Kollegen etwas zu, der nickte zustimmend. »Auf dem Grund muß eine Öffnung sein, durch die das Wasser in das Innere des Berges abfließt. Das wirkt wie ein Trichter. Bravo, Kinder, ihr habt die Augen offengehalten! « lobte Aschot Stepanowitsch. Armjon lächelte befriedigt, als sei ihm soeben nur das bestätigt worden, was er schon lange wußte. »Aber woher kommen diese Ringe?« fragte Grikor. »Gieß mal Wasser in ein Gefäß, das ein Loch hat, dann wirst du sehen, daß sich auch da Kreise bilden, während das Wasser abfließt«, antwortete Seto und sah Grikor an. »Was machen wir jetzt?« sagte Kamo verzweifelt. »Wir müssen doch feststellen, was da wirklich los ist. Du bist jetzt unsere ganze Hoffnung, Seto. Wir anderen schaffen es nicht. In der Mitte ist es viel zu tief.« Seto war Feuer und Flamme. Er war entschlossen, wo nun alles auf ihn ankam, sogar in die Hölle zu steigen. So stürzte er sich beherzt ins Wasser. »Und wenn ich ertrinken müßte«, scherzte Aschot Stepanowitsch, indem er sich auszukleiden begann, »ich muß auch nachsehen. So etwas muß man sich aus der Nähe betrachten!« Als Seto die Stelle erreicht hatte, an der das Wasser Ringe bildete, tauchte er. Der Strudel erfaßte ihn und zog ihn ungestüm nach unten, bis zu einem schmalen Spalt auf dem Grunde des Sees. Seto kämpfte gegen die Strömung an, die unter dem Wasser so stark war, daß er nichts dagegen auszurichten vermochte. Sie zog ihn mit ungeheurer Gewalt in die Tiefe. Zwischen Setos Beinen hindurch ergoß sich das Wasser aus dem See in den Spalt und drohte den Jungen mit in den Strudel hineinzuziehen. Die Kinder am Ufer beobachteten, daß die Kreise auf dem Wasser sich rasch vergrößerten. Blasen stiegen auf und zerplatzten an der Oberfläche. »Seto ertrinkt!« schrie Kamo entsetzt. Da sahen sie, wie Aschot Stepanowitsch in weit ausholenden Stößen zu der Stelle schwamm, tauchte und Seto mit einem energischen Ruck an die Oberfläche riß. Er brachte den kühnen Freund rasch ans Ufer. Nachdem Seto sich erholt hatte, erzählte er: »Da unten ist ein Fluß, ein unterirdischer Fluß. Wäre der Spalt auf dem Grund weiter gewesen, dann hätte mich der Strudel unweigerlich ins Innere des Berges gerissen.« »Du hättest dich ruhig reißen lassen sollen«, sagte Grikor scheinbar ernst. »Denk mal, wie interessant, wenn du ganz woanders aufgetaucht wärst, zum Beispiel im Sewan.« Aber Seto war nicht nach Lachen zumute. Das Abenteuer hätte schlimm ausgehen können. »Dafür gibt es ein einfacheres und weniger gefährliches Mittel«, sagte Aschot Stepanowitsch. Er zwinkerte Armjon zu. »Wir wissen immer noch nicht, wohin das Wasser fließt«. sagte Kamo mißmutig. »Kannst ja mal nachsehen! Vielleicht nach dem Kasach, vielleicht nach dem Daralagös ...«, meinte Grikor ein wenig spöttisch. »Kann man das nicht feststellen?« »Wozu haben wir eigentlich das Petroleum hergeschleppt?« fragte Armjon und schmunzelte. »Habt ihr schon mal darüber nachgedacht?« »A-a-ah!« rief Asmik. »Jetzt weiß ich es. Ihr wollt das Petroleum in das Abflußloch gießen?« Alle sahen Armjon bewundernd an: er war wirklich ein kluger Kopf. »Wir werden das Petroleum hier reingießen, die Frage ist nur, wo es wieder zum Vorschein kommt«, erklärte Armjon. »Meine Pioniergruppe ist am Gilli-See, um aufzupassen: Atschik Arutjunjan, Sorik Owsepjan, Sonja Wartasarjan und wahrscheinlich noch ein paar andere sind längst dort. Sie werden den See nicht aus den Augen lassen, und wenn sich Petroleumflecke auf dem Wasser zeigen, werden sie es uns sagen. Aram Michailowitsch wird wohl auch dort sein.« »Wie können wir aber die schweren Ballons an dem von Seto entdeckten Spalt zerschlagen?« fragte Kamo. »Fünf Ballons?... Das hieße ja fünfmal untertauchen. Und dazu noch die Ballons unter Wasser zerschlagen?... Nein, das geht nicht«, sagte Seto, »ihr habt doch gesehen, wie schwer es war, mich wieder rauszuziehen.« »Wir wollen doch mal sehen, ob euch nicht ein guter Gedanke kommt«, sagte Aschot Stepanowitsch und sah in die erhitzten Gesichter der Kinder. »Wir sagen nichts«, flüsterte er seinem Kollegen zu. »Diese Burschen sind erstaunlich hell und erfinderisch.« »Du hast recht«, sagte Armjon zu Seto. »Außerdem würde das Petroleum, wenn wir die Ballons einzeln zerschlagen, auseinanderfließen. Wir müssen aber dafür sorgen, daß das ganze Petroleum auf einmal in den Spalt kommt, wenn es einen Sinn haben soll... Wenn wir irgendein großes Gefäß hätten, das fünfzehn Liter faßt. . . vielleicht einen Krug.« »Einen Wasserkrug?« Großvater Assatur horchte auf. »Ein Krug wäre leicht zu beschaffen. Nicht weit von hier ist ein Nomadenlager. Es liegt auf der anderen Seite, nach dem Kasach zu.« Kamo war sofort bereit, nach dem Krug zu gehen; er wurde aber von Seto zurückgehalten. »Ich habe doch schon gesagt, daß ich meine Schuld wieder-gutmachen möchte, laß mich gehen«, und halbangezogen stürmte er davon. Kamo rief ihm nach: »Biete ihnen alle unsere Glasballons zum Tausche an und sage ihnen, daß dich der Großvater Assatur geschickt hat, den kennen die Nomaden gut.« Als Seto hinter einem Hügel verschwunden war, wandte sich Kamo den Freunden zu. »Seto ist wirklich ein ganz anderer geworden.« »Das ist dein Verdienst, Kamo«, sagte Armjon. »Du hast ihn auf den richtigen Weg gebracht.« »Aber nach deiner Methode«, rief Kamo und lachte. »Ich konnte es gar nicht fassen, daß Kamo diesen Bösewicht kleingekriegt hatte«, rief Asmik und lächelte ihren Freund schelmisch an. Das unerwartete Kompliment brachte Kamo in Verwirrung. »Ich weiß nicht. . .«, stotterte er verlegen. »Auf alle Fälle hast du dafür eine Belohnung verdient«, rief Asmik. »Warte, gleich sollst du sie haben...« Asmik lief davon, um einen Strauß Blumen zu pflücken. Die Geologen waren inzwischen zu einer Steilwand gegangen, die am gegenüberliegenden Ufer begann und bis zum Fuße des Berges abfiel. »Mir scheint«, meinte Aschot Stepanowitsch, »daß die Struktur dieses Berges einen Fingerzeig gibt, wohin das Wasser fließt — ob zum Kasach hinüber oder nach dieser Seite, zum Sewan.« »Gewiß, das müßte zu erkennen sein... Wir sollten nicht zulassen, daß sich die Kinder unnötig abquälen, ehe wir diese Frage geklärt haben.« »Selbstverständlich, wenn das Wasser in Richtung auf den Kasach abfließt, ist es auch zwecklos, Petroleum in den Spalt zu gießen, zumal hierzu wieder an der gefährlichen Stelle getaucht werden muß.« Sie hörten, wie Asmik mit ihrer kindlichen Stimme Armjon zurief: »Guck doch, wie schön sie sind, und wie sie duften!« Sie war eifrig damit beschäftigt, einen Strauß für Kamo zu pflücken. Als sie genug Blumen beisammen hatte, wand Asmik aus den Blumen einen kleinen Kranz, den sie Kamo feierlich auf den Kopf drückte. »Der Lohn für Setos Bekehrung ... «, rief sie. Dann wandte sie sich zu Armjon. »Mein kleiner Dichter ist betrübt ... Warte, Armjon, gleich binde ich dir auch einen Kranz - zum Ruhme unseres Dichters.« Asmik wand einen zweiten Kranz und setzte ihn Armjon auf den Kopf. Dann fiel ihr Blick auf Grikor. »Ach, mein armes Brüderlein. Warte mal, für dich pflücke ich Narzissen... So, da hast du auch eine Belohnung von mir! Aber wenn du dein Bein nicht schonst, wie du es versprochen hast, werde ich ganz böse sein... Und du, mein gutes Großväterchen - warum läßt du den Kopf hängen? Du guter, alter Zauberer mit dem langen weißen Bart! Hier, dieser Strauß ist für dich! Sei nicht traurig. Freue dich über deine klugen, braven Enkelkinder. . . « Der Großvater war ganz gerührt und seufzte. Das Wiedersehen mit den Jagdrevieren, in denen er in jungen Jahren so oft umhergestreift war, hatte in dem alten Jäger offenbar wehmütige Erinnerungen wachgerufen. Er blickte auf den See hin-aus und fing plötzlich an zu singen. Es war irgendein orientalisches, schwermütiges Liedchen. Der Alte sang es mit solcher Innigkeit, daß die Kinder ihn mit ihren großen, erstaunten Augen fragend ansahen. Der Alte sang mit brüchiger, trauriger Stimme: »Ach, Dali-Dagh, Dali-Dagh... Wie viele sind so wie wir heute zu dir gekommen, haben den Duft deiner Blumen eingeatmet und sind wieder gegangen... Niemand weiß, woher die Menschen kommen, wohin sie gehen, wir kennen die Geheimnisse der Natur nicht... « »Kinder«, rief er erregt, »ich will noch ein wenig jagen gehen. Den Dali-Dagh werde ich in meinem Leben nicht wiedersehen, es ist das letztemal, daß ich hier oben bin... Will mal sehen, ob meine Augen noch was taugen«, und mit hastigen Schritten verließ er die Freunde. Der Großvater stieg keuchend zur nächstliegenden Anhöhe empor. Auf dem Gipfel blieb er lange Zeit stehen und blickte aufmerksam in die Ferne. In einem tiefen Tal jenseits des Bergrückens ästen mehrere Böcke. Der Großvater legte das Gewehr an, doch schon hatte ihn der Leitbock bemerkt, er warnte das Rudel, das in langen Sätzen über das Geröll eines Abhangs dahinstürmte. Im gleichen Augenblick krachte der Schuß. Ein riesiger Bock stürzte in vollem Lauf kopfüber und rollte in den Schnee, den ein paar Blutspuren färbten. Schützend hielt der alte Jäger die Hand über die Augen und blickte lange, lange hinab auf den Sewan und auf die Berge. Wieder begann er zu singen. Diesmal war es ein Lied aus seiner Jugend - das ,Lied des Hirten'. Er sang es voller Inbrunst und Wehmut und sagte damit den geliebten Bergen für immer Lebewohl... Der vom Großvater erlegte Bock war ein kapitaler Bursche. Kamo und Grikor spannten sich vor und zerrten ihn an den Hörnern hinter sich her. Es war nicht ganz leicht, ihn bis ans Ufer des Sees zu ziehen. »Wie schön er ist!« sagte Asmik. »Tat es dir denn nicht leid, ihn zu töten? « Armjon stand daneben. Auch ihn machte der Anblick des prächtigen Tieres traurig. »Leid tat er mir schon«, sagte der Großvater, »aber manchmal muß man sogar für die Wissenschaft Blut vergießen. Dieser Tage hat der Vorsitzende des Jägerverbandes zu mir gesagt: ,Großvater Assatur', sagte er, das Zoologische Institut braucht einen Wildbock. . . Man will Magen, Lungen und Leber untersuchen.' Ich weiß nicht, wozu sie das machen, wegen irgendwelcher Krankheiten vielleicht? Nun, jetzt werden wir ihnen die Eingeweide schicken, damit sie die untersuchen können, das Fleisch werden wir aufessen. Es ist gut, daß mir ein Bock vors Gewehr gekommen ist — einen Bock zu töten, das ist keine Sünde. Eine Mutter mit ihren Jungen abzuschießen — das ist eine andere Sache.. . « »Großväterchen, warum hat denn der Bock so riesige Hörner?« fragte Grikor, der das schwere Geweih kaum anheben konnte. »Und was sind das für Ringe auf den Hörnern?« »Seine Hörner oder sein Geweih braucht der Bock zur Verteidigung und auch zum Angriff. Im Kampf siegt der Bock, der einen starken Kopf und starke Hörner hat und dabei natürlich selbst jung und stark ist. Jeder einzelne der Ringe auf den Hörnern bedeutet ein Lebensjahr. Davon hab' ich euch doch schon erzählt.« »Der Bock ist also acht Jahre alt«, zählte Grikor. »Oho, wenn er zwanzig Jahre gelebt hätte - er würde es auf Hörner von zwei Meter Länge gebracht haben! « »Nein, so lange leben die Böcke nicht«, sagte der Großvater. »Mit acht Jahren ist ein Bock schon ein altes Tier. Älter als zwölf oder dreizehn Jahre werden sie nicht. Und wenn sie alt und schwach geworden sind, wie ich jetzt, dann bleiben sie von der Herde zurück und werden von den Wölfen gefressen.« Während Großvater Assatur damit beschäftigt war, dem Tier das Fell abzuziehen, kam Seto keuchend mit einem großen Tonkrug auf der Schulter zurück. Die Nomaden hatten ihn bereitwillig hergegeben, als er ihnen erzählt hatte, daß er aus dem Dorfe Litschk stamme. Die Aserbeidschaner Kolchosbauern aus der heißen KuraEbene kommen alljährlich im Sommer in die armenischen Berge und werden hier freundlich aufgenommen. Der alte Jäger Assatur genoß bei den Nomaden besonders großes Ansehen. »Hast du ihnen meinen Namen genannt?« fragte der Alte. »Ja, Großväterchen. « »Sie sagten, daß sie für den Kirwa[12 - Kirwa = Freund.] Assatur alles hergeben würden«, antwortete Seto und fügte hinzu, indem er den Kameraden zuzwinkerte: »Sie wollten ein Lämmchen für dich mitgeben, aber wie hätte ich außer dem Krug auch noch das Lämmchen tragen sollen?« Großvater Assatur war stolz auf seinen guten Ruf: »Hab' ich's euch nicht gesagt, daß sie mir nichts abschlagen werden? So manches Mal hab' ich einen erlegten Hirsch zu ihnen in die Bina[13 - Bina = Gruppe von Zelten, in der Regel von mehreren Familien desselben Stammes.] geschleppt. Dann saßen sie um das Feuer herum - und es hat im ganzen Gebirge nach dem Braten geduftet... Ach, wo bist du hin, schöne Zeit?« sagte der Großvater und wurde ganz schwermütig. »Das ist aber wirklich ein Prachtexemplar!« staunte Seto, als er den Bock sah. »Hat Großväterchen ihn geschossen?« Nicht minder erstaunt waren auch die Geologen, als sie zurückkamen. »Diese Art der wilden Schafe wird in der Naturkunde als armenischer Mufflon bezeichnet«, erklärte Aschot Stepanowitsch. »Mufflons kommen eigentlich nur in Armenien vor und werden außerdem vielleicht mal im nördlichen Irak oder im armenischen Gebiet der Türkei angetroffen. Man hat sie jetzt auch mit Erfolg in anderen, westlicheren Gegenden an-gesiedelt.« »Was haben Sie rausbekommen?« fragte Armjon den Geologen aufgeregt. »Hat es einen Zweck, noch mal mit dem Petroleum zu tauchen, oder fließt das Wasser nach dem Kasach zu ab?« »Nach der Struktur des Felsens zu urteilen, muß das Wasser zum Sewan abfließen«, sagte Aschot Stepanowitsch. »Das Wagnis lohnt sich«, fügte er hinzu, »um einen Unfall zu verhüten, müssen wir aber erst ganz genau überlegen, wie man das Petroleum am besten in den Spalt gießen kann. Auf keinen Fall dürfen wir unüberlegt handeln.« »Das ist nicht so schlimm, wir werden es schon schaffen!« rief Kamo ungeduldig. Er war kein Freund langer Überlegungen. »Mit dem Strudel läßt sich nicht spaßen«, warnte der Großvater. »Wartet ein wenig, Kinder, ich will euch einen Gehilfen geben, dann wird alles gut gehen«, sagte er und stieg einen Abhang hinauf. »Wenn wir erst unseren Braten gegessen und uns den Bauch tüchtig vollgeschlagen haben, werden wir mit dem Strudel schon fertig werden«, meinte Grikor. »Ich will mal in den Wald laufen und Reisig holen.« Kamo war ärgerlich: »Lauft doch nicht alle davon!« schrie er dem Großvater und Grikor nach. »Keine Übereilung, Kamo«, beschwichtigte ihn Aschot Stepanowitsch. »Warte mal, was der Großvater vorhat. Mit dem Strudel muß man vorsichtig sein, da hat er recht. Du hast doch gesehen, daß Seto beinah ertrunken wäre.« Inzwischen war Grikor schon hinter dem Bergrücken verschwunden. Nach kaum zwanzig Minuten kam er mit einem großen Bündel Reisig zurück. Grikor ließ sich mitsamt seiner Last wie eine Kugel den Abhang hinabrollen und hüpfte dann auf seinem gesunden Bein geschwind heran. »Macht schnell Feuer«, schrie er, »mir ist schon ganz schwach vor Hunger!« Schnell wurde ein Feuer angezündet. Die besten Fleischstücke wurden auf die Bratspieße, die sie rasch aus den stärksten von Grikor mitgebrachten Ästen angefertigt hatten, aufgespießt. Als auch der Großvater nach einer Weile wiederkam und einen dicken Baumstamm mitschleppte, drang ihm schon von weitem der angenehme Bratenduft in die Nase. »Das ist die einzig richtige Art; so muß das erlegte Wild zu-bereitet werden«, sagte der Großvater und ließ sich am Feuer nieder. »Zu Hause wird es in den Kochtopf geworfen, wird gekocht - und der ganze Geschmack, der ganze Genuß ist weg! Auch Fische soll man da essen, wo man sie gefangen hat, und in dem Wasser, aus dem sie kommen, kochen. Nimmt man anderes Wasser, geht der ganze Geschmack verloren... Ist das ein Wunder? Das sind alles Naturgesetze.. . Hier habt ihr nun einen ,Rettungsring' für den Taucher.« Der Großvater wies auf den knotigen Baumstamm, den er herangeschleppt hatte. »Es ist der Stamm einer Linde, der ist leicht und geht nicht unter. Werft ihn ins Wasser und haltet euch daran fest... Donnerwetter! Der Braten duftet aber verteufelt gut. Das war doch sicher Grikors Idee... « Nachdem sich alle gestärkt hatten, sprang Kamo sofort auf. Er wollte sich schon ausziehen und ins Wasser gehen, aber der erfahrene alte Jäger warnte: »Das geht nicht. Mit vollem Magen kann man im Wasser einen Schlag bekommen. Jetzt wird erst ein paar Stunden ausgeruht, und dann geht es mit frischen Kräften ans Werk.« Die Geologen stimmten ihm zu, und alle streckten sich im Schatten auf dem weichen Grase aus. Nach den Aufregungen des Vormittags waren sie bald eingeschlafen. Kamo erwachte als erster. Er blickte sich um und weckte hastig seine Freunde: »Wir müssen uns beeilen, zieht euch aus!« Aber Armjon hielt ihn zurück. »Nein, warte noch. — Seto, hilf mir, wir müssen das Petroleum in den Krug umgießen, außerdem, glaube ich, müssen wir dem Lindenstamm noch mehr Tragkraft geben.« »Wie willst du denn das anstellen?« »Laßt mich nur machen.. . Hier, die drei Glasballons sind groß genug... Wenn Luft darin ist, schwimmen sie wie Schweinsblasen. Großväterchen, darf ich aus dem Fell deiner Jagdbeute ein paar Stücke rausschneiden?« Armjon schnitt ein paar Fellstücke zurecht, band damit die Öffnungen der leeren Ballons zu und befestigte sie mit Fellstreifen an dem Lindenstamm des Großvaters. Dann trug er gemeinsam mit Seto und Kamo diesen kunstvollen ,Rettungs-ring' zum See und warf ihn ins Wasser. »Jetzt können auch die Nichtschwimmer mitkommen«, rief er. »Ich wette, der Stamm trägt spielend eine Last von vier Zentnern. « »Zieht euch nun aber endlich aus«, drängte Kamo, der seine Ungeduld nicht länger zügeln konnte. »Nein«, widersprach Armjon, »wir sind noch nicht fertig. Hast du schon mal nachgedacht, wie wir den schweren Krug mit dem Petroleum bis in die Mitte bringen und versenken sollen?« Kamo, der nur darauf brannte, endlich etwas zu erleben, schüttelte den Kopf: »Petroleum ist leichter als Wasser, und keiner von uns wird imstande sein, mitsamt dem Krug zu tauchen, geschweige denn damit auf dem Grund zu hantieren.« »Wir können ihn ja mit einem Stein beschweren«, schlug Seto vor. »Bravo«, rief Armjon, »richtig. Merkt ihr nun, warum ich die Ballons an den Baumstamm gebunden habe? Damit werden wir den Krug erst einmal bis zur Seemitte schaffen können.« Ein schwerer Stein wurde herangeholt und in den Krug versenkt. Dann befestigten die Kinder das Gefäß mit Fellresten an ihrem ,Rettungsring'. »Geht's jetzt los?« fragte Kamo. »Ja«, rief Armjon, »jetzt müßte es gehen.« »Wir wollen uns auch ausziehen«, sagte Aschot Stepanowitsch zu seinem Kollegen. »Diesem Zug müssen wir uns unbedingt anschließen.« Im Wasser hielten sich die Jungen an dem Lindenstamm fest und steuerten ihn zur Mitte des Sees. »Hier muß es sein«, sagte Seto. »Die aufsteigenden Blasen hier müssen aus dem Spalt kommen. Kamo, hilf mir den Krug losbinden. Ich will dann damit tauchen.« »Warte«, rief Armjon, »erst binden wir dir einen Strick um den Leib. - Wie tief wird es hier sein?« Armjon sah sich den Strick an - er war sicher länger als zehn Meter... Dann banden sie den Krug los, dessen Öffnung sorgfältig mit Fell abgedichtet war, und übergaben ihn Seto. »So, jetzt kann's losgehen!« »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich halte den Strick gut fest«, rief Grikor und umklammerte das Ende des Stricks. Er hatte es zur Sicherheit noch mehrere Male um seinen Arm geschlungen. »Laß ja nicht los«, rief Seto und nahm den Krug unter den Arm, »die Strömung ist sehr stark.« Dann tauchte er unter... Das Wasser brodelte, und Blasen stiegen auf und zerplatzten. Die Jungen klammerten sich an den Baumstamm und erwarteten gespannt die Rückkehr ihres Kameraden. Der Strick, an dem Seto festgebunden war, rollte langsam ab. Schließlich straffte er sich. Das Wasser geriet in Bewegung. Grikor wollte gerade eine spaßige Bemerkung machen, als er plötzlich aufschrie; sein Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen: »Ich kann den Strick nicht mehr halten«, keuchte er. »Kamo, hilf mir, schnell! Der Strudel hat Seto erfaßt; er zieht mich mit runter!« Kamo eilte Grikor zu Hilfe und packte den Strick, sie wurden beide mit ungeheurer Gewalt nach unten gezogen. Jetzt mußten sich der schwimmende Baumstamm des Großvaters und die daran befestigten Ballons bewähren. »Haltet euch mit der einen Hand am Baumstamm fest. Laßt ja nicht los!« schrie Aschot Stepanowitsch aufgeregt. Auch die beiden Geologen griffen nun zu, und alle zogen mit vereinten Kräften an dem Strick. Der Baumstamm hielt ihr Gewicht aus, und sie blieben an der Oberfläche. Plötzlich gab die Leine nach. Sie ließ sich ganz leicht hochziehen, und gleich darauf tauchte auch Seto auf. Er hatte gerade noch die Kraft, sich auf den Baumstamm zu wälzen, dann wurde er ohnmächtig. Sein Körper war blau und zitterte vor Kälte. Der Atem des jungen ging keuchend. Es war nicht leicht, den Baumstamm aus dem Bereich des Strudels ans Ufer zu rudern. Doch schließlich gelang es, und die Freunde trugen den noch immer bewußtlosen Seto an das noch schwach flackernde Feuer. Sie rieben seinen Körper und zogen ihm trockene Kleider über. Endlich kam wieder etwas Farbe in Setos Gesicht, und er schlug die Augen auf. Kamo war wie immer ungeduldig. Er wollte wissen, was Seto unter Wasser erlebt hatte: »Wie ist es gewesen?« »Ich habe den Krug dicht über dem Spalt zerschlagen. Es ging ziemlich schwer. War denn kein Petroleum an der Oberfläche zu sehen?« fragte Seto, noch immer zitternd und mit schwacher Stimme. »Nicht ein Fleckchen!« »Fein, dann hat der Strudel alles mitgerissen«, sagte Seto, nun schon ganz munter und vergnügt. Er lächelte sogar, und allmählich bekamen auch die Wangen ihre frische Farbe wieder. »Um ein Haar, und der Strudel hätte mich mitgerissen. Ein Glück nur, daß ich angebunden war und daß der Spalt sehr schmal ist. Meine Füße waren schon drin.« »Deswegen war es so schwer, dich rauszuziehen«, rief Grikor entsetzt. »Nun ist ja alles in Ordnung«, sagte Aschot Stepanowitsch. »Wenn Seto sich jetzt frisch genug fühlt, wollen wir aufbrechen. Es ist schon spät, und wir haben noch viel vor.« Sie stiegen schweigend die steinigen Pfade des Dali-Dagh hinab. Alle beschäftigte nur der eine Gedanke: War das Unternehmen gelungen? Wo würde das Petroleum wieder zum Vorschein kommen? Die unterirdische Reise des Petroleums Am Ufer des Gilli-Sees und an den kleineren Seen der Umgebung saßen schon seit mehreren Stunden Junge Pioniere und beobachteten angespannt die Wasserfläche, ohne sich von dem Gebrüll des ,Wassermanns’ einschüchtern zu lassen. Auch Aram Michailowitsch hatte sich beteiligt. Er saß am Ufer des Sees, in dessen Sumpf Kamo beinahe ertrunken wäre. Erbarmungslos brannte die Sonne herab, und ebenso erbarmungslos stachen Mücken und Fliegen. Die Jungen Pioniere warteten geduldig. Sie wußten, es ging darum, ob sich auf dem Wasser Spuren von Petroleum zeigten. Daher wandten sie kein Auge von der Wasserfläche. Ein paarmal ließen sich die Jungen durch ölige Flecken, die aufgetaucht waren, täuschen. Atschik, der besonders ungeduldig war, sprang jedesmal, wenn er einen solchen Fleck in der Sonne schimmern sah, aufgeregt von seinem Platz hoch und schrie: »Aram Michailowitsch! Petroleum, Petroleum!« Sein Freund Suren, der am gegenüberliegenden Ufer des kleinen Sees seinen Platz hatte, hörte diese Rufe. Er entdeckte ebenfalls ölige Flecke, schöpfte sie zusammen mit dem Wasser in die hohle Hand, kostete davon und spie es wieder aus. »Was du dir einbildest!« schrie er dem Kameraden zu. »Das ist doch kein Petroleum!« Aram Michailowitsch ließ sich durch solche Flecken nicht irreführen; er wußte, daß es sich um Absonderungen der verfaulenden Sumpfgewächse handelte. Doch nun sah der Lehrer plötzlich in der Mitte des kleinen Sees lange Fettflecke, die sich wie bläulich schimmernde Bänder über das Wasser zogen. Es war so weit ab, daß er nicht fest-stellen konnte, wovon sie herrührten. Aber gleich darauf wurde von allen Seiten gerufen: »Petroleum! Petroleum ist zu sehen!« »Hier auch!« »Und bei uns auch! « Mit einem Male wurde es um den See herum lebendig. Jetzt erst konnte man sehen, wie viele Kinder im Schilf gesessen hatten. Überall waren ihre Stimmen zu hören. Einer überschrie den anderen. Da griff Aram Michailowitsch ein: »Ruhe! Paßt auf... Füllt eure Gefäße mit dem Petroleumwasser! Ich komme es mir ansehen!« Aram Michailowitsch kroch durch das Schilf, und überall wurde er mit ungeduldigen Fragen bestürmt. Nur Gurgen Mirosjan hatte es wegen der Hitze und der Insektenplage nicht mehr ausgehalten und war ins Dorf zurückgekehrt. Er wußte nichts von dem Petroleum. Zur gleichen Zeit mit ihm kamen die müden Wanderer vom Dali-Dagh schweißtriefend im Dorfe an. Es war schon spät, als sie endlich, erhitzt und erschöpft, auf den Steinen neben Setos Haus Rast machten. Dort traf Gurgen, der vor den Mücken und der Hitze Reiß-aus genommen hatte, die jungen Leute. Als Gurgen Armjon sah, blieb er unschlüssig stehen. Kamo rief ihn heran und fragte: »Woher kommst du? Warst du am Gilli-See?« »Ja... « »Na und, was habt ihr gesehen?« »Gänse und Enten. . .«, stotterte der Junge. »Und das Wasser? Wie war das Wasser?« Der Junge schwieg. »Hat sich denn kein Petroleum auf dem Wasser gezeigt?« »Petroleum?... Habt ihr denn Petroleum hineingegossen?...« »Was glaubst du denn, warum man dich ans Ufer gesetzt hat? Ist dir nichts aufgetragen worden?« »Doch, auf das Wasser zu sehen... Das hab' ich auch gemacht.. . « Die Kinder lachten. Nur Armjon war enttäuscht. »Wir haben uns also geirrt. Es besteht wohl doch keine Verbindung zwischen den Seen... « Seto wurde verlegen. Sicher glaubten die Freunde nun, er sei schuld, daß sich auf dem Gilli-See kein Petroleum gezeigt hatte: »Ich hab' aber alles so gemacht, wie ihr's gesagt habt. Der Strudel hat das Petroleum mitgerissen, das weiß ich genau.« »Du bist nicht schuld, Seto«, beruhigte ihn Kamo. »Du hast getan, was du konntest. Wir haben uns eben geirrt — auch die Geologen. Das Wasser muß zum Kasach oder sonstwohin abfließen.« »Die Geologen brauchen sich nicht geirrt zu haben«, ent-gegnete Armjon. »Ihre Feststellung stimmt sicher: das Wasser aus dem See muß in der Richtung des Gilli-Sees fließen. Damit ist noch nicht gesagt, daß es unbedingt in den Gilli-See münden muß... Wichtig ist, daß es irgendwo unter unsern Feldern einen unterirdischen Abfluß hat.« »Was nutzt uns das? Wenn wir das unterirdische Flußbett nicht finden, dann können wir auch nichts mit dem Wasser anfangen...« Asmik und Grikor waren jetzt auch herangekommen, und gleich darauf kam auch Großvater Assatur. »Was gibt's Neues?« fragte Asmik, und als sie von dem Mißerfolg hörte und die niedergeschlagenen Mienen der Jungen sah, wurde auch sie recht betrübt. Sie hockten noch immer traurig und stumm da, als in der Ferne eine ganze Karawane von Kindern auftauchte. An der Spitze ging Aram Michailowitsch, die Jungen folgten ihm aufgeregt schwatzend. Kamo lief ihnen entgegen. Lächelnd zeigte der Lehrer auf die Becher, die die Jungen behutsam trugen, um nichts zu vergießen. »Doch Petroleum!« rief Kamo aufgeregt. Er packte einen der Becher, nahm einen winzigen Schluck, spuckte ihn sofort wieder aus und schrie vor Freude laut los: »Petroleum! Petroleum! . . . Los, Handwerkszeug holen, Spitzhacken, Brecheisen... Schnell, kommt mit.« Kamo griff nach einer Spitzhacke, die an der Hauswand lehnte, und stürmte den Pfad entlang, der zum Dali-Dagh hinaufführte. Armjon, Grikor und Seto nahmen sich ebenfalls Spaten und Spitzhacke. Alle Müdigkeit war verflogen. Sie eilten hinter Kamo her, den Berg hinauf. Auch Asmik und der Großvater Assatur ließen sich nicht zurückhalten. Als Sona die wilde Jagd die Schwarzen Felsen hinauf sah, schimpfte sie hinter den Kindern her: »Den Kopf verdreht hat man den Kindern! ... Seto«, schrie sie, »du kommst sofort nach Hause! Nach Hause, sag' ich dir!« Aber Seto war schon weit weg und hörte sie nicht mehr. Als Armjon sich umdrehte und Asmik erblickte, sagte er: »Weshalb kommst du mit, Asmik? Du bist doch müde - geh lieber nach Hause!« Asmik sah den Freund strahlend an: »Ich werde euch doch nicht im Stich lassen.. . Außerdem bin ich viel zu neugierig, was ihr jetzt machen werdet...« Wo soll gegraben werden? Hastig stiegen die Kinder den Berg hinauf. Ein und dieselbe Frage beschäftigte sie alle. Sie wußten nun, daß unterhalb der Abhänge, vielleicht unmittelbar unter ihren Füßen, ein unterirdischer Fluß aus dem Bergsee in den Gilli-See strömte. Wo aber dieser Fluß lag, wußten sie nicht. Sie eilten weiter, ohne ihr Ziel zu kennen, wie von einer unsichtbaren Hand geführt. Sie konnten doch jetzt nicht ruhig zu Hause sitzen, nachdem sie eben erst den seit Jahrhunderten verschwundenen Fluß wiedergefunden hatten - das verschwundene Glück ihres Dorfes?... Immer weiter stiegen sie, schweißbedeckt und müde. Endlich blieben sie schwer atmend stehen, und Armjon fragte: »Wohin wollen wir eigentlich?« Kamo ärgerte sich: »Auf den Berg natürlich... Nachgraben wollen wir!« »Gut und schön, aber wo wollen wir nachgraben?« »An welcher Stelle?« Kamo wurde verlegen. Bis jetzt hatte er geglaubt, die Feststellung, daß unter dem Dali-Dagh Wasser floß, genüge, um es auch zu finden. Jetzt aber begriff er, daß noch eine weitere Frage offen war: Wo sollte man nachgraben?. .. Die Abhänge des Dali-Dagh zogen sich in einer Breite von zwanzig bis dreißig Kilometern hin, während das Flußbett vielleicht nicht einmal einen ganzen Meter breit war. . . Wie sollten sie diese winzige Ader in einem so riesigen Berg finden? »Kinder! Kehren wir lieber wieder um!« schlug der Großvater vor und stopfte seine Pfeife. »Wir wollen uns erst mal Rat holen. . . « Es blieb nichts anderes übrig, als den Vorschlag des Großvaters zu befolgen. Ins Dorf zurückgekehrt, gingen die Kinder erst einmal zum Kolchosvorsitzenden Bagrat und erzählten ihm ihre Erlebnisse. Bagrat freute sich, daß sie zu ihm gekommen waren. »Ihr habt also Wasser gefunden, das heißt nicht gefunden, sondern festgestellt, daß es da ist? Jetzt muß die Suche richtig organisiert werden.« Bagrat dachte nach. Dann wandte er sich an die im Zimmer anwesenden Kolchosmitglieder: »Was sagt ihr dazu? Kamo und seine Freunde haben eine ungeheure Entdeckung gemacht: Sie haben das vor langer Zeit verschwundene Wasser gefunden, sie haben festgestellt, daß es irgendwo unter unseren Feldern ein Flußbett geben muß. Sie wissen aber nicht, wo es liegt. Was ist da zu tun?« Kamos Vater meinte, man müsse auf dem Dali-Dagh nachgraben. »Was sollen wir sonst tun? Wir können doch nicht die Hände in den Schoß legen!« »Du hast recht, Samson. Laß dir alle vorhandenen Spitzhacken, Spaten und sonstigen Werkzeuge in die Schmiede bringen und sorge dafür, daß alles in Ordnung ist. Auftrag für die Gruppenführer: Von jeder Gruppe vier Mann absondern! Morgen früh um fünf Uhr seid ihr alle hier vor der Verwaltung... Ist es recht so, Kamo?« Kamo trat verlegen an den Tisch des Vorsitzenden heran: »Onkel Bagrat«, stotterte er, »ich glaube, Armjon, Seto, Grikor und meine anderen Kameraden sind mit mir einig... Wir möchten die von uns angefangene Arbeit auch selber beenden. Das ist eine Frage der Ehre, nicht nur für uns allein, sondern für unsere Jugendorganisation.« Bagrat zog zwar die Brauen hoch, erklärte sich aber schließlich doch einverstanden. »Wie ihr wollt«, sagte er, »geht selbst auf die Suche. Wenn es nötig wird, werden wir euch helfen.« Nun eilten die jungen Leute zu Aram Michailowitsch. Er hörte sie an und sagte: »Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, welchen Weg das vom Berg abfließende Wasser nimmt und wo man es abfangen kann. Dann müssen wir einen Ausgang dafür schaffen. Da sind ja auch die Geologen, die werden uns dabei unterstützen... « Aschot Stepanowitsch lachte über das ganze Gesicht. »Ihre Schüler sind tüchtige Kerle, das muß man ihnen lassen.« Er hatte sich diese Meinung schon lange gebildet und freute sich nun, daß er sie dem Lehrer sagen konnte. Nun folgte eine lange Unterredung zwischen Aram Michailowitsch und den beiden Geologen. Man beriet hin und her, was zu tun sei. »Ich glaube, die Höhle, die im Volksmund ,Höllenpforte' heißt, muß zuerst untersucht werden«, schlug Aschot Stepanowitsch vor. »Dieser Ansicht bin ich auch«, stimmte Aram Michailowitsch zu. »Höre, Aram«, mischte sich Großvater Assatur in das Gespräch, »es ist nicht recht von euch, daß ihr die Kinder gerade dorthin schicken wollt. An der Höhle ist es nicht geheuer.« »Wenn es gefährlich wäre, Großväterchen«, erwiderte der Lehrer, »würden wir sie nicht hinschicken.« Der Alte fügte sich schweigend. Seit dem Tage, an dem sie das Bett des alten Kanals gefunden hatten, war Aram Michailowitsch für ihn eine Autorität geworden, der man nicht wider-sprechen durfte. Der Lehrer aber fuhr fort: »Wir brauchen eine vollständige Gebirgsausrüstung. In die Höhle zu gelangen, ist nicht schwer — von der Bergspitze bis hinunter zu ihr sind es höchstens zehn Meter. Habt ihr euch denn die ,Höllenpforte' genau angesehen?« fragte Aram Michailowitsch. »Dazu hatten wir noch keine Zeit«, sagte Grikor. Und zu den Kameraden gewandt, fügte er leise hinzu: »Wir hatten zu viel mit dem Honig zu tun.« Asmik prustete los und wurde rot. Kamo schwieg verlegen. Armjon aber sagte: »Ich habe sie mir genau angesehen und habe auch schon darüber nachgedacht, aber...«, er zögerte. »Ich wußte, daß dir nichts entgehen würde«, sagte Aram Michailowitsch und strich Armjon über das Haar. »Was sollte uns denn auffallen?« fragte Kamo. Und wieder war er voller Neid gegen Armjon, der so klug war und so vieles merkte, was anderen und auch ihm entgangen war. »Darüber werden wir sprechen, wenn wir die Höhle untersucht haben«, antwortete der Lehrer und lächelte Armjon zu. »Dein Gewehr wirst du doch mitnehmen, Großväterchen?« wollte Grikor wissen. »Ich habe beim letztenmal auf den Schwarzen Felsen Rehböcke gesehen. Am Spieß gebraten, schmecken die auch nicht schlecht.« »Ein Jäger ohne sein Gewehr — das wäre mir das rechte«, meinte der Großvater. Aschot Stepanowitsch verabschiedete sich: »Bis morgen früh also!« Und Kamo sagte zu seinen Freunden: »Wir wollen uns zeitig bei mir treffen. — Jetzt müssen wir schlafen gehen, morgen gibt es viel Arbeit.« Auf dem Heimweg sagte der Großvater zu seinem Enkel: »Ich werde Großmutter Nargis sagen, sie soll uns ein gutes Stück Hammelfleisch kochen und es in Lawasch[14 - Lawasch = ungesäuerter, dünn ausgerollter Brotteig.] einwickeln. Wir werden es mitnehmen und es uns bei den Schwarzen Felsen gut schmecken lassen.« An der Höllenpforte ' Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, hatten Kamo und seine Freunde bereits die alte Eiche bei den schwarzen Felsen erreicht. Hier machten sie halt und ruhten sich aus. »Unsere Vorfahren sind in jedem Herbst zu diesen Felsen gewandert und haben Opfergaben mitgenommen«, erzählte der Großvater. »Da drüben, das schwarze Loch, das ist ja schon die .Höllenpforte’. Dahinein ist noch nie jemand gegangen... Nur ein einziges Mal hat mein Gevatter Mukel all seinen Mut zusammengenommen und hat sich in diesen Teufelsschlund hineingewagt. Die Kälte ist ihm entgegengeschlagen wie aus einem Grab, hat er gesagt. In seinem Kopfe drehte sich alles ... Irgendwo in der Tiefe zischte und brodelte es. Da hat ihn das Entsetzen gepackt. Wie er wieder rausgekommen ist, wußte er selbst nicht. ,Ganz gewiß', sagte er, ,kocht dort der Satan in seinem großen Kessel die Seelen der Sünder: er hat die Ärmel aufgekrempelt und wirft einen nach dem anderen hinein...’ Ihr Stöhnen wird es wohl auch gewesen sein, was mein Gevatter Mukel gehört hat... « Der Alte sog einige Male an seiner Pfeife und hüllte sich in graue Rauchwolken. Kamo lächelte: »Großväterchen, erzähle Asmik noch mehr davon. Wir wollen jetzt an die Arbeit gehen.« »Gott sei mit euch!« sagte der Alte und bekreuzigte sich. »Ich würde es nicht erlauben, aber wenn der Lehrer es zuläßt... Er muß ja wissen, was er tut - er ist ein kluger Mensch. Vielleicht ist es auch gar nicht die Hölle?« Zu Asmik gewandt, fuhr der Alte fort: »Auf dem Tschantschakar waren ja auch keine bösen Geister. Wer will wissen, was in dem Berg so zischt und rauscht. Ich denke immer:  Sicher ist es das Herz des Dali-Dagh, das dort schlägt, und das Blut des Berges, das durch seine Adern fließt. Hat denn der Dali-Dagh kein Leben? Hat er nicht schon oft über die Menschen gezürnt und mit Donnern und Krachen Feuer und Rauch ausgespien? Was denkst du darüber, Töchterchen? Gibt es vielleicht gar keine Hölle?« Asmik konnte sich das Lachen kaum verbeißen. Der Großvater aber war ganz ernst und machte ein nachdenkliches Gesicht. Für ihn war das offensichtlich keine ganz einfache Frage. »Wie kann es denn eine Hölle geben, Großväterchen? Sprichst du im Ernst?... Komm, wir wollen lieber von hier weggehen, es fängt an zu regnen — sieh mal, was für Wolken aufziehen! Stellen wir uns lieber unter den Felsvorsprung, der Baum bietet nicht genug Schutz.« Leise rauschte der Regen auf das Blätterdach. Der Alte setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm. Nachdenklich sog er an seiner längst ausgegangenen Pfeife. Durch das Blätterdach sickerte der Regen, und dicke Tropfen schlugen sanft auf die Steine und wurden rasch von der ausgedörrten Erde aufgesogen. »Komm, Großväterchen! Wir werden ganz naß! Komm hier weg«, drängte Asmik. »Laß mich noch ein wenig sitzen, Asmik! Wie viele Jahre ist es her, daß ich im Regen unter einem Baum gesessen habe... Was meinst du - ob in der Höhle Wasser ist?...« wollte der Alte das unterbrochene Gespräch fortsetzen, als ganz in der Nähe ein Blitz herabzuckte. Im gleichen Augenblick krachte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. »Na ja!« rief der Großvater erschrocken, »beim Gewitter ist es gefährlich unter einem Baum, und noch dazu unter einer Eiche«, und er eilte hinter Asmik her, die schon unter dem Felsvorsprung Schutz gesucht hatte. Gleichzeitig mit dem Donnerschlag krachte es über ihnen in der ,Höllenpforte', und kurz darauf noch ein zweites Mal. Die vom Schwarzen Meer heranziehenden Gewitterwolken hatten sich über dem Sewan zusammengezogen. Düster und schwer hingen sie wie ein dunkler, undurchdringlicher Schleier über dem Wasser. Wie aufgeregt flatternde Möwen sahen die weißen Schaumkronen der Wellen aus, die der Wind vor sich hertrieb. Angenehme Kühle verdrängte die Hitze des Tages, und die in der erbarmungslosen Sonnenglut erschlafften Pflanzen lebten wieder auf. »Regen! Endlich Regen!« riefen sich die Kolchosbauern auf den Feldern zu. »Wenn er sich doch nur über die durstenden, verdorrenden Felder ergießen wollte!« Die Mähmaschinen auf den Uferwiesen des Gilli-Sees blieben stehen. Der Gruppenführer Owsep hatte befohlen, das Mähen einzustellen. »Sonst verdirbt der Regen das Gras«, schrie er. »Warten wir, bis er vorüber ist!« Dann fragte er: »Werden wir das Heu, das schon trocken ist, vor dem Regen noch in Sicherheit bringen?« »Warum erst lange fragen, das kostet nur Zeit!« rief ein junger Kolchosarbeiter. »Los, Kameraden, hurtig! « Und alle griffen nach Rechen und Gabeln. Während das Heu eilig zusammengeharkt wurde, warfen die Frauen immer wieder einen Blick zum Himmel hinauf. Daß der Regen sie selber oder das Heu durchnässen konnte, machte ihnen keine Sorge. Sie würden schon wieder trocken werden und das Heu ebenfalls. Wenn nur die Wolken sich nicht verzogen! Wenn der Regen nur nicht über dem See niederging und die Felder von Litschk bekamen nichts ab von dem nassen Segen! Noch war keine Viertelstunde vergangen, da standen die Uferwiesen voller Heuhaufen. Doch auch das Gewitter entlud sich, wie fast alle, über dem Sewan. Die Wolken brachten ihre kostbare Last nicht bis zu den Feldern des Dorfes Litschk, sondern luden sie über dem See ab... »Weitermähen!« rief der Gruppenführer Owsep mißmutig. Ratternd setzten sich die Mähmaschinen in Bewegung. Die Mäher schwangen ihre Sensen, und das geschnittene Gras bedeckte in langen dunklen Reihen die Uferwiesen. In den Bergen krachte der Donner, und das Echo vermischte sich mit den Sprengungen im Inneren der Schwarzen Felsen. »Wasser, Wasser!« Von unten an die Höhle heranzukommen erwies sich als unmöglich. Wie bei der Besteigung des Tschantschakar mußten die jungen Forscher den Gipfel der Schwarzen Felsen von der Rückseite her erklimmen. Von oben war der vorgeschobene Felsenrand vor der Höhle gut zu sehen. Er war glatt und glänzend, als sei er poliert worden. Von hier fiel der Berg nicht sehr steil ab, und wenn man sich an den vorspringenden Fels-kanten festhielt, konnte man bis zur Höhle hinuntersteigen. Auf diese Weise war, wie der Großvater erzählt hatte, sein Gevatter Mukel zu dem Eingang gelangt. Noch leichter war es jedoch, mit Hilfe einer Strickleiter nach unten zu kommen. Nachdem die Freunde das Ende der Strickleiter sorgfältig an einem Felsblock befestigt hatten, ließen sie sie nach unten gleiten. Als erster stieg Kamo hinab. An dem glatten, vorspringenden Rand der Höhle angelangt, blieb er stehen und sah sich um. Unterhalb des Höhleneingangs fiel die Felswand steil in die Tiefe ab, und vor ihm gähnte ein schwindelerregender Abgrund. Armjon, Grikor und Seto kletterten hinter Kamo her. Als letzter folgte Aschot Stepanowitsch. Feuchte, kalte Luft schlug ihnen am Höhleneingang entgegen und ließ sie fröstelnd zusammenschauern. Aus der Tiefe drangen dumpfe, klagende Laute zu ihnen empor. Armjon und Seto nahmen ihre Taschenlampen zur Hand. Die dünnen Lichtstrahlen huschten über feuchte Wände und in finstere Winkel. Die Höhle war sehr breit und offenbar ziemlich tief. »Leuchte doch mal!« bat Kamo und bückte sich; er hob das Gerippe eines kleinen Fisches auf. »Ein Fisch?« staunte Armjon. »Laß sehen!« Beim Schein der Taschenlampe betrachteten die Jungen aufmerksam ihren Fund. Das Gerippe, das schon sehr lange Zeit auf einem trockenen Stein mitten in der Höhle gelegen haben mochte, war gut erhalten und fast unversehrt. »Ist es denn möglich, daß hier einmal das Meer gewesen ist«, sagte Kamo. Armjon sah den Geologen fragend an. »Nein, die Schwarzen Felsen bestehen aus Granit«, antwortete Aschot Stepanowitsch, »und Granit bildet sich nicht im Meer... Mit dem Fisch muß es eine andere Bewandtnis haben...« Der junge Geologe hatte eine frohe und sehr zuversichtliche Stimme, als er dies sagte. Sie kehrten zum Ausgang der Höhle zurück und blieben, vom grellen Tageslicht geblendet, eine Weile stehen. »Wie glatt poliert der Stein ist«, meinte der Geologe, indem er nachdenklich auf den steil abfallenden Felsen blickte. »Das ist mir sofort aufgefallen«, sagte Armjon, »und darauf stützen sich ja auch alle meine Hoffnungen.« Er blickte den Geologen fragend an. »Du bist auf dem richtigen Weg... Kannst du mir denn auch erklären, was das bedeutet?« »Ja, gewiß. Und das kleine Fischskelett bestätigt, daß meine Vermutungen richtig sind«, sagte Armjon, ohne zu zögern. »Es besteht keinerlei Zweifel mehr, wir können ohne Bedenken vorgehen«, sagte Aschot Stepanowitsch. »Hat denn dieses Fischchen irgend etwas mit der Glätte des Felsens zu tun?« fragte Kamo zweifelnd. »Unbedingt hat es das. Beide haben die gleiche Ursache.« Diese geheimnisvollen und ihm ganz unverständlichen orte des Geologen steigerten Kamos Ungeduld noch. Arinjon, der merkte, wie neugierig Kamo war, sagte: »Weißt du, was Aram Michailowitsch und auch ich ganz fest glauben?« »Was denn?« wollte Kamo wissen. Kamo war wirklich ein bißchen neidisch und bekümmert, denn Armjon wußte immer mehr als er! »Sieh mal da runter!« Kamo blickte hinab. »Was siehst du da?« »Einen Abgrund.« »Kannst du die schmale Rinne sehen, die sich hier von der Höhle bis in den Abgrund hinabzieht?« »Du hast recht, als ob sie eingeschnitten wäre...« »Versuche mal, Granit zu schneiden!« »Das kann nur Wasser gemacht haben«, rief Kamo. Und seine Freude war so ungestüm, daß er Armjon aufhob, ihn in die Luft warf und wieder auffing wie ein kleines Kind. »Wie ist denn dann aber der Fisch in die Höhle gekommen?« »Der Fisch konnte nicht in der Höhle leben, er hätte hier nichts zu fressen gehabt. Guck dir mal das Gerippe an. Es stammt doch von einer Forelle, nicht wahr, Aschot Stepanowitsch?« fragte Armjon. Der Geologe nickte. Er war offensichtlich mit dem Jungen sehr zufrieden. Armjon fuhr fort: »Forellen halten sich aber nur in Gebirgsflüssen auf. Sieh dir das an, außer der Wirbelsäule und den Seitenrippen hat sie keine Gräten, und das Maul ist breit. .. Es ist genauso eine Forelle, wie wir sie gestern in dem Bergsee auf dem Dali-Dagh gesehen haben... « Kamo schrie auf. »Das bedeutet... « »Das bedeutet, daß wir das frühere Bett des Flusses gefunden haben, der aus dem Bergsee kommt. Das Fischchen ist von der Strömung mitgerissen worden. Das muß kurz vor dem Erdbeben gewesen sein. Der Fluß ist früher hier entlanggeflossen, aber das Erdbeben hat das Flußbett verändert. Der Felsen ist im Innern gespalten, hat dem Fluß den Weg versperrt und ihn in eine andere Richtung gedrängt. Wie er jetzt fließt, wissen wir noch nicht. Was muß das hier für ein Wasserfall gewesen sein!... Ist dir jetzt auch klar, weshalb die Ziegen sich hier gern aufhalten? An heißen Tagen lockt sie das Rauschen des unterirdisch strömenden Flusses an.« Kamo und Armjon kehrten wieder in die Höhle zurück. Ihren strahlenden Gesichtern war anzusehen, daß sie allesamt über ihre Entdeckungen sehr glücklich waren. Auch Aschot Stepanowitsch, der ihnen folgte, konnte seine Freude kaum verbergen. Der Geologe unterzog jetzt die Höhle einer sehr genauen Untersuchung. Er drang bis in die Tiefe vor, kam wieder zurück und klopfte bald hier, bald dort mit seinem Hämmerchen an die Wände. Schließlich sagte er zu den ungeduldig wartenden Jungen: »Hier wollen wir durchbrechen.« Seto machte sich an die Arbeit. Er hieb auf die Wand ein, als wolle er den ganzen Dali-Dagh zertrümmern. Kamo rief aufgeregt: »Armjon, leuchte doch mal! Grikor, schaufle die Steine beiseite! Seto, laß mich jetzt mal!« Und er nahm dem Freund die schwere Spitzhacke aus der Hand. Grikor säuberte das kleine im Felsen ausgehauene Loch sorgfältig vom Geröll und kratzte es auf einer flachen Steinplatte zu einem Häufchen zusammen. »Wenig«, sagte er. »Mein Berg ist nicht größer als eine Faust. « »Erst wenn er so groß ist wie ein Kinderkopf, können wir den Sprengstoff in das Loch legen«, erklärte Aschot Stepanowitsch. Kamo, der immer Ungeduldige, war diesmal kaum zu halten. Mit Feuereifer führte er Schlag auf Schlag gegen den Felsen. Er war förmlich in Schweiß gebadet. »Warte mal«, sagte Grikor, »weshalb quälst du dich unnötig. Zu allem gehört Übung«, fügte er belehrend hinzu. »So mußt du hauen - ruhig, ohne Hast. Mit Gewalt ist dem Stein nicht beizukomrnen.« Als die Kolchosmolkerei gebaut wurde, hatte Grikor eine Zeitlang im Steinbruch gearbeitet. Er nahm Kamo die Spitzhacke ab und ließ sie, ohne Anstrengung und Hast, in gemessenen Schlägen auf den Stein niedersausen. Das Häufchen der Steinsplitter auf der flachen Steinplatte wuchs schnell an, und die Spitzhacke war schon zwei Fußbreit in den Felsen eingedrungen. »Hast du's gesehen? So wird's gemacht!« sagte Grikor stolz. Dann rief er: »Seto, jetzt bist du dran; kratze das Sprengloch aus. Gleich werden wir es knallen lassen.« Grikor nahm alles, was für die Sprengung gebraucht wurde, aus seinem Rucksack und legte es auf den Boden. Dann wandte er sich an Kamo: »Jetzt paß genau auf, Kamo! Hier, dieses körnige Pulver ist Sprengstoff. Schütte ihn in das Loch. So — gut! Jetzt nehmen wir diese schwarze Schnur — das ist die Zündschnur. Und dies hier ist die Kapsel. Ein Ende der Zündschnur wird in die Kapsel gelegt, und das ganze wird im Sprengstoff vergraben... So ist's richtig. Hilf mir jetzt, die Steinsplitter aufzusammeln. Wir schütten damit das Loch wieder zu und klopfen sie mit dem stumpfen Ende der Spitzhacke gut fest. Das Ende der Zündschnur bleibt draußen.« »Du hältst ja richtige Vorträge!« Grikor war nicht wiederzuerkennen... Er erteilte Anordnungen, und Kamo und Seto gehorchten ihm widerspruchslos. »So, fertig... Jetzt ist alles in Ordnung«, sagte Aschot Stepanowitsch. »Grikor, zieh das Ende der Zündschnur heraus!« Aschot Stepanowitsch sah sich alles noch einmal genau an und sagte dann: »Alle weg von hier! Gleich zünde ich an.« Er steckte ein Streichholz in Brand und hielt es an die Zündschnur. Man hörte ein leises Knistern, eine kleine blaue Flamme flackerte und kletterte an der Zündschnur entlang zu der im Felsen vergrabenen Kapsel. Aschot Stepanowitsch war den Jungen nachgeeilt. Sie suchten in einer benachbarten Höhle Schutz und drückten sich gegen die Wand. Wenige Sekunden später krachte eine ohrenbetäubende Explosion. Der Felsen bebte, und schwefliger Geruch erfüllte die Luft. Als sich die Rauch- und Staubwolken verzogen hatten, ging Aschot Stepanowitsch als erster in die Höhle zurück. Der ätzende Gesteinsstaub und der scharfe Geruch des Sprengstoffes erschwerten das Atmen. Im schwachen Lichtkegel der Taschenlampe arbeiteten sich die Jungen hinter dem Geologen her zu der Stelle hin, an der sie die Ladung angebracht hatten. Gesteinsbrocken in allen Größen bedeckten in weitem Umkreis den Boden. An der Stelle der Explosion selbst war ein metertiefes Loch im Felsen entstanden. Der Steinboden vibrierte, als arbeite unter ihm eine riesige Maschine. »Nun, gelehrter Freund, was kann das deiner Ansicht nach sein?« wollte Grikor von Armjon wissen. »Brodelt der Kessel in der Hölle, oder rauscht Wasser?« »Da wir nichts vom Vorhandensein einer Hölle wissen«, sagte Armjon und lachte, »ist wohl anzunehmen, daß unter uns irgendwo Wasser rauscht.« Kamo fragte aufgeregt: »Wasser? Wirklich Wasser? Und das sagst du so ruhig? Seto, gib mir schnell die Spitzhacke.« Eine ungestüme Freude erfüllte ihn. In fieberhafter Erregung machte er sich daran, das durch die Explosion entstandene Loch weiter aufzuhacken. »Hör doch auf, Kamo«, rief Grikor ärgerlich, »ich will mal horchen. « Grikor kniete nieder und legte sein Ohr an einen großen flachen Stein. »Es klingt wirklich wie Wasser! Es rauscht wie richtiges Wasser — es gluckst, plätschert, brodelt, sprudelt! ... Wasser, du mein liebes Wässerchen, wir werden dich aus deinem Kerker befreien, du sollst ans Tageslicht kommen!... Seto, was stehst du da und sperrst Mund und Nase auf? Freu dich doch! « Grikor stürmte, so schnell es mit seinem kaputten Bein ging, ins Freie, hüpfte dicht an den Rand des Abgrunds heran und schrie in die Schlucht hinab: »Wir haben Wasser gefunden!« Er stülpte seine Pelzmütze auf einen Stock und schwenkte ihn aufgeregt in der Luft, wie er es auch machte, wenn er die verstreuten Kälber auf der Wiese zusammentrieb. Auch Kamo lief an den Abgrund und schrie wie besessen: »Großväterchen, Wasser! Wasser! Ganz in der Nähe! Der Kanal! Wir haben ihn gefunden!« »Was wollt ihr jetzt machen?« rief der Großvater zurück. »Was kann ich tun? Soll ich euch vielleicht helfen?« Er hatte die Hölle und seine Angst davor offenbar ganz vergessen. »Nein, Großväterchen, wir haben keine Sprengkapseln mehr. Wir kommen erst mal runter.« Kamo war ganz betrübt. »Wie schade, daß wir keine Kapseln mehr haben! Was hätte das wieder für ein Krachen gegeben! Das ganze Dorf wäre angelaufen gekommen... Nun müssen wir warten.« Sie kletterten an der Strickleiter zur Bergspitze hinauf und stiegen von dort in die Schlucht hinab. Kamo war schon bis an die Eiche gekommen, als hinter ihm Asmiks fröhliche Stimme ertönte: »Hier, Hier! Wir haben uns vor dem Regen verkrochen!« Leichtfüßig sprang sie den Freunden entgegen. In diesem Augenblick krachte ein Donnerschlag von solcher Heftigkeit, als hätte der Blitz den ganzen Berg auseinander-gesprengt. Asmik hatte sich vor Schreck auf die Erde geworfen, und auch Armjon, Grikor und Seto duckten sich. Kamo wurde wie von einer unsichtbaren Gewalt durch den Luftdruck hoch-gehoben. Er schwenkte die Arme und fiel der Länge nach hin. Die vom Blitz getroffene Eiche loderte auf wie eine Riesenfackel. Der alte Jäger kroch entsetzt hinter der Felswand vor. Als er die am Boden liegenden Kinder sah, schwenkte er verzweifelt die Arme und schrie: »0 Satael[15 - Satael = Teufel]! о Gott der Hölle! Wie soll ich vor die Mütter und Väter dieser Kinder treten? Oh, du grausamer, herzloser Satan! « Asmik machte den Mund abwechselnd auf und zu, wie ein aufs Trockne geworfenes Fischlein. Sie erholte sich rasch von ihrem Schrecken und stand schwankend auf. Seto und Grikor kamen ebenfalls zu sich, und bald darauf auch Kamo. Erschrocken und verstört guckten sich die Kinder um. Sie blickten in das ängstlich verzerrte Gesicht des Großvaters und auf den brennenden Baum... Als erster fand Grikor die Sprache wieder.  »Beinah' war's aus mit uns, und noch bevor wir das Wasser gefunden haben«, rief er und lachte schon wieder. » Kommt, Kinderchen, kommt! « drängte der Großvater. Auf dem Wege ins Dorf zurück fragte der Alte: »Glaubt ihr immer noch nicht, daß es der Teufel war, der euch niedergeschlagen hat?« »Wie könnten wir denn jetzt am Leben sein, wenn uns der Teufel niedergeschlagen hätte?« sagte Kamo und lächelte. Der Großvater sah seinen Enkel zweifelnd an. Er konnte von den alten abergläubischen Vorstellungen nicht loskommen. »Und der Baum? Hat er nicht den Baum zerschmettert?« »Es gibt ja gar keinen Teuf ei«, sagte Armjon. »Den Baum hat der Blitz getroffen. Und der Kupferkrug hat den Blitz angezogen. « »Mag sein«, sagte der Großvater und rieb sich nachdenklich den Nacken. »Der verstorbene Simon, Mukels Vater, ist im Gewitter mit einem Spaten über der Schulter gegangen, da hat ihn auch der Blitz getroffen. Er war gleich tot. .. Ihr meint also, es gibt gar keinen Teufel?« Der Großvater zeigte auf einmal eine so überschwengliche Freude, als sei ihm die ganze Welt zum Geschenk gemacht worden. »Es hätte aber schlimm ausgehen können«, sagte Kamo. »Wenn wir nur einen Augenblick später gekommen wären, hätten wir gerade bei der Eiche gestanden. Dann hätte uns der Blitz wahrscheinlich getötet, und dem armen Aram Michailowitsch wäre es schwergefallen, Tante Sona und den Alten im Dorf klarzumachen, daß es nicht der Teufel gewesen ist, der uns niedergeschlagen hat.« »Dreht euch mal um, sieht das nicht herrlich aus?« rief Armjon. Die Kinder blieben stehen und blickten zurück. Wie eine gigantische Fackel loderte am Fuße des Tschantschakar die vom Blitz zerschmetterte Eiche, und eine dicke schwarze Rauchwolke stieg zum Himmel empor. Die Rache des »Teufels« Schon in den Morgenstunden war im Dorfe bekanntgeworden, daß Kamo und seine Freunde zu den Schwarzen Felsen gezogen waren. Bagrat hatte lachend zu den Kolchosarbeitern gesagt: »Unsere Jungpioniere haben Spitzhacken genommen und wollen dem ,Drachen' zu Leibe gehen. Er soll das verschwundene Wasser rausrücken.« Tante Sona stand auf dem Dach ihres Hauses und schrie: »Dein ganzes Geschlecht soll vom Erdboden verschwinden, Assatur, du alter Narr! Was lockst du meinen Sohn in den Schlund der Hölle? Daß dich der Teufel hole! Daß dich. . .« Die auf der Straße stehenden Kinder stellten sich Seto im ,Schlund der Hölle' vor und lachten laut, wodurch sie die erzürnte Sona aber nur noch mehr aufbrachten. Der Rechnungsführer Mesrop nestelte an seiner Gebetschnur und flüsterte den alten Weibern zu: »Seht euch nur die Wolken an... Es ist nicht möglich, daß der Satan diese Vagabunden unbestraft läßt!...« Die Dorfbewohner sahen, daß eine riesige schwarze Wolkenwand langsam im Westen aufstieg. Das finstere Gewölk ballte sich über den Schwarzen Felsen zusammen. Die erste Explosion im Innern des Felsens wurde von einem Donnerschlag übertönt. »Über den Schwarzen Felsen blitzt und donnert es!« schrie Sona und schwenkte ihre knochigen Arme in der Luft. »Woher kommen an einem so sonnenklaren Tag die schwarzen Wolken? Der Drache rächt sich! Wütend ist er geworden, der Satan in der Hölle... Mit einem brennenden Knüppel bedroht er meinen Sohn! « »Hör doch auf mit deinem Gekrächze«, rief ihr der Schmied Samson zu. Der ehemalige Pope Mesrop, der sich bisher noch zurückgehalten hatte, rief jetzt mit schallender Stimme: »Tut Buße, ihr Leute! Groß sind unsere Sünden! ... Unglück haben diese Jungpioniere über uns gebracht... Opfert, opfert! Seit wie vielen Jahren habt ihr keine Opfer gebracht!« redete er auf die Alten ein, die sich vor der Kolchosverwaltung angesammelt hatten. Der Schmied hielt dem ehemaligen Priester seine schwere Faust dicht unter die Nase. »Ich sag' ja nichts ...«, stammelte Mesrop und schwieg erschrocken. »Was geht es mich auch an. . . « Doch nun zuckte abermals ein Blitz über den Schwarzen Felsen herab, und ein gewaltiger Donnerschlag erschütterte die Luft. »Feuer, ihr Leute, seht doch!« wehklagte Sona. »Die Hölle hat sich aufgetan! Gott ist gegen uns, und die Hölle auch... Das ist die Rache Sataels! Seto, wo ist mein Seto? Der böse Geist hat ihn umgebracht! « Sona kletterte von ihrem Dach herunter und lief zum Dorf hinaus und den Pfad entlang, der zu den Schwarzen Felsen führte. Die allgemeine Aufregung hatte auch Kamos Mutter angesteckt. »Samson«, sagte sie, »unser Junge kommt da oben vielleicht wirklich ums Leben... Beeil dich doch! Hilf ihm...« Der Schmied Samson, ein von Natur ruhiger und besonnener Mann, sprang, als er die Rauchwolke und die Flammen über den Schwarzen Felsen sah, gleichfalls auf und stürmte, so wie er war, in seinem Lederschurz und ohne Mütze, hinter Sona her. Die Donnerschläge und die über dem Felsen aufsteigende Rauchwolke beunruhigten auch ihn. Grikors und Asmiks Mutter liefen hinterdrein, und hinter ihnen her kamen auch die anderen Frauen gelaufen. Als letzte kam ein kleines Mütterchen aus dem Dorf heraus und trippelte mit hastigen Schritten den übrigen nach. Es war die alte Nargis. »Himmlische Mächte«, flüsterte sie, »himmlische Mächte, nehmt meinen armen Assatur in euren Schutz!« Wie groß aber waren das Erstaunen und die Freude der alten Nargis, der zänkischen Sona und des Schmiedes Samson, als ihnen an einer Wegkrümmung alle Totgeglaubten fröhlich singend entgegenkamen! Auf den vergnügten Gesichtern der jungen Leute war keine Spur irgendwelcher überstandener Schrecknisse zu sehen. Nargis fiel ihrem Alten um den Hals, die Mütter umarmten ihre Kinder. Fragen und Antworten schwirrten durcheinander. »Es hat ja gedröhnt wie bei mir in der Schmiede!« rief Samson fröhlich. »Was war denn eigentlich los?« »Wie sollte es nicht dröhnen?« antwortete Grikor und zwinkerte den Freunden zu. »Wir haben mit den Teufeln gekämpft. Dynamit haben wir ihnen unter die Hölle gelegt. Das hat sie schrecklich geärgert. Sie konnten mit den Jungpionieren nicht fertig werden. Da haben sie sich eben an dem Baum gerächt.« »Der arme Baum!« »Hat es denn bei euch nicht geregnet?« »Wieso nicht? Gewiß hat es geregnet, über dem Wasser und über den Felsen.« Da mischte sich Sona ein: »Die Jungen sind ja blind. Mit meinen eigenen Augen hab' ich gesehen, wie der Satan in den Baum gefahren ist... Sie lügen.« Seto errötete bis in die Haarwurzeln; er schrie die Mutter an: »Bin ich denn nicht heil und gesund zurückgekommen? Ist dir das immer noch nicht genug?« Da schwieg auch Sona beschämt. Als sich die Kolchosmitglieder überzeugt hatten, daß niemand zu Schaden gekommen war, beruhigten sie sich und gingen auseinander. Die Nacht brach an. Noch immer brannte die große Eiche am Fuß des Tschantschakar und leuchtete grell wie eine Riesen-fackel in die Nacht hinein. Der alte Jäger Assatur fand keinen Schlaf. Er war noch nie so aufgeregt gewesen wie in dieser Nacht. »Sag, Frau, was sind wohl solche Menschen wie du und ich wert?« fragte er seine Alte. Sie sah ihn verständnislos an. Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten, in den Stall. Die alte Nargis sah ihm kopfschüttelnd nach: Was ist mit ihm? dachte sie; ist er närrisch geworden? Der Alte hatte sich in einen Stallwinkel gesetzt und redete mit sich selbst. »Hat sich je einer deiner Vorväter einen Archaluk für unreines Geld gekauft — wie du ihn kaufen willst? Hat sich deine Mutter ein Kleid für unreines Geld gekauft — wie du es deiner Frau kaufen willst? Hat denn jemand am Ende seines Weges unreines Geld in der Tasche gehabt — wie du es hast?« fragte er sich, von Gewissensbissen gepeinigt. Er verfluchte den Schatz des Fürsten Artak, über den er sich zuerst so gefreut hatte und der ihm jetzt solchen Kummer bereitete. Er kam sich vor wie gefangen. »Verflucht soll er sein, der Schatz! Hat mich schon genug gequält... Ich werde ihn abliefern«, beschloß er, »vielleicht wird mir dann wieder leichter ums Herz.« Als er dann seinen Schatz hervorholte, wurde es ihm schwarz vor Augen, und während er seine Hände in den Sack steckte und die Goldsachen und Edelsteine herausnahm und betrachtete, wurde er doch wieder recht wankelmütig. »Ich sehe — und traue meinen Augen nicht... Ein Schatz, ein richtiger Schatz«, wiederholte er und ließ die schweren goldenen Ketten durch seine Finger gleiten. Die Edelsteine funkelten und glänzten im Schein der trüben Petroleumlampe. Der Großvater sah sich ängstlich um; er nahm ein prächtiges Armband aus schwerem Gold aus dem Sack und hielt es ans Licht. »Das alles gehört mir! Dieser fürstliche Reichtum! Ich, der Jäger Assatur, bin auf einmal ein Millionär geworden? So was kann einen Menschen doch rein um den Verstand bringen... «, murmelte er. »Wie wird sich meine Alte freuen, wenn sie davon erfährt! ,Welcher Jäger', sagte sie immer, ,hat es je zu etwas gebracht? ' Der Weiberverstand glaubt eben nicht an das Glück...« Der Alte legte die Schmuckstücke behutsam in den Sack zurück und versank in Nachdenken. »Soll ich ihn denn wieder verstecken?« murmelte er vor sich hin. »Immer wieder verstecken und immer in solcher Angst leben? Mein Enkel leistet Großes, und ich muß mich vor ihm schämen. .. Vorher war es viel besser — ich war nicht reich, aber dafür war mir's leicht ums Herz!... Wie Blei liegt mir diese Last auf dem Herzen! Mein Leben war vorher so schön, ich war ehrlich, war glücklich ... Warum habe ich mir fremdes Gut angeeignet?« Der Alte sprang plötzlich auf, warf den Sack über die Schulter und ging auf die Tür zu. Doch unmittelbar am Ausgang blieb er stehen und setzte sich wieder. Er schwankte von neuem. »Bin ich nicht ein Narr? Das ganze Leben lang hab' ich davon geträumt, Gold zu finden, und jetzt, nachdem ich es gefunden hab', will ich so dumm sein und es nicht behalten. Nein, Assatur, die Vernunft sagt dir: Das Glück hat an deine Tür gepocht — verjag es nicht! Sei kein Narr!« Von neuem wurden alle guten Vorsätze des Jägers Assatur von der Gier nach Besitz, nach persönlichem Eigentum zunichte gemacht. Er stand auf, nahm den Sack und versteckte ihn wieder in dem Loch in der Erde. Ein Zwischenfall in der dunklen Höhle Als die Kinder sich am nächsten Tage wieder zum Fortgehen bereit machten, sagte der Großvater zu ihnen: »Heute, Kinderchen, komm' ich nicht mit, ich hab' im Kolchos zu tun. Mir wäre es lieber, wenn ihr auch nicht in diese verfluchte Höhle zurückgingt. Aber ihr seid ja nicht zu halten. Nur eine Geschichte will ich euch noch erzählen — vielleicht kann sie euch nützen, wenn ihr mit dem Dynamit herumhantiert. Ihr kennt doch den Großvater Oganes?« »Den blinden?« fragte Seto. »Ja, den blinden Oganes. Er ist aber nicht immer blind gewesen. Ein hübscher, waghalsiger Bursche war er in seiner Jugend. Durch eine Fahrlässigkeit ist er erblindet — ungeduldig und hitzig war er... Wir haben damals im Dorf einen Brunnen gebaut und ihn mit Steinen ausgelegt. Die Steine dazu sprengten wir aus den Felsen heraus. Da haben wir, Oganes und ich, ein Loch in den Fels gebohrt; wir schütteten Pulver hinein, setzten die Zündschnur ein, zündeten sie an und liefen weit weg. Wir warteten, warteten, aber die Explosion kam und kam nicht. Oganes stieß mich an: ,Das Pulver muß naß sein, oder die Zündschnur ist erloschen. Komm!' Ich sage: ,Oganes, warte! Wer weiß, vielleicht explodiert es noch.' Aber er hatte hitziges Blut, wie unser Kamo. Er hörte nicht auf mich und ging... Kaum hatte er sich gebückt, um die Zündschnur zu untersuchen, da explodierte das Pulver!... Und es hat ihm die Augen ausgebrannt, dem jungen, hübschen Burschen.. . « In der Höhle angekommen, nahmen die jungen Forscher ihre Arbeit wieder auf. Sie bohrten ein Loch in den Felsen, legten den Sprengstoff hinein und befestigten die Zündschnur. Aschot Stepanowitsch zündete sie an, und alle stürzten Hals über Kopf zur Höhle hinaus. Eine Viertelminute, eine halbe Minute verging — die Explosion blieb aus. Dem stets ungeduldigen Kamo kam es vor, als sei mindestens eine Stunde vergangen. »Wir werden hier doch nicht bis zum Abend sitzen«, rief er schließlich und sprang vor. »Wahrscheinlich taugt die Kapsel nichts.« Aschot Stepanowitsch hatte keine Zeit mehr, Kamo zurück-zuhalten. »Kamo, kehr um! Hast du vergessen, was der Großvater erzählt hat?« rief ihm Armjon nach. »Denke an den blinden Oganes! Wie...« Ein ohrenbetäubendes Getöse unterbrach ihn mitten im Satz. Die durch die Explosion an die Decke der Höhle geschleuderten Felsstücke prasselten als schwerer Steinhagel herunter. Rauch und der stickige Geruch nach Dynamit erfüllten die Luft. Die Freunde drangen in die Höhle ein. Sie fanden Kamo bewußtlos; er lag lang ausgestreckt auf den Steinen. Aschot Stepanowitsch und Grikor hoben ihn auf und trugen ihn ins Freie. Sie untersuchten ihn. Keinerlei Verletzungen waren zu entdecken. . . Lediglich an der Schläfe war ein kleinerm blauer Kreis zu sehen — nicht größer als ein Knopf. Kamo atmete nur noch schwach... Auf einer Tragbahre, die sie in aller Eile aus Ästen gezimmert hatten, wurde Kamo ins Dorf gebracht. Der Schreck der Mutter war unbeschreiblich. Als sie die Tragbahre erblickte, schrie sie auf und stürzte ohnmächtig nieder. Kamo wurde ins Zimmer getragen. Die Nachbarn liefen herbei. Aram Michailowitsch und Bagrat wurden gerufen. Der sonst immer so gelassene Kolchosvorsitzende stürzte aufgeregt ins Zimmer. Er beugte sich über die Tragbahre, hob Kamo auf und bettete ihn auf das Sofa. »Verlaßt alle das Zimmer!« ordnete er an. »Nur Aram Michailowitsch bleibt hier, und du, Anaid, und Schuschan, ihr werdet mir helfen.« Widerstrebend fügten sich die Nachbarn. »Anaid, mach das Fenster auf! Weiter! So... Bringe Wasser... Schuschan, lauf in die Verwaltung und hole die Hilfsapotheke! Beeil dich... Aschot, hilf Aram... Aram, du weißt doch, wie man Wiederbelebungsversuche machen muß. « Aram Michailowitsch nickte stumm, zog seinen Rock aus und rollte die Hemdsärmel hoch. »Ach, wenn ich nur dabeigewesen wäre, es wäre nicht passiert«, jammerte er. »Kamo hätte auf mich gehört...« Schuschan kam mit der Hausapotheke. Im Zimmer verbreitete sich der scharfe Geruch von Salmiakgeist. Der Großvater Assatur trat ein. Er hatte sich nicht zurückhalten lassen. Sein Bart war zerzaust, seine Kleidung zerknittert. Mit einer kläglichen, zitternden Greisenstimme flehte er den Lehrer an: »Aram, Teurer, bei deinem Seelenheil, bei allem, was dir heilig ist, bitte ich dich: Telefoniere nach Jerewan, durch das Radio gib Nachricht — man soll Ärzte, Gelehrte schicken, damit sie meinen Enkel retten!« »Beruhige dich, Großväterchen! Einen Arzt haben wir auch hier, er ist nur gerade unterwegs, wird aber bald zurück sein. Wir werden uns vorläufig auch ohne ihn behelfen. Hast du Vertrauen zu uns und der Wissenschaft?« »Gewiß doch hab' ich Vertrauen, wie sollte ich nicht ...« »Nun, dann mußt du auch Geduld haben, wenn du Vertrauen hast. Laß uns jetzt machen. Dein Enkel lebt und wird auch am Leben bleiben. Er hat nur das Bewußtsein verloren, ist vielleicht betäubt vom Geruch des Sprengstoffs oder von dem Luftdruck ohnmächtig geworden. Sei unbesorgt, man kann dreißig Stunden bewußtlos sein und muß deswegen nicht sterben. « Seto und Armjon versuchten draußen im Hof Asmik zu trösten. Sie schluchzte laut und wischte sich immer wieder das tränennasse Gesicht. Ihre Augen waren vom Weinen rot und geschwollen. Grikor hatte am Tor einen Streit mit Mesrop. »Was faselst du da? Was du immer für Dummheiten redest!« schrie er ihn an. »Da sind keine Teufel in dem Berg. Das ist Wasser, verstehst du? Es rauscht und zischt. Morgen gehe ich hin und sorge dafür, daß es bis ins Dorf fließt. Aber dir werde ich keinen einzigen Tropfen geben - du kannst umkommen vor Durst... Kamo hat Pech gehabt, durch seine eigene Unvorsichtigkeit! Du aber tuschelst: ,Der Teufel hat ihn bestraft. . .' Hör endlich damit auf, den Leuten den Kopf zu verdrehen!« »Wer sagt denn, daß es nicht Wasser ist?« erwiderte Mesrop kleinlaut. »Weshalb regst du dich auf?« Und er schlich davon. Als die jungen Freunde auf die Straße hinaustraten, kam ihnen der neidische Artusch entgegen. Er hatte von Kamos Unfall erfahren und hielt den Kopf gesenkt. »Was willst du?« fragte Grikor unfreundlich. »Weshalb heuchelst du, daß Kamo dir leid tut?« Aber Artusch schlug die Augen auf. Und nun sahen Grikor und Armjon, daß sie ihm Unrecht getan hatten, denn der Junge sah ehrlich bekümmert aus und hatte wahrhaftig Tränen in den Augen. »Seid mir nicht böse!« sagte Artusch. »Ich habe mich schlecht benommen. Um Kamos willen verzeiht mir.« Armjon reichte ihm als erster die Hand. »Jetzt ist nicht der Augenblick, um lange zu reden. Wir müssen gehen... Du, Seto, bleibe bei Asmik« , sagte er und ging in den Hof zurück. Die Wiederbelebungsversuche hatten endlich Erfolg. Der Lehrer, der sehr blaß geworden war, bekam ein wenig Farbe, und seine Züge hellten sich auf. »Lebt er?« fragte Bagrat. »Er lebt und atmet, aber noch ganz schwach...« Diese Nachricht verbreitete sich sofort im Hof, und Asmik rief: »Ach bitte, laßt mich zu Kamo! « Aber Bagrat drohte ihr durch das Fenster mit dem Finger. Er lachte dabei aber gutmütig. Allen war, als sei ihnen ein Stein von der Seele genommen. Grikor stand ein wenig abseits, dicke Tränen liefen über seine Wangen, aber selbst in diesem Augenblick konnte seine vorwitzige Zunge nicht schweigen: »Ich weiß schon - Kamo hat sich absichtlich tot gestellt, da-mit er uns nur noch lieber wird«, sagte er. Alle lachten, wenn auch nicht so sehr über Grikors Scherz als aus Freude darüber, daß der junge am Leben war. Asmik konnte sich nicht länger beherrschen; ungeachtet des Verbots kam sie ins Zimmer gelaufen. Kamo hatte eben die Augen aufgeschlagen - er sah seine kleine Freundin. Sie drehte sich um, warf sich Bagrat an die Brust und fing wieder an zu weinen. »Beruhige dich doch, Töchterchen, alles ist wieder gut, alles ist vorüber«, sagte Bagrat, indem er zärtlich über das kastanienbraune Haar des Mädchens strich. Er konnte seiner Rührung selber kaum Herr werden. Kamos Mutter kam aus dem Nebenzimmer herein. Sie kniete neben dem Lager des Sohnes nieder und brach in Tränen aus. Aber es waren Tränen der Freude, wie sie nur eine Mutter vergießen kann, wenn sie ihr geliebtes Kind gerettet weiß. Mit unnatürlich weit aufgerissenen Augen sah Kamo die Anwesenden verständnislos an; er begriff nichts... »Na, bist ja wieder munter, mein Junge«, rief der Großvater und murmelte etwas Unverständliches. Dabei sah er recht ratlos aus. »Was bedrückt dich, Großväterchen?« fragte ihn Aram Michailowitsch. »Du siehst doch, alles ist wieder gut, dein Enkel lebt. « Der Großvater schien sich etwas zu fassen, fuhr aber gleich wieder in seinem sonderbaren Selbstgespräch fort: »Ich, der angesehene Jäger Assatur, stehe an Großmut hinter diesen Kindern zurück? Wenn sie bereit sind, ihr Leben für uns alle zu opfern, wie kann ich dann noch zögern? Bagrat«, wandte sich der Alte unvermittelt an den Vorsitzenden, »das Gold hat mir den Kopf verdreht und mein Herz verfälscht... Ich werde alles herbringen, werde mein Gewissen erleichtern... « Er stand auf und ging entschlossenen Schrittes zum Zimmer hinaus. Niemand hatte begriffen, was der Großvater eigentlich wollte. »Was hat denn unser Alterchen?« fragte Bagrat und zog verwundert die Brauen hoch. »Ist er krank geworden? Von was für Gold redet er denn?« Auch Aram Michailowitsch zuckte ratlos die Achseln. Bis zum Hause des Großvaters war es nicht weit. Schon nach wenigen Minuten kam er zurück und trug einen schweren Sack auf der Schulter. »Hier ist das Gold. Nehmt es und tut damit, was richtig ist«, sagte er, indem er den Sack auf den Boden gleiten ließ. »Breite ein Tuch aus, Töchterchen«, sagte er dann zu Kamos Mutter. Die Anwesenden tauschten verständnisvolle Blicke und flüsterten miteinander. »Geh nach Hause«, sagte Bagrat und legte seine Hand auf die Schulter des Alten. »Geh, erhole dich, beruhige dich...« »Ein Tuch soll her, sage ich!« rief der Großvater ärgerlich. »Ihr meint wohl, der Alte ist übergeschnappt? Breitet ein Tuch aus, damit ich das Gold ausschütten kann.« Kamos Mutter stand auf und brachte ein Laken. »Macht Platz!« brummte der Großvater; er legte das Betttuch in die Mitte des Zimmers auf den Boden und schüttete den Inhalt des Sackes aus. Im ersten Augenblick waren alle erstarrt. Kostbare, vielfarbig funkelnde Edelsteine, goldene Münzen, Armbänder, Ringe, Halsgeschmeide in Mengen lagen auf dem Fußboden verstreut. Der Großvater aber stand hoch aufgerichtet neben diesen Schätzen; mit der einen Hand strich er sich den Bart, mit der anderen umklammerte er den Griff seines Dolches. Mit blitzenden Augen sah er die Anwesenden an. »Nun? Hab' ich's euch nicht gesagt?« rief er. »Da ist das Gold. Ihr habt gedacht: Der Alte ist verrückt geworden. Na, was sagt ihr nun?« Über all der Aufregung hatte niemand an Kamo gedacht. Er richtete sich plötzlich auf und machte ein sehr erstauntes Gesicht. »Träume ich?« fragte er und rieb sich die Augen. Der alte Jäger fing, als er seine triumphierenden Blicke im Kreise gehen ließ, aus Aram Michailowitschs Augen einen vorwurfsvollen Blick auf. Da kam ihm seine ganze Schuld plötzlich zum Bewußtsein. Eine merkwürdige Veränderung ging in ihm vor. Das triumphierende Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Der Alte kniete nieder, senkte den Kopf und stammelte: »Verzeiht mir, ihr alle, du, Kamerad Bagrat, und du, Aram Michailowitsch... Ich habe Unrecht getan.« Seine Stimme wurde von aufsteigenden Tränen erstickt. Der Großvater sah mit einem Male um Jahre gealtert, gebrechlich und schwach aus. »Woher hast du das alles?« fragte Aram Michailowitsch streng. »In einem Krug hab' ich es gefunden, den wir im vorigen Jahr vom Tschantschakar runtergebracht haben... Unter dem Honig... « »Und warum hast du das bis jetzt versteckt? Warum hast du keinem etwas davon gesagt?« Bei dieser Frage wurden alle sehr ernst. Anaid flüsterte erschrocken: »Man wird ihn verhaften.« Artjom, der Verwalter der Molkerei, der eben erst ins Zimmer gekommen war, sagte: »Das geschähe ihm auch nur recht.« Inzwischen hatte der alte Jäger weitergesprochen: »Ich weiß, ich hab' mich versündigt, Brüder... hab' es damals nicht gleich abgeliefert. Die Habgier hat mir die Augen geblendet. Vergebt mir! Dieses Gold liegt seitdem wie eine Zentnerlast auf meinem Herzen. Ich bitte euch, Brüder, befreit mich von dieser Last!« »Weshalb hast du dich denn jetzt entschlossen, das Gold herzugeben? Wohl Kamos wegen?« »Bagrat, ich sah, was diese Kinder vollbrachten, und habe mich geschämt. In den Erdboden wäre ich am liebsten gesunken. . .« Der Großvater zeigte auf Kamo und seine Kameraden. »Sie dachten nicht an sich selbst, sie wollten das Wohl aller, aber ich habe nur an mich gedacht. . . « Die Anwesenden hörten ihm stumm zu. »Beim Leben dieser Kinder schwöre ich es«, fuhr der Großvater fort, »mein Gewissen hat mich die ganze Zeit gequält. Im Stall habe ich den Sack versteckt und bin oft hingegangen und habe ihn rausgeholt. Ich hatte ihn mir schon auf die Schulter geworfen, um ihn wegzubringen, das Gold abzugeben, aber... meine Beine wollten nicht. Oft habe ich gedacht: Niemals in seinem Leben hat der Jäger Assatur etwas Unrechtes getan. Und nun geht meine Ehre verloren wegen dieses Plunders. « Der Alte warf einen feindseligen Blick auf die Kostbarkeiten. Im Zimmer hatten sich inzwischen immer mehr Leute eingefunden. Die Kunde von den außergewöhnlichen Schätzen hatte sich mit Windeseile im ganzen Dorf verbreitet, und bald war das Haus des Schmiedes Samson voller Menschen. Niemand, auch nicht Bagrat, hinderte sie daran, hereinzukommen. Es war allen klar, daß der alte Mann sich schwer vergangen hatte, und jeder wartete darauf, was diejenigen dazu sagen würden, die zu einem Urteil berufen waren. »Was jammerst du?« unterbrach der Rechnungsführer Mesrop die Selbstanklagen des Großvaters. »Du lieferst Millionenwerte ab und bittest noch um Vergebung? Ein anderer hätte sie an deiner Stelle überhaupt nicht abgegeben... « »Das ist wahr«, pflichtete ihm nun auch Sona bei. »Du hast ganz recht gehandelt, Großväterchen, brauchst dich nicht anzuklagen. « Es wurden noch einige Stimmen zugunsten des Großvaters laut. Man hätte glauben können, der alte Mann sei dadurch ermutigt worden. Doch es war nicht so. Als Mesrop ihm die Hand hinstreckte, um ihm beim Aufstehen zu helfen, stieß er ihn zurück und rief empört: »Bin ich so tief gesunken, daß einer wie du mich verteidigen kann? Nein, das Volk soll mich richten. . .« Der Großvater wandte sich an die Umstehenden und rief mit gebrochener Stimme: »Ihr Leute, wenn mich Sona und Mesrop verteidigen, dann tauge ich wirklich nichts mehr... Laßt mich einsperren! Ich fürchte mich nicht vor dem Gefängnis und fürchte auch den Tod nicht. Mein ehrlicher Name ist verloren - das ist es, was schrecklich ist. . . « Dicke Tränen rollten über die Wangen des Alten und sickerten in seinen weißen Bart... Das Urteil des Volkes Nachdem der Kolchosvorsitzende Bagrat lange geschwiegen hatte, trat er an den Großvater heran, hieß ihn auf stehen und sagte: »Du hast recht, Alter, dein Vergehen ist schwer. Aber wer von uns kennt nicht den Großvater Assatur? Gibt es auch nur einen einzigen unter uns, dem der Großvater nicht in seinem Leben schon geholfen hätte?« »Keinen einzigen gibt es«, rief Anaid. »Wer von euch weiß nicht, daß das ganze Leben dieses Mannes sauber und klar gewesen ist wie Kristall?« fuhr Bagrat fort. »Daß er den Schatz an sich genommen hat und sich nicht entschließen konnte, ihn abzuliefern - das sind alles noch Überbleibsel der alten Zeit, die auf dem Charakter vieler Menschen dunkle Flecken hinterlassen hat. Großvater Assatur ist kein Kommunist, aber in den Tagen des Maiaufstandes 1920 hat er uns Partisanen in seinem Stall verborgen und hat uns von seiner Jagdbeute zu essen gegeben... So leicht werden wir Großvater Assatur nicht aufgeben... Er war der gute Geist unseres Dorfes. Die Sache mit dem Gold war nur eine Verirrung... Erinnert ihr euch noch, ihr Leute, wie wir im ersten Revolutionsjahr gehungert haben? Welches Elend wir während des Bürgerkrieges erlitten haben? Wißt ihr noch, wie die Menschen Gras gegessen haben, wie ihre Bäuche auf-schwollen vor Hunger und wie sie starben? Wer hat damals unser Leben gerettet? Wer hat Litschk gerettet? Die Partei und das russische Volk! Wißt ihr noch, wie damals die Züge an-kamen und Getreide für die Hungernden brachten? Wen haben wir gewählt und beauftragt, dieses Getreide in Empfang zu nehmen und gerecht zu verteilen?« »Den Großvater Assatur! ... Natürlich den Großvater Assatur!« wurde von allen Seiten gerufen. »Richtig. Wir haben ihn gewählt, weil er ehrlich war. Und ehrlich«, fuhr Bagrat mit erhobener Stimme fort, »ehrlich ist er auch heute noch. Als Mensch, der in der früheren Gesellschaft aufgewachsen ist, die auf Besitz aus war, konnte er sich nicht ganz von den Eigenschaften und Lastern jener Zeit der Habgier und der Selbstsucht befreien. Die jungen Menschen hier sind frei von diesen Lastern, weil sie in einer neuen Gesellschaft aufgewachsen sind, in einer Gesellschaft, in der die Menschen nur nach dem einen streben — alles Persönliche dem Allgemeinwohl unterzuordnen... Ich möchte also, daß die hier Versammelten über den Großvater Assatur das Urteil sprechen. Meine Meinung wißt ihr. Nun sollen auch andere ihre Ansicht sagen. Dann können wir gleich unseren Beschluß fassen.« »Was kann dem Großväterchen geschehen?« flüsterte Asmik ängstlich. Nachdem Bagrat geendet hatte, nahm Aram Michailowitsch das Wort: »Dieses Gold hier«, sagte er, und zeigte auf die vom Großvater Assatur gefundenen Kostbarkeiten, »ruft in mir die Erinnerung an ein historisches Ereignis wach. Im Frühjahr 1921, als die armenischen Weißgardisten, die Daschnaki, gegen die neue, sowjetische Regierung vorgingen, wurde eine Einheit der elften Roten Armee, an deren Spitze Ordshonikidse, Kirow und Mikojan standen, vom Feinde abgeschnitten. Diese Einheit blieb im Süden Armeniens, bei Nachitschewani, in der äußersten Ecke der Ararat-Ebene, zurück und leistete den konterrevolutionären Truppen Widerstand, obgleich jede Hilfe ausgeschlossen schien. Die Kämpfenden hatten weder Brot, noch hatten sie die nötige Ausrüstung. Vor sich hatten sie die Feinde, hinter sich — den von Feudalen regierten Iran. Ihre Vernichtung schien unvermeidlich zu sein. Plötzlich hörten sie ein Motorengeräusch, und am Himmel tauchte ein Flugzeug auf. Zu der damaligen Zeit war das ein ungewöhnliches Ereignis. Das Flugzeug landete. Es brachte den Kämpfenden Waffen, Munition, Lebensmittel und ein von Lenin gesandtes Säckchen mit Gold. Für dieses Gold gelang es den Kämpfenden, sich im Iran Brot zu beschaffen. Sie kamen wieder zu Kräften, faßten Mut und warfen schließlich den Feind nieder. « »Das stimmt. Ich bin dabeigewesen«, rief der Molkereiverwalter Artjom. »Nun soll es mir Großvater Assatur nicht übelnehmen, wenn ich einen Vergleich ziehe«, fuhr Aram Michailowitsch fort. »Dort war Gold, und auch hier ist Gold. Es scheint kein Unter-schied zu bestehen. Aber wozu hat das Gold damals gedient, und wozu diente dieses Gold, als es beim Großvater Assatur im Stall lag?« Der alte Jäger, der mit gesenktem Kopf zugehört hatte, war von dieser Geschichte offenbar tief beeindruckt. »Ich möchte aber noch auf einen anderen wichtigen Umstand hinweisen«, fuhr der Lehrer fort. »Bei dieser ganzen Sache beunruhigt mich als Sowjetmenschen der Gedanke, wie schlimm es gewesen wäre, wenn im Großvater Assatur das Alte die Oberhand behalten hätte! Was für ein schwerer Verlust wäre es für die sowjetische Wissenschaft gewesen, wenn diese stummen Zeugen aus der Vergangenheit unseres Volkes, seiner Sitten und seiner Kultur wieder verlorengegangen wären, wenn man sie vielleicht heimlich als wertvolles Metall verkauft hätte.« Aram Michailowitsch griff aus dem Haufen der auf dem Fußboden liegenden Wertsachen eine Münze heraus und betrachtete sie: »Auf dieser Münze ist Tigran der Große dar-gestellt. Zu der Zeit, als sie geprägt wurde, war unser Land noch heidnisch. Dies allein ist ein sehr wichtiger und sehr wert-voller Fund für die Wissenschaft. Solche Funde zu verbergen oder zu vernichten, indem man sie einschmilzt — wäre ein Verbrechen... Nun, ich glaube, Großvater Assatur sieht seine Schuld ein. Er hat oft von der ehrlichen Gesinnung seiner Vorfahren gesprochen, er selbst hat viel von dieser Ehrlichkeit. Großvater Assatur muß sich selber die Frage stellen: Wie kann man beim Anblick dieser Kostbarkeiten die Ehre und die Pflicht den anderen gegenüber vergessen?« Nun nahm wieder Bagrat das Wort. »Es ist alles gesagt, was zu sagen ist. Wir glauben, daß die Reue des Großvaters tief und aufrichtig ist. Es ist schön, daß sich diese Dinge gefunden haben. Am meisten aber müssen wir uns darüber freuen, daß sich ein Mensch wiedergefunden hat, daß der Großvater Assatur unter dem Einfluß dieser jungen Leute seine Ehrlichkeit wiedergefunden hat!« -Bagrat drückte dem alten Manne die Hand. Großvater Assatur atmete erleichtert auf. Sein bleiches Gesicht nahm nach und nach wieder seine natürliche Färbung an. Alle lächelten ihm freundlich zu. Der Alte richtete sich aus seiner gebückten Haltung schwerfällig auf, und seine Augen leuchteten. Am meisten freuten sich die Kinder über den glücklichen Ausgang dieser schlimmen Geschichte. Sie hingen sehr an ihrem alten guten Großvater, und es hatte ihnen weh getan, ihn so leiden zu sehen. Der Lehrer sagte: »Kamo und seine Freunde haben unseren Dank und unsere Anerkennung verdient. Sie waren es, die durch ihren Eifer und ihre Hartnäckigkeit den Schätzen in den Höhlen des Tsdiantschakar auf die Spur gekommen sind. Und sie haben durch ihr Beispiel den Großvater zur Einsicht gebracht.« Der Alte strahlte. Seiner Gewohnheit gemäß bekreuzigte er sich und umklammerte den Griff seines Dolches. Er hatte sein Selbstbewußtsein wiedergefunden. »Jetzt will ich auch gerne sterben«, sagte er. Dann schien ihm etwas einzufallen. Er trat an Kamos Lager und sagte: »Habt ihr denn herausgefunden, was in der Höhle so unheimlich zischt und brodelt? Ist es nicht der Teufel, der die Seelen in seinen Kessel steckt?« »Nein, Großväterchen«, rief Kamo, der inzwischen wieder zu Kräften gekommen war. »Es ist Wasser, das tief in der Erde fließt.« »Dann war es auch nicht Satael mit seinem Feuerknüppel, der dich niedergeschlagen hat?« »Wie stellst du dir das vor, Großväterchen?« fragte Kamo erstaunt. »Der Großvater Oganes ist ja auch nicht vom Teufel niedergeschlagen worden; das hast du doch selber gesagt...« »Wenn ihn der Teufel niedergeschlagen hätte, Großväterchen«, mischte sich Armjon ein, »dann wäre er doch nicht am Leben geblieben!« »Das ist wahr, denn wer könnte dem Knüppel des Teufels standhalten?« murmelte der Alte. »Es gibt, wie es scheint, gar keine Hölle.« »Ist das, was man hört, wirklich Wasser?« wollte Artjom wissen. »Ja. Man hört es ganz deutlich, es plätschert und gluckst. . .« »Warum hast du uns davon nichts gesagt?« fragte Artjom den Kolchosvorsitzenden. »Wir wissen ja selber noch nichts Genaues. Aschot Stepanowitsch, erzähle du uns jetzt, was ihr heute erlebt habt. Und wohin ist dein Kollege Suren verschwunden?« »Suren ist nicht verschwunden«, erwiderte Aschot Stepanowitsch. »Er hat eine sehr wichtige Aufgabe übernommen: es mußte eine Skizze des alten Flußbettes gemacht und auf ihr die Stellen eingezeichnet werden, die neu zementiert werden müssen, damit das Wasser nicht durch die poröse Lava absickert und die Felder nichts von dem Segen bekommen.« Nach diesem Gespräch sandte Bagrat sofort einen Last-wagen in die Bezirksverwaltung des Wasserbauamtes, um Zement holen zu lassen. Er und der Lehrer machten sich gemeinsam auf den Weg zur ,Höllenpforte'. Sie untersuchten die Höhle und stellten fest, daß tatsächlich im Inneren der Felsen ein Wasserlauf mit sehr starker Strömung fließen mußte. Schon am nächsten Morgen schickte Bagrat eine Anzahl Kolchosarbeiter in die Berge, die mit dem Ausschachten des Kanalbettes anfangen sollten. Bald gab es im ganzen Dorf nur noch ein Gesprächsthema: »Das Wasser ist wieder da!« Alle Dorfbewohner, ganz gleich ob alt oder jung, alle Männer und Frauen zogen mit Spaten und Spitzhacken zu den Abhängen des Dali-Dagh. Dorthin, wo sich einstmals das alte Flußbett der ,Großen Quelle' des Zaren Sardur befunden hatte. Alle Hilfsmittel, um die Arbeit schnell zu vollenden, wurden angewendet. Sogar motorisierte Pflüge waren zur Stelle. Als die Sonne aufging, war die Arbeit schon im vollen Gange. Den Motorpflügen folgten die Arbeiter und vertieften und ebneten mit Spitzhacke, Spaten und Schaufel das alte Bett des Kanals. Und wieder geht's zu den Schwarzen Felsen Es dämmerte. Als Asmik an diesem Morgen erwachte, war die gestrige Last, die Sorge um Kamo und den Großvater, von ihr gewichen. Leicht und froh warf sie die Decke zurück, sprang auf und kleidete sich rasch an. Sie mußte zu Kamo. Aber zu so früher Stunde wollte sie doch nicht allein hingehen. Und deshalb holte sie zuerst Grikor ab. »Kommst du mit zu Kamo?« Grikor war sofort bereit... Kamos Mutter öffnete, legte aber warnend den Finger an die Lippen und flüsterte: »Pscht! Er schläft.« »Laß ihn schlafen, Mütterchen, er hat es nötig«, antwortete Grikor. »Asmik, du kommst mit mir nach Hause.« Auch Armjon und Seto fanden sich bald darauf bei Grikor ein. »Wir wollen Kamo abholen«, schlug Armjon vor. »Nein, er schläft und darf nicht gestört werden.« »Gut, soll er sich ausruhen. Wir müssen aber Artusch noch abholen, er wollte unbedingt mitkommen.« Sie verließen das Haus. »Wohin, Grikor?« rief ihm die Mutter nach. »Zu den Schwarzen Felsen!« Er wußte, daß seine Mutter diesmal nichts einwenden würde. Nachdem sie dann Artusch abgeholt hatten, schritten sie munter voran. Vor ihnen breitete sich das bekannte Bild aus: von der Sonne versengte, nach Wasser lechzende Felder und Wiesen! Die Kolchosarbeiter waren mit der Verbreiterung und Vertiefung des alten Kanals gut vorwärtsgekommen. Wie ein breites, dunkles Band zog er sich die Abhänge des Dali-Dagh bis zu den Feldern hinunter. Die Arbeiter hatten während der Nacht wahre Wunder vollbracht — der Kanal war fast fertig! Das war zum Teil das Verdienst des Vorsitzenden Bagrat, der die Arbeiter immer wieder anfeuerte: »Schafft, schafft, Leute. Jeder muß sich vornehmen, vier Kubikmeter Erde auszuheben. .. Koste es, was es wolle — heute noch wird das Wasser in den Kanal geleitet.« Während Bagrat dies sagte, ertönten von den Schwarzen Felsen her kurz nacheinander mehrere Detonationen. Der Ein-gang zur Höhle war in dichte Staub- und Rauchwolken gehüllt. »Wir haben uns verspätet«, sagte Armjon bekümmert. »Sie sind uns zuvorgekommen. Kommt schneller!« Fast im Laufschritt eilten die Jungen weiter. Asmik konnte kaum mit ihnen Schritt halten. Endlich hatten sie die Schwarzen Felsen erreicht. Die alte Eiche war von oben bis unten gespalten und verkohlt. Zersplittert hingen die Äste herab. Der Kupferkrug lag verrußt und plattgedrückt auf der Erde. Auf dem Gipfel der Schwarzen Felsen tauchten Leute auf. Jemand rief herunter: »Grikor, seid ihr es? Kommt Ablösung?« »Ja, wir kommen schon. Laßt die Spitzhacken oben und kommt runter.« Die Kinder kletterten hinauf. Mit ausgebreiteten Schwingen kreisten drei Adler über den Köpfen der Jungen. Sie mochten irgendwo in den Höhlen ihre Horste haben und waren von dem Lärm aufgescheucht. Doch heute hatte niemand Zeit, sich um die Adler zu kümmern. Armjon und Grikor krochen in die Höhle. Sie war dunkel und feucht. Der Eingang war ziemlich schmal, doch dahinter wurde die Höhle allmählich breiter. Der feuchte Boden und die Wände waren mit Schimmel und Schlamm bedeckt. Von unten her drang ein dumpfes Getöse herauf. Je weiter die jungen in die Höhle eindrangen, desto lauter und unheimlicher wurde es. Sie kamen zu einem schmalen Spalt in einer Seitenwand. Artusch zündete seine Laterne an. Ein starker, eisiger Luftzug schlug ihnen aus dem Spalt entgegen und blies das Licht wieder aus. Es blieb den jungen Forschern nichts anderes übrig, als sich im Dunkeln weiterzutasten — auf allen vieren krochen sie aufwärts. Der Weg war ihnen bereits bekannt. Aus diesem Gang kam man in eine zweite Höhle, in der die ersten Sprengungen stattgefunden hatten. Hier war mit der Spitzhacke nachgeholfen worden. Die Arbeiter hatten das Werkzeug und den Sprengstoff zurückgelassen. In der Höhle war es stockfinster. Das geheimnisvolle unterirdische Rauschen war hier besonders deutlich zu hören und wurde von einem vielfachen Echo verstärkt. »Wenn wir dem Wasser einen Ausweg schaffen, wird es sich zuerst in den Gang ergießen, durch den wir eben gekommen sind«, überlegte Armjon. »Es wird uns also den Weg ab-schneiden, und wir werden hier gefangen sein. Wir müssen den Ausgang erweitern. « Die Kinder zündeten die Laternen wieder an, fanden das Werkzeug und untersuchten den Gang. Das Gestein im Innern der Höhlen war weich, und es würde also nicht zu schwer sein, den Zugang zu der Breite einer normalen Tür auszuhauen. Die Kinder wandten sich dem Teil der Höhle zu, in dem die Kolchosarbeiter bereits eine Mulde ausgehauen hatten. Hier war das Rauschen noch deutlicher zu hören. Grikor machte wieder seine Späße: »Na, die armen Sünder müssen gehörig schmoren. Am Ende werden wir noch die Seele vom Gevatter Mukel rausfischen und sie dem Großvater als Geschenk mitnehmen!« Asmik, die den Freunden gefolgt war, schüttelte sich. Sie hatte stets ein bißchen Angst und schmiegte sich Schutz suchend an Armjon. Am mutigsten benahmen sich Seto und Grikor. »Keine Angst!« beruhigte Grikor die Freunde. »Was ihr da hört, ist Wasser, eingekerkertes Wasser. Bald werden wir ihm die Freiheit schenken.. . Leuchte mal, Seto!« »Nein, leuchten kann Asmik, wir werden die Spitzhacken nehmen«, sagte Seto und gab dem Mädchen die Laterne. Sie kletterten über die von der Sprengung umherliegenden Steine und stiegen in die Mulde hinab, unter der das Wasser brauste. Der schwache Lichtkreis der Laterne beleuchtete matt und gespensterhaft den zerklüfteten Boden. Armjon zog seine Jacke aus und legte sie Asmik um die Schultern. Sie zitterte noch immer, vielleicht vor Angst, vielleicht auch vor Kälte. »Laß doch«, wehrte sie ab. »Du wirst dich erkälten.« »Wo denkst du hin! Bei der Arbeit wird man schnell warm.« Grikor, Seto und Artusch gingen mit wahrem Feuereifer dem felsigen Gestein zu Leibe. Asmik stand mit der Laterne in der Hand am Rande der Mulde. Sie zitterte immer stärker, Armjons Jacke wärmte nicht, und die Laterne schwankte so sehr, daß der Lichtschein hin und her huschte. »Nein, das geht ja nicht«, sagte Armjon schließlich. »Du wirst hier erfrieren, Asmik. Geh lieber nach Hause, mit der Laterne werden wir auch ohne dich zurechtkommen.« »Nein, nein«, rief Asmik. »Um keinen Preis gehe ich.« »Geh, geh, du kannst zu Hause mehr nützen. Geh und kümmere dich um Kamo, heitere ihn auf. Erzähle ihm, was wir hier tun.« »Nein!« sagte Asmik nochmals und errötete bis über die Ohren. »Aber wirklich«, mischte sich jetzt Seto ein, »es hat gar keinen Sinn, daß du hierbleibst. Geh nach Hause, die Laterne werden wir zwischen den Steinen festklemmen. Das Licht wird dann nicht so über den Boden tanzen wie jetzt.« Asmik gab endlich nach. Seto begleitete sie bis zum Ausgang der Höhle und half ihr auf den Gipfel hinauf. Am Rande des Dorfes blieb Asmik unschlüssig stehen. Sollte sie nach Hause gehen?. . . Nein, lieber gleich zu Kamo! Anaid öffnete ihr. Sie sah blaß aus, und ihre Wangen waren eingefallen, aber die Augen leuchteten froh und glücklich. Sie umarmte und küßte das Mädchen. Asmik schmiegte sich an ihre Brust, ein warmes, geborgenes Gefühl durchrieselte sie. Kamos Mutter, der der Schrecken und die Freude des gestrigen Tages noch in den Gliedern saßen, weinte leise. »Wie geht es Kamo?« fragte Asmik leise. Als Antwort kam aus dem Nebenzimmer eine muntere Stimme: »Komm her, Asmik, sonst stehe ich auf und komme heraus... « »Nur nicht«, schrie die Mutter entsetzt. »Am Ende springt er wirklich noch aus dem Bett! Geh zu ihm hinein, Asmik...« Das Mädchen ging in das Zimmer, in dem Kamo neben dem breiten, hellen Fenster im Bett lag. Er strahlte sie mit seinen großen schwarzen Augen freudig an. Asmik war so glücklich, daß sie sich Mühe geben mußte, nicht zu weinen. Kamo redete ihr freundlich zu und strich zärtlich über Asmiks Haar. »Und du, Mutter, weshalb weinst du denn?« rief er. »Ich bin doch am Leben geblieben. Warum weint jeder, der zu mir kommt, anstatt sich zu freuen. Ihr seid komische Menschen. Stirbt jemand — wird geweint. Wird jemand gesund — wird auch geweint. . . « Asmik mußte lachen und wischte sich schnell eine heimliche Träne aus den Augen. » So ist's recht! « rief Kamo. »Lachen ist gesund! « Asmik setzte sich auf den Bettrand und sah Kamo an. Kamos Mutter hantierte in der Küche und ließ die Freunde allein. Sie unterhielten sich leise. »Wie war dir zumute, als die Explosion loskrachte?« fragte Asmik. »Wie mir zumute war? Das läßt sich schwer sagen... Nach der Explosion schien es mir, als würde ich von unsichtbaren Händen hochgehoben und zugleich würde mir heißes Wasser über den Rücken gegossen. Wahrscheinlich wurde ich im gleichen Augenblick auf den Steinhaufen geschleudert. Was dann mit mir geschehen ist, weiß ich nicht mehr. Ich habe nichts mehr gefühlt, bis ich hier wieder zu mir gekommen bin.« Asmik schauerte zusammen. »Wenn du wüßtest, wie schrecklich es war, dich so zu sehen... Wie tot lagst du auf der Bahre.« »Hast du das schon mal erlebt: Du träumst schwer, du weißt, daß es ein Traum ist, willst aufwachen — und kannst nicht? So war es, als ich langsam zu mir kam. . . « »Hast du dich nicht gewundert, daß so viele Menschen um dich herumstanden?« »Ich konnte noch gar nichts denken. Dann begriff ich allmählich, daß mir etwas zugestoßen sein mußte. Alle sahen mich so mitleidig und freundlich an. Ich dachte: Wie kommt es, daß dich alle plötzlich so liebhaben?« Asmik mußte nun doch herzlich lachen. »Wir haben dich auch wirklich alle sehr lieb, Kamo«, versicherte sie lebhaft. »Aber was hast du da? Zeig mal deine Hand. « »Nichts weiter, eine Schramme«, sagte Kamo und versuchte, seine Hand zu verstecken. »Das muß dir doch weh tun. Armer Kerl!« »Ach, nicht der Rede wert... Wenn die Mutter kommt, sage ich es ihr«, sagte Kamo rasch. Aber Asmik hatte schon ein sauberes Taschentuch genommen, feuchtete es an, legte es auf und umwickelte die Hand mit einem Handtuch. Kamo ließ alles widerspruchslos über sich ergehen. Er verfolgte jede Bewegung des Mädchens mit zärtlichen Blicken. Nach einer Weile erneuerte Asmik den Umschlag. »Nun erzähle weiter, Kamo«, bat sie. »Als ich begriffen hatte, was geschehen war, war mein erster Gedanke: Asmik wird geweint haben! Und weißt du — darüber freute ich mich.« »Gefreut hast du dich, weil du mich zum Weinen gebracht hast?... « »Ja... du tatest mir aber auch leid, und ich dachte: du mußt rasch gesund werden, damit Asmik wieder froh ist ...« Asmik sah den Freund zärtlich an. Nach einer Pause sagte sie: »Was hast du dir eigentlich gedacht, als Großvater Assatur neben dir die Kostbarkeiten ausschüttete? Hast du gesehen, was es für prachtvolle Geschmeide waren? ... Gewiß hat sie früher die Fürstin Anaid getragen... Ich konnte mich nicht satt daran sehen.. . « Den ganzen Tag blieb Asmik bei Kamo sitzen, wechselte die Umschläge und plauderte mit ihm. Gegen Abend wurden im Flur Schritte laut, die Tür wurde geräuschvoll aufgerissen, Armjon, Grikor, Seto und Artusch stürzten ins Zimmer. »Ihr seid mir ja die Richtigen. Wir werden in die Hölle geschickt, und ihr drückt euch und macht es euch hier gemütlich!« rief Grikor und fuhr, zu Asmik gewandt, lachend fort: »Du hast uns ein schönes Theater vorgespielt, hast gezittert und gebarmt — ,Ich friere so!'« Kamo wurde von den Freunden umringt und fröhlich begrüßt. Erst jetzt hatte er bemerkt, daß Artusch mit dabei war. Er stand verlegen in einer Ecke des Zimmers neben dem Schrank und drehte seine Mütze in den Händen. Wie die anderen, war er mit Staub und Erde bedeckt. Über Kamos lebhaftes Gesicht huschte ein Schatten. Asmik merkte es, und sie kam Artusch zu Hilfe. »Hier«, sagte sie, »siehst du ein neues Mitglied unserer ,Vereinigung junger Naturforscher'. Artusch arbeitet mit uns in der Höhle und vertritt dich. Seine ganzen dummen Streiche tun ihm schrecklich leid, und wir haben ihm alle verziehen. Du wirst ihm doch auch verzeihen, Kamo?« bettelte sie. Kamo war viel zu gutherzig, als daß er nicht allen Menschen freundlich entgegengekommen wäre. Als daher Artusch näher kam, um Kamo um Verzeihung zu bitten, legte dieser ihm schnell die Hand auf den Mund und sagte in herzlichem Ton: »Laß gut sein, Artusch. Wir werden von jetzt ab gute Freunde sein. Ich hab's mir schon lange gewünscht.« Und die Jungen umarmten sich. Armjon fragte: »Wie fühlst du dich denn, Kamo?«, und er griff nach der Hand des Freundes. »Im Kopf ist noch ein dumpfes Gefühl, aber sonst geht's mir gut. « »Kein Wunder!« lachte Grikor. »Wenn ich eine solche Pflegerin hätte!« - Er sah Asmik schmunzelnd an. »Mein Bein wäre in zwei Tagen gesund... Ehrenwort! « »Hör auf, Grikor, hör schon auf!« zürnte Asmik und zupfte Grikor an seinen schwarzen Locken. »Ich gebe dir mein Wort, daß ich dich pflegen werde, wenn du dich endlich zu der Operation entschließt und dein Bein von den Ärzten geradebiegen läßt. « »Wie ist es mit dem Wasser?« wollte Kamo nun wissen. »Das Wasser wird kommen, wir arbeiten daran... Heute sind wir beim Graben bis zu einer riesigen Steinplatte vor-gestoßen«, sagte Grikor. »Direkt darunter ist das Wasser, das steht fest. Der Stein muß gesprengt werden — und das Wasser wird wie eine Fontäne herausschießen. « Kamo richtete sich aufgeregt im Bett hoch: »Warum haben sich andere in diese Sache eingemischt? Wir haben das Wasser gefunden, und wir müssen es auch sein, von denen das Dorf Wasser bekommt. Versteht ihr — von uns, den Jungpionieren. Es wäre eine Schande, wenn uns irgend jemand zuvorkäme. Für uns ist das eine Frage der Ehre.« »Wir allein hätten es nicht so schnell geschafft, Kamo, und Eile tut not«, erklärte Armjon. »Es war schon recht von ihnen, uns zu Hilfe zu kommen. Wenn das Wasser noch zwei oder drei Tage ausbleibt, geht die Ernte gänzlich zugrunde.« »Wo sind jetzt das Dynamit, die Kapseln und die Zündschnüre?« fragte Kamo. »Alles, was zum Sprengen gebraucht wird, ist in der Höhle«, antwortete Grikor. »Das ist gut, sehr gut«, sagte Kamo. »Ich weiß nun Bescheid.« Kamo reitet zum Dali-Dagh Der Morgen war noch nicht angebrochen; im Dorfe Litschk lag alles noch in tiefem, festem Schlaf. Ein junger Mann ritt auf einem scheckigen, kleinen Pferdchen durch die Morgendämmerung. Am Sattel war ein Ruck-sack befestigt. Es ging im Trab auf die Schwarzen Felsen zu. Verstohlen blickte der junge Mann alle Augenblicke zurück. Er schien Angst zu haben, man könnte ihn einholen. Offenbar wollte er nicht gesehen werden, denn etwas Geheimnisvolles lag in seinem ganzen Gebaren. Als Pferd und Reiter die vom Blitz getroffene Eiche erreicht hatten, saß der junge Mann ab, band das Pferd fest, nahm den Rucksack und kletterte zum Felsen hinauf. Auf dem Gipfel angekommen, blieb er stehen und warf einen prüfenden Blick nach unten. Im Osten begann es Tag zu werden. Die Sterne verloschen, einzig die Venus strahlte noch hell am Himmel. Im hohen Schilf des Gilli-Sees erwachte das Leben. Ein leichter Morgenwind wehte von den Gipfeln des Dali-Dagh herab und kräuselte den glatten Wasserspiegel des Sewan. Die große Was erfläche veränderte von Minute zu Minute ihre Farbe und wurde immer lichter. Wie schön ist das Leben! dachte der junge Mann. Wie herrlich ist die Natur. Welch eine Freude ist es, zu leben und das alles genießen zu dürfen! Gierig sog er die frische Morgenluft ein. Er lebte, hatte teil an dieser hellen, wundervollen Welt! Um wieviel schöner, um wieviel begehrenswerter kam sie ihm jetzt vor, nachdem er so nahe am Tode vorbeigekommen war. Sicherlich konnte niemand so wie er in diesem Augenblick den Wert des Lebens empfinden und das Leben lieben... Die Strickleiter, die an einem Felsblock befestigt war, hing an ihrem Platz. Die Ausflüge zur ,Höllenpforte' waren so zur Regel geworden, daß die Leiter gar nicht mehr abgenommen wurde. Der junge Mann kletterte in der gewohnten Weise hinab und betrat die Höhle. Als er das laute Rauschen des Wassers hörte, klopfte sein Herz vor Freude. Was vor kurzem noch tief im Felsen, unbestimmbar und geheimnisvoll zu hören gewesen war, klang jetzt laut und gebieterisch. Es erschütterte den Granitfelsen. Kein Zweifel, dicht unter der Oberfläche, fast zum Greifen nahe, toste ein reißender Strom. Als Kamo — denn er war es, der sich so früh aufgemacht hatte — die zweite Höhle betrat, sah er, welche gewaltige Arbeit hier in den letzten bei-den Tagen geleistet worden war. Nachdem er eine Laterne angezündet hatte, stieg er in die Mulde und hieb mit einer Spitzhacke auf den felsigen Boden ein. — Immer deutlicher drang das Rauschen des Wassers an sein Ohr. Das Dorf war eben erst erwacht, als sich Grikor, Armjon, Seto und Asmik schon den Schwarzen Felsen näherten. Doch noch ehe die jungen Freunde ihr Ziel erreicht hatten, klang aus dem Innern des Berges eine gewaltige Detonation. Durch den Höhlenausgang wälzten sich dicke Rauchwolken ins Freie. Was bedeutete das? War dort oben der Teufel am Werk?... Keiner von den dreien kam auf den Gedanken, daß es Kamo sein könnte, der gestern noch krank im Bett gelegen hatte. Wie sollte er denn in der Nacht allein auf die Schwarzen Felsen gelangen; und wo sollte er nach seinem Unfall die Kräfte her-nehmen, um die angefangene Arbeit zu vollenden? Asmik bekam Angst: »Wir wollen lieber umkehren«, rief sie. Doch da hatte Seto das angebundene Pferd entdeckt und jubelte los: »Kamo ist oben, natürlich, Kamo... « Und er kletterte rasch den anderen voraus. Asmik war ganz entsetzt. »Er ist aber doch krank. Seine Hand ist auch noch nicht heil.« Grikor trieb die Freunde an: »Als ob sich Kamo um so was kümmerte.« Er hielt die Hände trichterförmig an den Mund und schrie: »Kamo, wir kommen! Wir sind gleich bei dir.« Der ersten Detonation waren noch weitere gefolgt. Im Dorf schraken die Leute zusammen, und die Kolchosarbeiter blickten erwartungsvoll zu den Bergen empor. Auch Kamos Eltern erschraken, als sie die Detonationen hörten. Die Mutter ging in die Stube ihres Sohnes, und fast hätte ihr Herz ausgesetzt, als sie ihn nicht im Bett vorfand. Voller Angst stürzte sie zu ihrem Mann: »Kamo ist auf und davon. Sicher ist er zu den Schwarzen Felsen gegangen. Er war doch noch viel zu schwach! « Kamos Eltern hatten sich noch nicht so recht von den Aufregungen der letzten Tage erholt, und nun diese neue Sorge. Der Schmied lief Hals über Kopf aus dem Hause und den Weg entlang, der zu den Schwarzen Felsen führte. »Kamo ist wieder losgezogen in diese Teufelshöhle!« zeterte Sona, als sie vom Dache ihres Hauses sah, wie der Schmied den Bergen zueilte. Auch der Kolchosvorsitzende Bagrat wurde von der allgemeinen Aufregung angesteckt, und Aram Michailowitsch kam mit sorgenvollem Gesicht auf die Straße gelaufen. Als Artusch hörte, daß die Kameraden ohne ihn aufgebrochen waren, stürmte er, so schnell es ging, hinter ihnen her. Auch ein paar andere Schüler folgten ihm. »Komm, Aram Michailowitsch«, wandte sich Bagrat an den Lehrer, »wir wollen sehen, was unser Kamo und seine Freunde machen... Asmik ist auch dabei. Als es noch dunkel war, ist sie davongeschlichen«, sagte Bagrat, aber er lächelte gutmütig. »Wie anders war doch unsere Jugend! Wenn ich mir diese jungen Leute ansehe, wie sie an nichts anderes denken als daran, ein nützliches Werk für ihre Sowjetheimat zu voll-bringen, und das mit unserer ziellosen Jugend vergleiche. . . « In diesem Augenblick überholten sie Artusch und die anderen Schüler, die auch zu den Schwarzen Felsen wollten. Der Kolchosvorsitzende rief sie an: »He, Jungens, wohin wollt ihr mit leeren Händen? Zu einer Hochzeit vielleicht? Das ist ja Anarchie!... Zurück mit euch! Nehmt Spaten, Schaufeln und Spitzhacken... Ach, da kommt ja auch Großvater Assatur! Er will also auch hinauf in die Berge! « Sona stand wie immer auf dem Dach und schrie hinter ihnen her: »Seto, he, Seto! Du Strolch, du Taugenichts, komm zurück, bleibe weg von der verfluchten Höhle!. . .« »Schreist du dir schon wieder den Hals aus, Alte?« rief der Großvater vorwurfsvoll und schüttelte den Kopf. »Was hat dir der Herrgott auch für ein Stimmchen gegeben! Schweige lieber mal ein Weilchen.« Begleitet von seinem treuen Tschambar, schlug der Großvater ebenfalls den Weg zu den Schwarzen Felsen ein. Bald hatte sich eine große Menschenmenge auf dem Gipfel eingefunden. Die Dorfjugend schrie und lärmte. Einige der Mutigsten ließen sich sogar an der Strickleiter hinunter und verschwanden im schwarzen Schlund der ,Höllenpforte'. Weiter unten, an der Schlucht, hatten sich die Kolchosarbeiter auf den Abhängen versammelt; sie reckten die Hälse und blickten gespannt nach oben. Als der Großvater bei der verkohlten Eiche anlangte, fand er Asmik dort vor. Die Freunde hatten sie diesmal nicht mit in die Höhle genommen. Als Asmik den Alten erblickte, lief sie ihm entgegen. »Großväterchen, dürfen wir beide denn nicht in die Höhle?« rief sie. »Wieso denn nicht? Kann ohne uns etwas Gescheites dabei herauskommen, Töchterchen?« sagte der Großvater ehrlich er-staunt. »Komm nur, Asmik. Wir gehen ihnen nach.« Die beiden hatten den Gipfel noch nicht erreicht, als Sonas kreischende Stimme aus nächster Nähe ertönte. Sie war mit den anderen bis zur Schlucht hinaufgekommen. »He, Seto! He, wo bist du? Willst du machen, daß du heraus-kommst!« Und sie schwenkte verzweifelt die Arme. In diesem Augenblick tauchte Seto wirklich im Höhleneingang auf. Er strahlte und war sehr aufgeregt. »Warte, warte, Mutter!« rief er in die Schlucht hinab. »Bald ist es soweit. Noch eine Sprengung, und wir werden wissen, ob da unten. . . « Seto sprach den Satz nicht zu Ende, sondern sprang plötzlich davon, stürzte auf die Strickleiter zu und hastete sie eilig hinauf. Auch die anderen Jungen kamen aus der Höhle gelaufen, und in größter Eile erklommen sie ebenfalls die Strickleiter. Grikor winkte den Kolchosarbeitern, die sich auf den Abhängen drängten, zu und hüpfte auf seinem gesunden Bein den Kameraden nach, die schon auf dem schmalen Pfad, der sich längs der Felsen hinzog, nach unten eilten. »Nein, dieser Grikor!« rief jemand. »Immer ist er vergnügt... « Ein ohrenbetäubendes Getöse unterbrach ihn; die Schwarzen Felsen erbebten, und eine Feuerwolke wälzte sich aus der »Höllenpforte« heraus. Plötzlich ergoß sich donnernd und to-send ein Wasserstrom aus der Höhle in die Schlucht... Er floß aus dem dunklen Schlund der ,Höllenpforte', aus seinem Gefängnis befreit, in dem er seit Jahrhunderten eingekerkert war, und stürzte in sprühenden Kaskaden mit ungeheurer Wucht in die Schlucht hinab. Der mächtige Strom eis-kalten,klaren Wassers prallte prallte gegen die vorspringenden Felsen, sprühte, glitzerte und funkelte in der Sonne wie Myriaden von Edelsteinen. Unbeschreibliche Freude und Begeisterung ergriff die Kolchosmitglieder. Im ersten Augenblick hatte es ihnen die Sprache verschlagen; stumm standen sie da und starrten mit glühenden Augen auf das silberne Band, das sich schäumend und sprudelnd von dem dunklen Hintergrund der Granitfelsen abhob... Doch dann brach der Jubel los. Mützen flogen in die Luft. Die Menschen fielen sich in die Arme, beugten sich nieder und küßten das Wasser... Es war ein wahrer Freudentaumel. Wütend bellte Tschambar das Wasser an, das sich in die Schlucht ergoß. Er konnte nicht begreifen, daß sich dort, wo er eben noch über trockene spitze Steine gelaufen war, jetzt ein reißender Fluß hinwälzte. Plötzlich erschien auch Kamo am Rande der Höhle. Von unten sah er ganz klein aus. Er stand auf dem Felsvorsprung, ganz vorn auf der glatten steinernen ,Lippe', an der Armjon und der Lehrer zuerst erkannt hatten, daß vor Jahrhunderten Wasser darübergeströmt sein mußte... Kamo strahlte. Stolz und befriedigt blickte er auf den reißen-den Strom, dem er und seine Freunde die Freiheit gegeben hatten. Kamo war unbeschreiblich glücklich. Es war ihnen nach vielen Mühen gelungen, einen jahrhundertealten Traum zur Wirklichkeit zu machen. Die Freunde und die Kolchosarbeiter winkten mit ihren Mützen und schrien ihm etwas zu. Weiter unten, an der zerschmetterten Eiche, scharrte sein angebundenes Pferdchen ungeduldig mit den Hufen und wieherte aufgeregt, wenn die kalten Wasserspritzer seinen Rücken trafen. Als Kamo unten ankam, wurde er von seinen Eltern, den Freunden und den Kolchosmitgliedern umringt. Jeder wollte den tapferen Jungen umarmen. Sogar der sonst so derbe Bagrat war heute nicht wiederzuerkennen. Er strahlte über das ganze Gesicht. Großvater Assatur kam herbei und umarmte seinen Enkel. Aufgeregt rief er: »So ist's, ihr Leute. .. Eine Hölle gibt es hier gar nicht. Unsere Enkel sind klüger als die Großväter... Was würde Gevatter Mukel sagen? Du solltest einmal herauskommen aus deinem Grab und sehen, was unsere Jugend in deiner ,Hölle' gefunden hat. . .« Der Großvater war so in Fahrt, daß er gar nicht merkte, daß ihm niemand mehr zuhörte. Alle hatten ihre Schaufeln und Spaten genommen und arbeiteten fieberhaft daran, den Wasser-massen ein Bett zu bereiten. Unter der sachkundigen Anleitung der Geologen wurde ein Zufluß zu dem alten Kanalbett gegraben. Das Wasser sollte an der Stelle in den Kanal münden, an der vor kurzem noch der ,Wassergott' gestanden hatte, der inzwischen im Museum in Jerewan aufgestellt worden war. Einmal in das Kanalbett gelangt, floß das Wasser gezähmt und ruhig zu Tal, den Kolchosfeldern entgegen. Es brachte der durstenden Erde Feuchtigkeit und neues Leben. Die Kolchosarbeiter hatten vom Flußbett aus Zuleitungsgräben zu den Feldern gelegt, die sich jetzt glucksend füllten. Gierig sogen die Wurzeln der Pflanzen die lang entbehrte Feuchtigkeit auf. Es schien, als atme die durstige Erde und flüstere: Mehr.., mehr.., mehr! Ein kleiner Seitenarm war bis zum Dorf selbst geleitet worden; er mündete in das ausgedörrte Bett des Baches und in den von den Jungpionieren angelegten Teich. Asmik war, außer sich vor Freude, zu ihrem Geflügelhof gelaufen. Sie öffnete das Tor weit und trieb ihre Schützlinge zum Teich. Die Gänse und Enten stürzten sich mit lautem Geschnatter in das Wasser. Aber nicht nur die Wasservögel lebten auf, auch die Bienenvölker gerieten in Aufruhr. Bald schwirrten und summten sie über den erfrischten Feldern, und überall zog neues Leben ein. Laut und fröhlich ging es an diesem Tage im Dorfe Litschk zu. Nur einer, der die alten Bauern seit Jahrhunderten in Angst und Schrecken versetzt hatte, war verstummt: der ,Wasser-mann! Am Abend fand eine Versammlung auf dem Dorfplatz statt. Die Helden des Tages waren Kamo und seine Freunde. Aram Michailowitsch schüttelte ihnen die Hand und wünschte ihnen Glück: »Solange unser Sowjetland solche jungen Menschen wie euch hat«, rief er, »wird unser Leben erfolgreich und glücklich sein.« Warum der `Wassermann` verstummte Wenn man am östlichen Ufer des Sewan, mit dem Rücken zum See gekehrt, auf die Felder des Dorfes Litschk blickt, könnte man fast meinen, daß dort, vom Winde leicht bewegt, ein zweiter großer See liege. Es sind die goldenen Wogen des üppig heranreifenden Weizens. Mähdrescher fahren langsam über die Felder. So oft der Gruppenführer Owsep den Arm hebt und »Stop!« sagt, bedeutet dies, daß der »Speicher« der Maschine voll ist und entleert werden muß. Ein Lastauto fährt heran, und über eine Rinne fließt das goldgelbe Getreide in den Wagenkasten. Das Auto fährt wieder ab und bringt seine kostbare Last zum Kolchosspeicher. Als die Umladung gerade beendet war, kamen Seto und Artusch zu Owsep. »Dürfen Artusch und ich mit ins Dorf fahren?« bat Seto. »Der Sekretär hat uns hinbestellt.« »Welcher Sekretär?« brummte Owsep. »Der Sekretär unseres Jugendverbandes — Kamo.« »Wenn Kamo euch bestellt hat, dann geht schon — ohne Grund wird er euch nicht von der Arbeit wegrufen. Es muß also wohl etwas Wichtiges sein.« — Die jungen Naturforscher des Dorfes hatten sich bei Kamo auf der Veranda versammelt. Nachdem auch Seto und Artusch gekommen waren, sagte er: »Jetzt sind wir wohl vollzählig beisammen. Es muß eine wichtige Frage geklärt werden. Weshalb ist der ,Wassermann' im Gilli-See plötzlich verstummt?« »Ja, richtig«, meinte Artusch, »man hört ihn ja gar nicht mehr.« Grikor spaßte: »Der hat sicher Angst vor uns!« Obgleich Kamo lachen mußte, wies er den Freund zurecht: »Laß die dummen Scherze, wir müssen dem Geheimnis auf die Spur kommen, um endlich den närrischen Aberglauben der alten Leute im Dorf auszumerzen. Ich denke, wir machen es so, wir teilen uns in zwei Gruppen — die eine geht zu den Schwarzen Felsen hinauf, die andere zum Gilli-See.« »Er brüllt nicht mehr, damit ist doch alles gut«, meinte Seto. Aber Grikor widersprach: »Die Leute im Dorf haben seine Stimme von klein auf gehört. Nun ist er mir nichts, dir nichts verstummt. Es wird ihnen keine Ruhe lassen.« »Wir müssen doch aufklären, woher das Gebrüll kam«, sagte Armjon. »Wie sollen wir das aufklären?« riefen alle durcheinander. »Wir haben doch einen Gelehrten unter uns«, lachte Kamo und zwinkerte Armjon zu, »er weiß es, aber er will es uns nicht sagen. Wir sollen es selber rauskriegen.« Diesmal lehnte sich Asmik auf: »Solange ich nicht weiß, wie ihr das Geheimnis aufklären wollt, gehe ich nirgends hin«, sagte sie und zog sich gekränkt auf die andere Seite der Veranda zurück. »Immer solche Geheimnistuerei, so ein dummes Rätselraten. — Spiel dich doch nicht auf, Armjon.« »Na gut, wer kann mir denn sagen, warum wir, seitdem das Wasser aus der Höhle fließen kann, den ,Wassermann' nicht mehr gehört haben?« fragte er. Alle schwiegen. »Ich habe viele Leute gefragt — und niemand hat ihn mehr gehört«, fuhr Armjon fort. »Ist es da nicht klar, daß zwischen dem Wasser, das in den Schwarzen Felsen eingeschlossen war, und dem ,Wassermann' im Gilli-See eine Verbindung bestehen muß?« Asmik drehte sich um: »Ach«, rief sie, »jetzt habe ich verstanden. .. Ich bin aber dumm! Kommt, wir wollen gleich gehen.« »Du hast etwas verstanden — aber nicht alles. Ein Zusammenhang besteht. Warum aber der ,Wassermann' so gebrüllt hat, weiß keiner von uns. Und das müssen wir rauskriegen«, sagte Armjon und stand auf. »Seto, unser Gelehrter braucht zwei Säcke mit feinem Stroh. Beschaffe also zwei leere Säcke und fülle sie an den Dreschmaschinen!« sagte Kamo. »Aber vergiß nicht, es muß ganz feines Stroh sein! Du, Grikor, gehst zum Gruppenführer Owsep und bittest ihn, er möchte uns einen Esel mitgeben, der die Säcke mit dem Stroh, die Spitzhacken und das übrige Werkzeug tragen kann. Dann geht ihr mit Armjon zu den Schwarzen Felsen. Alles, was Armjon sagt, wird widerspruchslos ausgeführt! ... Ich gehe mit Asmik und dem Großvater zum See... Artusch geht mit euch. Er hat Mut und wird euch vielleicht nützlich sein.« Bald waren beide Gruppen zum Aufbruch bereit. »Das Wichtigste haben wir noch gar nicht verabredet, Kamo« , sagte Armjon. »Wann kannst du am See sein?« »Wann soll ich da sein?« »Wann? Warte, ich will mal nachrechnen. Um ein Uhr wer-den wir auf den Schwarzen Felsen sein. Um zwei Uhr in der Höhle. Wir haben ungefähr eine halbe Stunde da zu tun... Wieviel Kilometer werden es von den Schwarzen Felsen bis zum Gilli sein?« »Ungefähr fünf.« »Fünf, meinst du? Wenn man das Gefälle des Berges in Betracht zieht, muß man rechnen, daß das Wasser ungefähr dreißig Minuten braucht... Du nimmst also genau um drei Uhr mit dem Fotoapparat deinen Platz an der Stelle ein, an der wir damals die Aufnahme vom ,Wassermann' gemacht haben. Du mußt gut aufpassen und den Finger am Auslöser halten. Drücke ab, wenn es soweit ist.« Asmik brannte bei diesen geheimnisvollen Reden vor Neugier und trat von einem Fuß auf den anderen. »Nun kommt doch endlich, worauf wartet ihr noch?« Bald darauf gingen Kamo und Asmik zum Dorf hinaus. Als sie die Felder erreicht hatten, schloß sich ihnen der Großvater Assatur an. Das Gewehr hing ihm über der Schulter. Ruhig und gemessen ging er neben den jungen Leuten her und war sichtlich zufrieden mit allem. Nachdem die Last des verborgenen Schatzes ihm von der Seele genommen war, hatte der Großvater seinen friedlichen Gesichtsausdruck wiederbekommen. Seine Augen waren wieder blank und leuchteten. »Großväterchen, ist dir nicht aufgefallen, daß zugleich mit dem ,Wassermann' der Rechnungsführer Mesrop still geworden ist?« »Ein dummer Mensch ist dieser Mesrop«, seufzte der Großvater. »Alle andern sind klüger geworden, nur in seinem Kopf ist es so dunkel geblieben, wie es war... Ein rechter Einfaltspinsel ist er. Ja, ja, unwissende Menschen sind wir gewesen. . .« Der Großvater schwieg eine Weile, sog zwei-, dreimal an seiner Pfeife und fuhr dann fort: »Mesrop ist deshalb still geworden, weil man ihn gezwungen hat zu schweigen. Von selbst wird so ein dummer Geselle wie der den Mund nicht halten... Als ihr das Wasser ins Dorf geleitet habt, hat ihn Bagrat so heruntergeputzt, daß es aussah, als wolle er ihn in Stücke reißen. Na, du weißt ja, wie hitzig der Vorsitzende sein kann. —,Hör auf mit deinem Gewinsel, sonst nehme ich dich so in die Zwicke, daß deine krumme Seele auf einmal gerade wird. . .'« Asmik mußte lachen. Sie stellte sich den hageren, bleichen Mesrop vor, wie er von dem kräftigen Onkel Bagrat in die Zwicke genommen wird. »Du lachst, Asmik? Meinst du denn, Onkel Bagrat hätte das nicht getan? Bestimmt hätte er's getan. Guck dir mal an, was für einen feinen Kolchos er aufgebaut hat. — Was hast du vor-hin gesagt, Kamo?« fragte der Alte. »Ihr wollt das Wasser in der Höhle festhalten. Warum denn das?« »Das ist Armjons Geheimnis.« Sie kamen an das Ufer des Flusses, von dem gesagt wird, er sei der kürzeste Fluß der Welt. Der Großvater blieb erstaunt stehen. »Der ist ja so seicht geworden. Meinst du nicht auch, Kamo?« »Wie sollte er nicht, Großväterchen? Wir sind doch schon im August.« »Wenn auch! Dieser Fluß ist auch in den trockensten Jahren im August nicht so seicht gewesen«, beharrte der Alte. Kamo lächelte schalkhaft. Er sah, daß Asmik vor Neugierde fast umkam. »Du bist genau wie Armjon«, schmollte sie, »du machst aus allem ein Geheimnis. Sag doch endlich, worum es sich handelt! « drängte sie ungeduldig. »Was soll ich da noch viel sagen? Ist es dir noch nicht klar? Das Petroleum, das wir in den Bergsee gegossen haben, ist doch im Gilli wieder zum Vorschein gekommen!« »Na ja — und weiter?« »Wenn wir das jetzt machen würden, würde das Petroleum nicht mehr in den Gilli-See fließen, sondern zum Beispiel in deinem Gänseteich landen.« »Wieso?« staunte der Großvater. »Ihr seid aber begriffsstutzig! Es ist doch ganz klar. Das Petroleum gerät in den Strom, der aus der ,Höllenpforte' bergab fließt, kommt in den Kanal, aus dem Kanal auf unsere Felder, in unseren Dorfbach und in den Teich... « »Was ihr alles fertiggebracht habt«, wunderte sich der Alte, der nun endlich begriffen hatte, wie alles zusammenhing. »Ich hab' es erst gar nicht verstehen können.« »Dein Gevatter Mukel hätte es ganz gewiß auch nicht verstanden«, sagte Kamo und lachte. Auch Asmik brach in schallendes Gelächter aus. Der Gevatter Mukel war für den Großvater eine wahre Autorität, eine nie versiegende Quelle, aus der der alte Jäger immer neue Lebensweisheiten schöpfte. Am Flußufer fanden sie ein Fischerboot. Sie schoben es ins Wasser und fuhren damit durch die zahllosen Kanäle und Becken des Sees zu dem merkwürdigen, im Wasser schaukelnden Inselchen, das keinen rechten Boden hatte. »Erinnerst du dich noch, wieviel Eier wir vor anderthalb Jahrer auf dieser Insel gesammelt haben?« fragte Asmik. »Natürlich erinnere ich mich«, sagte Kamo und nickte. »Wer weiß, ob sich unser Inselchen nicht von seinem ,Anker' losgerissen und zu einer treibenden Insel geworden ist?... Großväterchen, sieh nur die vielen Enten!« sagte Kamo. »Es ist aber komisch, daß sie nicht wegfliegen. Gib mir doch mal dein Gewehr.« Er streckte die Hand aus. »Ich werde sie gleich auf-schrecken. Wie kommt es nur, daß sie nicht auffliegen? Haben sie denn keine Angst?« Tschambars Jagdeifer wurde wach; er winselte ungeduldig und wollte aus dem Boot springen. »Es ist wirklich komisch«, meinte Asmik, »auf dem Wasser ist keine einzige Ente zu sehen; sie sitzen alle im Schilf. Es müssen wohl noch junge sein.« »Gib mir doch das Gewehr«, bat Kamo noch einmal. Aber der Großvater gab es nicht. »Jetzt darf man nicht schießen«, erklärte er. »Es sind keine Jungen, aber sie wechseln jetzt ihre Federn, und solange sie keine neuen Federn haben, können sie nicht fliegen. Solche Vögel darf man nicht schießen... Die Entenmütter wechseln erst dann ihr Federkleid, wenn die Jungen herangewachsen sind und anfangen, sich ihr Futter selber zu suchen. Jetzt darf die Entenmutter an sich denken... Ja, Kinder, in der Natur ist alles klug bedacht. . .« Sie waren bei dem schaukelnden Inselchen angelangt. Der Großvater und Asmik stiegen aus, während Kamo weiterfuhr. Tschambar blieb bei ihm im Boot. Nachdem Armjon mit seinen Gefährten den Berggipfel erklommen hatten, zogen sie Schuhe und Strümpfe aus, krempelten die Hosenbeine bis über die Knie hoch, banden sich die Säcke mit dem Stroh auf dem Rücken fest und ließen sich an der Strickleiter zur Höhle, in den reißenden Strom hinab. Das Schmelzwasser, das aus dem Kratersee kam und hier hervorsprudelte, war so kalt, daß sie zusammenschauerten und eine Gänsehaut bekamen. Doch die unternehmungslustigen jungen Leute ließen sich nicht so schnell abschrecken. Beim schwachen Lichtschein einer Taschenlampe drangen sie weiter ins Innere der Höhle vor. Es war nicht ganz einfach, denn die Strömung war so stark, daß sie ständig in Gefahr waren, um-gerissen zu werden, und die schlüpfrigen glatten Wände boten kaum einen Halt. Unverdrossen drangen die Jungen weiter vor. Völlig durchnäßt erreichten sie schließlich die zweite Höhle, in der sie an der Seite einen trockenen Felsvorsprung fanden, auf dem sie Atem schöpfen konnten. »Nur gut, daß wir den Zugang verbreitert hatten«, sagte Grikor. »Ihr habt ihn verbreitert?« wunderte sich Artusch. »Dann habt ihr also von Anfang an gewußt, daß ihr Wasser finden und daß es durch diesen Ausgang ausströmen würde?« »ja, es gab viele Anzeichen dafür, das hatten wir schon lange festgestellt«, sagte Armjon ernst wie ein richtiger Gelehrter. »Und was wäre passiert, wenn wir den Zugang nicht verbreitert hätten?« fragte Grikor. »Du wärst, zusammen mit dem Wasser, wie ein Sektkorken kopfüber in den Abgrund geflogen«, rief Seto lachend. »Und das alles ohne Rettungsring«, meinte Grikor und ging auf den Spaß ein. »Aber jetzt los, an die Arbeit. Sonst wird Kamo die Zeit lang. Und wenn er nicht auf-paßt, versinkt er wieder im Sumpf. « Die Freunde gingen dicht an die Mulde heran, die sie aus dem Felsen herausgesprengt hatten. Das Wasser schoß mit ungeheurer Gewalt gegen die Wände des Beckens; es wurde sprudelnd und schäumend herumgewirbelt und floß dann als reißender Strom dem Ausgang der Höhle zu. Das unheimliche Getöse erstickte jeden anderen Laut. Die jungen Naturforscher bekamen nun doch etwas Angst. Fürchteten sie, von der gewaltigen Strömung erfaßt und verschlungen zu werden, oder glaubten sie gar, die Felswände könnten einstürzen? Sie hatten die Säcke mit dem Stroh abgesetzt, hockten sich darauf und blickten auf das tobende Wasser. »Was wird nun?« fragte der sonst so unerschrockene Seto ängstlich.     Armjon stand auf, trat an den Rand der Mulde und sagte, indem er die Wände ableuchtete: »Seht ihr das zugemauerte Loch? Früher ist das Wasser hinter diesem Loch in das Innere des Berges geflossen. Nach der letzten Sprengung hat es die Richtung geändert und den Weg eingeschlagen, auf dem es jetzt fließt. Handwerker aus dem Kolchos haben das Loch dann zugemauert. Jetzt müssen wir es wieder aufbrechen und das Wasser auf seinen früheren Weg zurückleiten.« »Den Kanal trockenlegen? Willst du dem Dorf das Wasser entziehen? Ist das dein Ernst? Was werden die Leute sagen? Was sollen sie von uns denken?« »Das ist alles schon mit Onkel Bagrat besprochen. Im Augen-blick wird das Wasser nicht unbedingt gebraucht. Heute kommen sie im Dorf so aus, und morgen wird das Loch wieder zu-gemauert.« »Aber die Öffnung liegt doch höher als der Wasserspiegel«, wandte Artusch ein. »Das Wasser wird nicht wieder hinein-fließen. « »Das läßt sich leicht beheben. Wir werden den Ausgang des Beckens mit Steinen verschließen, dann wird das Wasser steigen und wird wieder wie früher durch das Innere des Berges fließen und im Gilli-See münden. Kamo steht mit dem Fotoapparat in der Hand dort und wartet darauf«, erklärte Armjon. Damit waren die Freunde nun endlich in das Geheimnis eingeweiht. »Und wenn das Wasser aber gar nicht in den Gilli fließt, sondern in eine andere Richtung?« fragte Seto. »Gerade um das zu erfahren, müssen wir den Versuch machen. Deshalb paßt Kamo ja unten am See auf. Er wartet auf eine Botschaft von uns. Wir werden es also versuchen. Du, Grikor, nimm die Spitzhacke und fang an, wir werden die Steine heranschaffen und aufschichten. Los, Freunde!« Mit der Fertigkeit eines sachkundigen Maurers schlug Grikor mit einigen kräftigen Hieben ein Loch in die Zementwand. »Wenn ich da reinklettere«, rief Grikor, »werde ich im Gilli wieder auftauchen?« »Versuche es doch, wir werden ja sehen...« »Das wäre eine schöne Geschichte!« sagte Artusch. »Kamo steht mit dem Fotoapparat und wartet. Plötzlich — ein fürchterliches Brüllen, eine Wassersäule schießt in die Höhe, und auf der Spitze sitzt unser Grikor. Aber lieber nicht, Kamo würde vor Schreck das Knipsen vergessen.« »Wißt ihr was«, rief Grikor, »ich schicke Kamo meine Mütze; da wird er sich aber wundern«, und er schleuderte seine alte Mütze in den Spalt. Die Jungen lachten, dann sagte Armjon: »Seto, bringe die Säcke.« Das Stroh wurde in den Felsspalt geschüttet, und die Jungen füllten das Becken mit Steinen, um das Wasser abzudämmen. Rasch stieg das Wasser bis an den Rand, und als es den Spalt erreicht hatte, ergoß es sich tosend in sein altes Flußbett, das unter der Erde lag und von dem niemand genau wußte, wohin es führte. Der Felsen erbebte unter dem ungeheuren Druck des Wassers. Die Jungen warteten etwa eine Viertelstunde und nahmen dann die Steine wieder aus dem Becken heraus. Der Wasserspiegel senkte sich. Wieder floß das Wasser dem Ausgang der Höhle zu und stürzte in silberschäumenden Kaskaden in die Schlucht hinab. »Kommt«, sagte Armjon, »hier oben sind wir fertig.« Naß und schmutzig traten die jungen Forscher den Rückweg an. Das blendende Sonnenlicht eines strahlend schönen Augustnachmittags umfing sie, als sie ins Freie kamen. Der „Wassermann“ brüllt zum letzten Male Kamo stand auf einem Haufen trockenen Schilfes. Vor ihm lag der Gilli-See im prächtigen bunten Herbstgewand. Die Schilfwände an den Ufern des Sees und die verstreuten Schilfinselchen leuchteten gelblichgrün. Ringsum war es still. Es schien Kamo, als sei der Wasserspiegel stark gesunken. Wovon mochte das kommen? Von der Hitze und Dürre des Sommers, oder vielleicht dadurch, daß der Zufluß aus dem Innern der Schwarzen Felsen aufgehört hatte? Das Schilf hatte sich gelichtet; auf der kleinen Insel war es dürr und gelb, und Kamo drang ohne besondere Mühe zu der Stelle vor, an der er damals beinahe ertrunken wäre. Tschambar stand neben ihm. Mit gespitzten Ohren folgte' er Kamos Blicken und betrachtete aufmerksam die Gegend. Der Hund schaute mißmutig drein, als wollte er fragen: Welchen Sinn hat es, hier so untätig herumzustehen? ... Den Zauber des in der Sonne flimmernden Wassers und der herbstlichen Farbenpracht konnte Tschambar nicht mitempfinden. Das überstieg die Grenzen seines Hundeverstandes. Kamo sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Er nahm den Fotoapparat aus dem Futteral und prüfte, ob alles in Ordnung sei. Reglos stand er da und hielt den Apparat auf die Mitte des Sees gerichtet. Die Zeit kam ihm sehr lang vor. Kamo, der sowieso nicht gern wartete, wurde ungeduldig. Ruhig und friedlich lag der See vor ihm. Nur hin und wieder kräuselte ein leiser Windhauch die glatte Wasserfläche. Damals, im Frühling, war der See bewegt gewesen, große Wasserblasen und Ringe hatten sich gebildet, sie liefen aus-einander und waren schließlich am Ufer zerflossen. Und heute! - Vom ,Wassermann' keine Spur. Höchstens der Schatten eines Raubvogels, der über den See strich und nach Beute Ausschau hielt, huschte flüchtig über den glatten Wasserspiegel. Es war so still und so friedlich, daß Kamo sein Herz schlagen hörte. Die Füße schliefen ihm ein, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Angespannt starrte er auf die Seemitte hinaus. Plötzlich geriet der See in Bewegung. Es brodelte, große Blasen stiegen auf, sie platzten und hinterließen Ringe, die sich allmählich im Wasser verliefen. Plötzlich stieg wie ein riesiger Pilz in der Mitte des Sees eine ungeheure Wasserblase hoch, und gleichzeitig ertönte das schreckliche Gebrüll des ,Wassermanns'. Wellen schlugen hoch, liefen auseinander und zerschellten leise plätschernd an den Ufern. Tschambar war aufgesprungen. Mit wütendem Gebell wandte er sich dem unbekannten Gegner zu. Kamo war befriedigt, und er murmelte vor sich hin: »Du hast aufgehört, ein Rätsel zu sein, und kannst uns nicht mehr erschrecken. Wir wissen, was mit dir los ist.« Eine Menge Stroh trieb auf dem Wasser umher, und Kamo sah noch irgend etwas Dunkles — vielleicht ein Igel oder ein totes Wasserhuhn? —, es wurde immer näher ans Ufer getrieben. »Das ist ja eine Mütze!« rief Kamo erstaunt aus. »Wie kommt denn die hierher?« Er brach ein Schilfrohr ab und fischte sie heraus. Tschambar hatte sich sofort auf die Mütze gestürzt; er entriß sie Kamos Händen und beschnupperte sie von allen Seiten. Dann blickte er den Jungen aus seinen klugen Augen an, als wenn er sagen wollte: Schau sie dir nur einmal richtig an, fällt dir nichts auf? »Das ist ja Grikors Mütze!« rief Kamo aus. »Tschamba-ruschka, Guter, was ist mit unserem Grikor geschehen?« Dieser Zwischenfall beunruhigte Kamo sehr. War etwas passiert? Hastig kehrte er zum Boot zurück und fuhr zu der Insel, auf der er Asmik und den Großvater zurückgelassen hatte. »Erzähle, was war los? ... Das Brüllen haben wir gehört.« Asmik überschüttete Kamo mit Fragen. »Was hast du gesehen? Wie sieht der ,Wassermann' aus?« Asmiks Ungeduld war so groß, daß sie es gar nicht abwarten konnte. Kamo berichtete, was er beobachtet hatte. »Doch das alles ist Nebensache, Großväterchen«, rief er. »Wichtig ist, daß hinterher Stroh an der Oberfläche trieb. Das haben die Freunde mit in die Höhle genommen.« »Du meinst also, die Wassersäule kommt von den Schwarzen Felsen her?« fragte der Großvater ehrlich erstaunt. »Ja, von den Schwarzen Felsen... Oder, richtiger gesagt, vom Dali-Dagh, aus dem Gebirgssee.« »So, und über den Gevatter Mukel und seinen Knotenstock habt ihr euch lustig gemacht! Nun stimmt es also doch. Und der ,Wassermann'?« »Großväterchen, du hast doch alles verstanden? Von welchem ,Wassermann' redest du?« »Ja, wer brüllt denn?« »Das Gebrüll hängt mit dem Wasser zusammen... Danach wollen wir aber lieber Aram Michailowitsch und Armjon fragen; die werden uns genau erklären, wodurch es entsteht.« »Ja, sie werden es wissen. Aber warum brüllt denn das Wasser nicht, wenn es aus einer Quelle herausfließt?« fragte Asmik. Der Großvater strich nachdenklich seinen Bart. Alles, was er sich im Laufe seines langen Lebens im Kopfe zurechtgelegt hatte, erwies sich als falsch, und das war schwer zu begreifen. »Asmik hat recht«, sagte er. »Weshalb soll das Wasser brüllen, das aus dem Berg sprudelt? Dahinter steckt doch etwas anderes.. . « Und der Alte schüttelte zweifelnd den Kopf. »Weshalb siehst du so sorgenvoll aus, Kamo?« fragte Asmik. »Du hast doch eben eine große Entdeckung gemacht, und du freust dich gar nicht?« »Ja! Ich habe Grikors Mütze im See aufgefischt. Und das läßt mir keine Ruhe.« Er hob Grikors nasse Mütze vom Boden des Bootes auf und zeigte sie Asmik. »Sie wurde zusammen mit dem Stroh an die Oberfläche geschleudert. Ich habe so große Angst, daß Grikor etwas zugestoßen ist.« »Ist Grikor vielleicht in den unterirdischen Strom gestürzt?« rief Asmik entsetzt. »Komm schnell heim. Worauf wartest du noch?« Sie eilte den beiden voraus zum Boot. Beim Rudern wechselten sie sich ab, um schneller vorwärts zu kommen. — Endlich hatten sie das Ufer erreicht. Kamo und Asmik sprangen ans Land und liefen, so rasch sie konnten, dem Dorfe zu. Tschambar jagte hinterher. Auf dem Weg zwischen den Feldern, kurz vor dem Dorfe, kamen ihnen Seto, Artusch, Armjon und Grikor entgegen. Asmik stürzte auf Grikor zu und fiel ihm um den Hals. Auch Kamo umarmte den Freund. »Lebst du, lebst du wirklich, Grikor?« fragte er, indem er ihn von allen Seiten betrachtete. Warum sollte ich denn gestorben sein? wollte Grikor fragen, erriet jedoch gleich den Zusammenhang, als er seine nasse Mütze sah. »Du mußt nicht weinen, Asmik«, rief Grikor und strich ihr zärtlich über das Haar. »Ich lass' mich schon nicht so leicht umbringen. Bin ich denn ein Narr, daß ich diese strahlende Welt verlassen sollte?« Armjon berichtete nun Kamo und Asmik: »Genau achtunddreißig Minuten, nachdem wir das Wasser abgelassen hatten, war das Gebrüll zu hören. Wir waren in-zwischen schon bis ans Dorf gekommen.« »Deine Mutter wird sicher wieder geschimpft haben, als sie den ,Wassermann' gehört hat«, wandte sich Kamo lachend an Seto. »Natürlich wird sie geschimpft haben«, antwortete Grikor. »Sie ist schnurstracks aufs Dach geklettert, hat mit den Armen gefuchtelt und um Hilfe gerufen.« »Und ihr?« »Wir haben gelacht«, sagte Artusch. »Wir haben den Kolchosmitgliedern schon erklärt, wie das alles zusammenhängt. « »Nun, gelehrter Bruder, erkläre du uns, wie das Gebrüll entstanden ist«, wandte sich Kamo an Armjon. »Gegen deine wissenschaftlich begründeten Ansichten werden ernsthafte Einwände laut. Einmal werden sie von diesem ehrwürdigen Greis erhoben« - erwies auf den näher kommenden Großvater - »zum zweiten von der Verwalterin unserer Geflügelfarm«, und er deutete auf Asmik. »Im Grunde genommen sind die Ein-wände gleicher Art und lassen sich etwa so zusammenfassen: Warum brüllt das im See aufschießende Wasser wie ein Drache, wenn es doch gar kein Drache ist? Und warum brüllt dann nicht auch das aus einer Quelle hervorsprudelnde Wasser?« Armjon lachte. Die jungen Leute drängten sich um ihn und warteten auf seine Erklärungen. Die Frage des Großvaters, weshalb das emporschießende Wasser wie ein Drache brüllt, interessierte sie ebensosehr. »Bei dem, was ihr eben gesehen habt«, sagte Armjon, handelt es sich nicht um eine gewöhnliche Quelle. Wir haben es mit einem richtigen Strom zu tun, der aus ungeheurer Höhe und mit ungeheurer Gewalt herabstürzt. Wenn das Wasser oben in den Spalt eindringt, reißt es große Luftmassen mit, die von der Strömung bis in den Gilli-See gebracht werden. Dort schleudert der Strom die Luft mit furchtbarer Gewalt an die Oberfläche. So entsteht die Wassersäule. Sie entsteht durch den Luftdruck, und die Luft bildet gigantische Blasen. Die Blasen platzen, und dabei ertönt das schreckliche Brüllen.« »Ach, Kinder, wie ist das alles doch einfach!« rief Asmik aus. »Endlich hab' ich es erfaßt! Natürlich, wenn die riesigen Blasen platzen, wird die Luft hinausgeschleudert.« »Großväterchen, was hast du dagegen einzuwenden?« fragte Kamo den Alten. »Was soll ich sagen?« entgegnete der Großvater verlegen. »Ihr behaltet ja doch recht in allem... Meine Einwände sind keine Kopeke wert. Ich sehe nur eins: es gibt keinen Drachen, es gibt auch keinen weißen Wasserbüffel...« »So ist es, Großväterchen, glaube deinem Gevatter Mukel nicht«, sagte Kamo lachend. »Hat noch jemand Zweifel? Oder sind noch Fragen an Armjon?« Alle hatten es begriffen, selbst der alte Jäger. »Somit sind also die Geheimnisse der Schwarzen Felsen und des Gilli-Sees aufgeklärt«, rief Kamo, »und der ,Wasser-mann' hat heute den letzten Tag gelebt!« Und in der Tat, von dem ,Wassermann', der das Dorf Litschk jahrhundertelang in Schrecken versetzt hatte, wurde seit jenem Tage nie wieder etwas gehört. Ein Städter kommt zum kürzesten Fluß der Welt Bei Anbruch des Frühlings verlassen riesige Schwärme von Schnepfen den heißen Süden und ziehen dorthin, wo der Sommer kühler und weniger drückend ist. Als Zwischenstation machen diese Schwärme oft am Gilli-See Rast. Schnepfenschwärme fliegen nur nachts. Wenn sie über den hohen Bergkamm kommen, werden sie von den Fröschen, die die Sümpfe zu Tausenden bevölkern, mit einem so ohrenbetäubenden Konzert empfangen, daß sie ihre Rastplätze auch in der Dunkelheit mühelos finden. Wenn die Schnepfen kommen, finde ich mich schon seit langen Jahren in dieser mir liebgewordenen Gegend ein. Als ich in diesem Jahr wiederkehrte, hatte sich vieles verändert. Mit Hilfe von Baggermaschinen war das Flußbett vertieft worden, so daß das Wasser vom Gilli-See schäumend in den Sewan floß. Der Wasserspiegel hatte sich gesenkt, und die Sümpfe, die früher die Ufer des Gilli-Sees eingesäumt hatten, waren verschwunden. An ihrer Stelle breiteten sich üppige grüne Wiesen aus. Der Gilli-See hatte sich in ein fast unerschöpfliches Torflager verwandelt. Rastlos arbeiteten Torfschneidemaschinen, und der Torf wurde mit Lastwagen in die waldarmen Dörfer in der Umgebung des Sewan gebracht. Auf einer kleinen Wiese, an deren Ende das Schilfdickicht begann, stand ein Hund. Er blickte meinen Jagdhund, ein kleines, schlankes Tier mit glattem Fell, verwundert an. Der derbe Dorfhund schien zu überlegen, ob dieses merkwürdige Geschöpf überhaupt zum Geschlecht der Hunde gehörte. Mein Hund nahm eine angriffslustige Stellung ein und knurrte drohend. In diesem Augenblick kam ein junger Bursche auf uns zugelaufen. Er schwang einen dicken Knüppel und rief: »Na, Tschambar, da staunst du. Das ist ein Stadthund. Der kann aber sicher gut hinter Wachteln herjagen.« Als der Bursche mich sah, wurde er verlegen und zog Tschambar am Halsband zurück. Er hatte ein hübsches, sonnengebräuntes Gesicht und übermütig lachende Augen. »Was machst du denn hier, Junge?« fragte ich. »Ich? Ich bin mit Tschambar gekommen, wir wollen nach den Kolchoskälbern sehen«, sagte er und zeigte auf eine in der Nähe liegende Wiese am Sewan, auf der eine Herde Jungtiere weidete. »Geht dein Tschambar auch auf die Jagd?« »Und ob! Meist mit unserem alten Jäger, dem Großvater Assatur. Ich habe mit Tschambar einen Vertrag geschlossen«, sagte der Junge, der offenbar ein Schalk war. »Wenn er einen Hasen fängt, gehört mir das Fleisch, die Eingeweide und die Knochen gehören ihm.« »Der Jäger Assatur? Von dem hab' ich schon mal was gehört. Ist es der, der einen Schatz gefunden hat?« »Ja, der ist's. Als ich das goldene Geschmeide gesehen habe, blieben mir vor Staunen Mund und Nase offenstehen.« »Wo ist denn der Großvater Assatur anzutreffen? Ist er auf der Jagd?« »Auf der Jagd?... Für solches Kroppzeug hat er kein Interesse«, sagte der Bursche und wies geringschätzig auf die an meinem Gürtel hängenden Schnepfen. »Er fängt Fische, schöne fette Forellen... da drüben.« Ich ging zum Fluß hinab. Am Ufer lief ein alter Mann mit einem langen weißen Bart, der ihm fast bis an die Knie reichte, geschäftig hin und her. »Kamo, laß jetzt deine Schulaufgaben«, schrie er, »komm her, wir müssen den Fischen den Weg abschneiden...« Nun sah ich auch, daß in der Nähe mehrere junge Leute, in ihre Bücher vertieft, auf der Wiese lagen. Als der Alte rief, stand einer von ihnen auf und ging zu ihm. Ein anderer folgte. Schnell warfen die jungen Männer ihre Kleider ab, sie nahmen das Ende des Netzes in die Hand und schwammen damit zum anderen Ufer hinüber. Dort befestigten sie das Netz an einem Pflock, der am Ufer in den Boden gerammt war. »Jetzt können uns die Fische nicht mehr entwischen«, rief der Alte und beobachtete, wie das Netz, das den Fluß von einem Ufer zum anderen durchschnitt, sich spannte. »Bravo, Kinderchen. Nun seid ihr wieder entlassen. Wenn genug Fische im Netz sind, rufe ich euch.« Jetzt hatte mich der Alte bemerkt. Er legte die Hand schützend über seine Augen und blickte fragend zu mir herüber. »Guten Tag, Väterchen«, redete ich ihn an. »Bist du der Jäger Assatur?« »Natürlich bin ich es. Wer soll ich denn anders sein?« Er warf einen flüchtigen Blick auf mein Gewehr und auf meinen Hund und sagte dann: »Es gibt mehr als genug Fische in diesem Jahr — in hellen Haufen kommen sie angeschwommen.« Wir kamen ins Gespräch. Jäger können sich schnell miteinander anfreunden. Doch der Alte dachte jetzt nur an seine Fische. Immer wieder sah er zum Fluß hinüber und prüfte das Netz, ob es sich auch nicht losgerissen hatte. Ich fragte ihn, wer die jungen Leute seien. »Mein Enkel Kamo ist es, und das sind seine Freunde. Sicher hast du in der Zeitung von ihnen gelesen. Wir sind stolz auf unsere jungen Naturforscher. . . « »Ein Mädchen ist auch dabei?« fragte ich. »Das ist Asmik. Ein braves Mädchen. Es hat den Einfall gehabt, die Eier der wilden Vögel zu sammeln... Asmik hat in unserem Dorf eine Geflügelfarm eingerichtet... Und das da ist Armjon«, sagte der Alte und zeigte auf einen schlanken Jüngling mit feinen Gesichtszügen, hoher Stirn und dunklen klugen Augen, »das ist unser Gelehrter. Er weiß immer alles schon vorher. - Und da kommt Artusch. Das war unser verlorener Sohn... Wollte immer nicht mitmachen... Aber jetzt ist er ein guter Junge, bleibt fest bei der Stange. .. « Die jungen Leute hatten lachend zugehört, wie der Großvater sie einzeln beschrieb. »Und was wirst du von mir sagen, Großväterchen?« fragte der junge Bursche, der eben mit Kamo das Netz am anderen Ufer befestigt hatte. »Von dir?« Der Alte lachte. »Du bist ein Räuber, das werde ich sagen.« Der Alte wandte sich wieder an mich. »Ist voriges Jahr in der Schule zurückgeblieben, wollte nicht lernen. Hat aber jetzt alles aufgeholt. Mit seinen Gedanken ist er, genau wie ich, immer in den Bergen. Nur bin ich auf schmackhafte Beute aus und er — auf Steine... Erzgruben will er bauen... Und der da, das ist unser Spaßvogel Grikor. Der macht jetzt auch sein Examen. Bei dem kommt man den ganzen Tag aus dem Lachen nicht raus... Für unseren Grikor ist heute ein besonderer Tag. Er ist eben aus Jerewan zurückgekommen — hat kein lahmes Bein mehr wie früher. Hat sich immer gesträubt, wollte sich das Bein nicht aufschneiden lassen. Jetzt aber hat es geheißen, unsere Naturforscher sollen nach Moskau fahren. Da hat er sich gleich entschlossen. Jetzt haben sie ihm in Jerewan das Bein geradegebogen. Er kann damit gehen und springen wie alle anderen.« Ich setzte mich zu den jungen Leuten ins Gras und fing eine Unterhaltung mit ihnen an. Am meisten interessierte mich Seto. Er schien einen besonsonders eigenwilligen Charakter zu haben. Er erzählte, all sein Sinnen und Trachten gelte den Bergen. In der Schule waren seine Leistungen sehr ungleich. In Geologie, Geographie und Naturkunde war er am besten, alle übrigen Fächer waren ihm gleichgültig. Nur weil er Angst hatte, nicht in das Bergbauinstitut in Jerewan aufgenommen zu werden, hatte er sich ans Lernen gemacht, und Armjon meinte, er würde jetzt die Prüfung in allen Fächern bestehen. Asmik war auch eine gute Schülerin geworden, erzählten die jungen Leute. Im vorigen Jahr, als ein Mißgeschick nach dem anderen die Geflügelfarm traf, war sie schrecklich zerfahren gewesen, hatte die Bücher oft in die Ecke geworfen und weinend erklärt: »Ich kann meine Gedanken nicht zusammen-halten.« Ganz ähnlich war es Kamo ergangen. Er hatte in der Schule oft schlecht aufgepaßt, weil seine Gedanken auf dem Dali-Dagh oder am Gilli-See gewesen waren. Nur Armjon hatte es fertiggebracht, der beste Schüler in der Klasse zu bleiben und dennoch den vielen Rätseln in der Natur nachzugehen. Großvater Assatur hatte schweigend zugehört. Nun erklärte er voller Stolz: »Ja, sie sind tüchtig, meine Kinderchen, den Drachen haben sie besiegt, den Teufel aus der ,Höllenpforte' vertrieben. Sie haben unserem Dorf Brot gegeben! ... Weißt du denn«, wandte er sich an mich, »was das Wasser für unsere Gegend bedeutet? Das Wasser ist der liebe Gott! Deshalb haben die Menschen früher das Wasser angebetet, haben dem Wassergott Opfer gebracht. Wasser und Sonne müssen da sein, damit die Menschen leben können. Und für das Wasser haben die Kinder gesorgt. Soll ihr Leben so frisch dahinfließen wie das Wasser in unserem neuen Kanal. . . « Der Alte sog ab und zu gemächlich an seiner Pfeife. Während er mit uns sprach, war seine ganze Aufmerksamkeit auf den Fluß gerichtet. Nicht die geringste Bewegung entging seinem geübten Jägerauge. Mitten im Satz sprang er plötzlich auf: »Los, Kinder, die Fische sind im Netz! Kommt schnell!« Während er zum Fluß lief, steckte er seinen langen Bart in die Falten seines Archaluks. Die Jungen hatten schnell ihre Kleider abgeworfen und liefen auf den Fluß zu. Nur Asmik blieb bei mir zurück. Mit vereinten Kräften zogen sie das Netz ans Ufer. Gleich darauf wimmelte es auf der grünen Wiese von Hunderten silbern glänzender Fische, die verzweifelt zappelten und nach Luft schnappten. Es waren die berühmten Forellen aus dem Sewan. »Wir müssen ein Feuer anzünden! « jubelte Grikor. Der Alte trat zu mir und sagte: »Wenn du wissen willst, wie eine Forelle aus dem Sewan schmeckt, mußt du sie am Ufer selbst, in dem Wasser, in dem sie gelebt hat, kochen. Nur dann wirst du den herrlichen Geschmack dieses Fisches wirklich kennenlernen.« Wir steckten ein Feuer an, kochten die Forellen, stellten, als sie fertig waren, den Kessel ins Gras und kippten ihn um. Unmittelbar vom Grase aßen wir die Fische. Niemals mehr haben mir Forellen so gut geschmeckt. Dann gingen wir alle zusammen zu den Schwarzen Felsen, um uns den Wasserfall anzusehen. Aus dem schwarzen Schlund, der früher ,Höllenpforte’ genannt wurde, schossen gewaltige Wassermassen heraus und stürzten schäumend in die Schlucht. Der Wasserfall machte ein solches Getöse, daß der Boden unter unseren Füßen bebte. Wir standen und blickten andächtig hinauf. Der reißende Strom, der in den Farben des Regenbogens schimmerte, und hinter ihm der düstere Felsen! - Es war wie in einem Märchen. Wenige Schritte vom Wasserfall entfernt lag noch immer der verkohlte Stumpf der vom Blitz zerschmetterten Eiche. Doch sie war zu neuem Leben erwacht. Junge, starke Triebe sprossen aus den Wurzeln, hatten sich mit üppigem Laub bedeckt und reckten sich der Sonne entgegen. Unwillkürlich zog ich, während ich den alten Jäger und die jungen Menschen ansah, einen Vergleich: wie eine alte Eiche mit ihren jungen Trieben. In bester Stimmung kehrte ich in die Stadt zurück. Meine Jagdtasche war prall mit Schnepfen gefüllt, und von der Begegnung mit dem Großvater Assatur und den jungen Naturforschern vom Sewan-See nahm ich viele wunderschöne Erinnerungen mit. Ausklang Zu der Zeit, in der unsere Erzählung spielt, erschien eines Tages in einer Jerewaner Zeitung eine Notiz unter der Überschrift: »Ein wichtiger Fund«. Darin hieß es, junge Natur-forscher aus dem Dorfe Litschk hätten einen wertvollen Schatz gefunden und ihn dem Staat übergeben. Im Dorf wurde einige Tage danach bekannt, der Jäger Assatur, sein Enkel Kamo und seine Freunde sollten den ihnen zustehenden Finderlohn erhalten. Die Höhe der Summe übertraf alle Erwartungen. Die jungen Leute überlegten, was sie mit dem vielen Gelde anfangen sollten. »Wißt ihr was?« sagte Kamo. »Wir wollen ein Vogelhaus bauen... Aber kein gewöhnliches Vogelhaus, sondern alles muß nach den letzten Errungenschaften der Wissenschaft eingerichtet sein.« Dieser Vorschlag fand bei allen freudige Zustimmung. Auch Großvater Assatur war in die Kolchosverwaltung gerufen worden. Auf dem Tisch lag ein ganzer Berg Geld. Bagrat empfing den Alten. Er drückte ihm die Hand und sagte: »Großväterchen, ich gratuliere. Die Regierung hat dir für den gefundenen Schatz eine Belohnung geschickt.« Der Großvater staunte: »Es ist ja so furchtbar viel.« Verlegen strich sich der Alte über seinen Bart und schüttelte den Kopf. »Nein, Bruder, ich will das Geld nicht... Ich würde keinen Schlaf mehr finden.« Er schwieg eine Weile, dachte nach und fuhr dann fort: »Weißt du was - wir werden diese Sache auf Jägerart behandeln. Soviel Wild ich in meinem Leben auch geschossen habe, für mich habe ich immer nur einen Braten behalten. Alles andere haben die Nachbarn bekommen... Das ist alter Jägerbrauch. Das hier ist meine Jagdbeute, und das ist mein Anteil. . . « Der Alte streckte die Hand aus und nahm ein Bündel Geld-scheine vom Tisch. »Das ist mein Braten. Das andere verteile unter den Kolchosmitgliedern, gib es für die Schule, den Kindergarten... Du wirst schon wissen, wo es am meisten gebraucht wird.« Und der Großvater ging aus dem Zimmer. Er ging die Dorfstraße entlang, zufrieden, froh gestimmt und leichten Schrittes. Es war ein milder, sonniger Herbst. Von den Feldern her kamen die Gänse und Enten der Geflügelfarm angeflogen; geräuschvoll suchten sie ihre Plätze auf den Stangen. Asmik war zur Verwalterin der Farm ernannt worden, Seto zu ihrem Stellvertreter. Die beiden Freunde wählten unter den Vögeln die besten Exemplare aus. Diese Tiere kamen in besondere Käfige und wurden zum Abtransport fertiggemacht. Grikor war in der Imkerei beschäftigt. Er hob die mit goldenem Honig gefüllten Waben aus den Körben. Armjon und Kamo nahmen sie in Empfang und verpackten sie sorgfältig. Die jungen Freunde bereiteten ihre Abreise nach Moskau vor, denn die ,Zentralvereinigung junger Naturforscher' hatte sie eingeladen. Der alte Jäger stand dabei, sog an seiner Pfeife und sagte nachdenklich: »Also, morgen geht's fort?« In dieser Nacht schliefen die jungen Forscher wenig. Am frühen Morgen wurden die Käfige und Kisten auf ein Lastauto verladen, während die Freunde in dem neuen Personenwagen des Kolchos Platz nahmen, den der Vorsitzende ihnen für diese Fahrt zur Verfügung gestellt hatte. Sona hatte ihren Seto zum Abschied geküßt. Sie trat verlegen an den Großvater heran und sagte versöhnlich: »Sei mir nicht böse, Alter, trag mir mein Schimpfen nicht nach.« Doch die Reue war nur von kurzer Dauer, denn als sie den Rechnungsführer Mesrop sah, schimpfte sie sofort wieder los: »Diese gelbe Kröte ist an allem schuld, diese schwarze Seele. . . Die Krätze soll ihm Gott schicken und ihm die Fingernägel abfaulen lassen, damit er sich nicht kratzen kann.« Die umstehenden Kolchosarbeiter lachten. Das Auto hatte sich in Bewegung gesetzt und fuhr in schneller Fahrt am Ufer des Sewan entlang davon. Die Kolchosarbeiter winkten mit Mützen und Tüchern hinter den Freunden her. »Weg sind sie also! — Was werde ich anfangen ohne sie?« seufzte Großvater Assatur und wischte mit seiner Pelzmütze die Tränen ab, die ihm über die Wangen rollten. Aus dem Auto, das am Ufer des Sewan dahinsauste, schallte ein fröhliches Lied herüber: »Und golden erhob sich am Himmelsrand Die Sonne über dem glücklichen Land. . . « notes Примечания 1 1 Pud = 16,38 kg. 2 Pilaw = kaukasisches Gericht. 3 Nani-dshan = liebes Mamachen. 4 Archaluk = kurzer gesteppter Rock. 5 Der Sewan-See hat zwei Teile — den Großen und den Kleinen Sewan. Die Oberfläche des Großen Sewan beträgt 1032 qkm. 6 Burdjuk = schlauchartiger Behälter für Wein. 7 Surna = Musikinstrument. 8 Schaschlyk = kaukasisches Nationalgericht aus Hammelfleisch. 9 Arschin = 0,71 m. 10 Narsanwasser = kaukasisches Mineralwasser. 11 Aus einem Gedicht Puschkins in der Übersetzung von F. Fiedler. 12 Kirwa = Freund. 13 Bina = Gruppe von Zelten, in der Regel von mehreren Familien desselben Stammes. 14 Lawasch = ungesäuerter, dünn ausgerollter Brotteig. 15 Satael = Teufel